A. Vowinckel: Kultur der Renaissance

Cover
Titel
Das Relationale Zeitalter. Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance


Autor(en)
Vowinckel, Annette
Erschienen
Paderborn 2011: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Mudrak, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Es ist die Frage, die die Menschen, seit sie das Bewusstsein über sich selbst erlangt haben, nie mehr losgelassen hat: die Frage nach dem Ich und danach, was dieses Ich ausmacht, wie und wann es zur Geltung kommt. Besonders dem 19. Jahrhundert galt die Renaissance als der Zeitpunkt, an dem die Menschen wieder das Bewusstsein ihres unverwechselbaren Selbst entdeckten. Vor allem in Italien, so meinte der große Jacob Burckhardt, sei die Vorstellung des Individuums als etwas Unverwechselbares, Unvergleichliches, sich über die durchschnittliche Masse Hebendes entstanden. „Genies“ wie Leonardo oder Michelangelo stehen bis heute Pate für diese Vorstellung. Zu Recht?

Dieser Frage geht Annette Vowinckel in ihrer 2006 am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität Berlin eingereichten und jetzt publizierten Habilitationsschrift nach. Die Autorin, eigentlich Zeithistorikerin mit einem breiten Themenrepertoire und Blickwinkel, bedient sich dabei in acht Kapiteln mitunter höchst innovativer Methoden zur Behandlung ihres kultur- und ideengeschichtlichen Erkenntnisinteresses: der Wahrnehmung, Deutung und des Denkens von Individualität während der Renaissance, vor allem in Italien, gelegentlich auch in Deutschland.

Das erste Kapitel bestreitet Vowinckel mit einem Parforceritt durch die Bedeutungen des Individualitätsbegriffs in Ideen und Kultur des 15. und 16. Jahrhunderts. Schon der Theologe Cusanus habe nie an in ihrer Substanz einzigartige Genies gedacht, wenn er von Individuen sprach. Vielmehr habe Cusanus ein Menschenbild vertreten, „das die Idee der Vielheit und der daraus sich ergebenden Vergleichbarkeit der Individuen zum Ausgangspunkt nimmt“ (S. 25). Erst mit dem Ende der Renaissance habe sich, ideengeschichtlich betrachtet, ein überhöhter, genialischer und solitärer Individualitäts-Begriff durchgesetzt. Bis dahin erscheint die Kultur des Menschen(-bildes) „als ein relationales Gefüge, in dem sich der Einzelne orientieren und positionieren muss, wenn er […] zu sich selbst finden‘ will“ (S. 46).

Diese relationale Individualitätsidee wird in den folgenden Kapiteln auf ihr Vorkommen in unterschiedlichsten Bereichen der Renaissancekultur untersucht. Bedenken ob dieses doch etwas starken und konzeptuell-definitorischen Vorgriffs, noch vor einem Gang durch die Quellen, verliert man dank der methodisch zugleich innovativen und scharfsinnigen sowie thematisch begeisternden folgenden 200 Seiten. Im zweiten Kapitel untersucht Vowinckel Individualität in der historischen und politischen Literatur der Renaissance. Unvermeidbar dabei: Machiavelli, der aber zu Unrecht als Entdecker des Individuums gelte. Denn er habe eher auf die Bedingungen menschlichen Handelns fokussiert als auf den Menschen. Dabei verfügten auch die von Machiavelli beschriebenen Herrscher in ihrem Tun über eine „spezifische Mischung von Eigenschaften“ (S. 57). Statt genialer Klarheit trifft man hier auf Herrscher, die einmal geizig und grausam, ein andermal mutig und fromm waren. Die Individuen der Renaissance erscheinen als ausgesprochene „Mischcharaktere“ (S. 58).

Individualität ist also relational und gebrochen, man möchte fast sagen: relativ. Individuen stehen mithin immer in Beziehungen und Vergleichen, sie verfügen über eine vielschichtige, widersprüchliche Anthropologie. Das schlug sich auch in der Konstruktion von Bildräumen und Perspektiven in der Kunst nieder, wie die Autorin im dritten Kapitel zeigt. Dabei kombiniert sie ihr ideengeschichtliches Thema, wie schon in den Kapiteln zuvor, mit einem kulturgeschichtlichen Bezugsrahmen, was sie zur Anwendung repräsentationsgeschichtlicher Methoden führt. Darunter ist zu verstehen, dass Bilder – etwa die „Sacra Conversazione“ von Giovanni Bellini (1487/88) – nicht als Illustration von Thesen, sondern als methodisch spezifisch zu fassende Hauptquelle im Mittelpunkt stehen. Der Historiker kann dabei die wahrscheinliche Aussageabsicht des Künstlers, dessen kulturellen Hintergrund und die vermutliche Rezeption der Repräsentationen ermitteln. In Vowinckels Worten: Bilder ermöglichen nicht den Zugang zu den Dingen selbst (das heißt ihrer angeblichen Substanz), sehr wohl aber „den Zugang zu einer Sicht auf die Dinge, die ihrerseits Aufschluss über die Welt- und Selbstwahrnehmung der Menschen gibt“ (S. 71). In den analysierten Gemälden stehen die abgebildeten Figurengruppen immer in schauender oder verweisender Beziehung zueinander, aber auch zum Betrachter. Dieser wird in den Augenblick des Bildes, in den Bildraum, der seinerseits ausgeweitet wird, hineingezogen. Ein eindrücklicher, moderner erster Beweis für Vowinckels These – und die Macht des den Betrachter einbeziehenden Renaissancegemäldes.

Im nächsten Abschnitt untersucht die Autorin Menschenbilder und deren Repräsentationen, die in der Renaissance eben gerade nicht „individualistisch“ ausfielen. Vielmehr war man auf die Bestimmung eines Durchschnitts, des Normalfalls, fokussiert. So wurde der menschliche Körper in medizinischen Schriften oft anhand eines typologisierten heiligen Vorbildes nachempfunden. Durchschnitt als Bezugsrahmen war also durchaus positiv konnotiert. In der Astrologie standen Mikrokosmos und Makrokosmos in einer verschränkten Beziehung, so zum Beispiel der Mensch in abhängiger Relation zu seinen Sternen. Das Eigene lebte also durch den Bezug zum Anderen und wurde als gebrochener, vielschichtiger wahrgenommen, als die bisherige Forschung erkannt hat.

Das findet auch in den Weltbildern der Renaissancekultur seinen Ausdruck. Vowinckel demonstriert das im fünften Kapitel anhand des Fegefeuers als eines Zwischenraums, der bezeichnenderweise erst 1439 auf dem Konzil von Florenz fester Teil der abendländisch-christlichen Dogmatik wurde. Bevor der Protestantismus (auch hier: am Ende der Renaissance) dieser Lehre ein Ende setzte, spielte das Fegefeuer die Rolle eines Zwischenreichs zwischen Himmel und Hölle, in das aus dem Diesseits zum Beispiel durch Ablässe hineingewirkt werden konnte. Die Relationalität des vielschichtigen, zersplitterten Individuums setzte sich also nach dem Tod fort. Auch durch die Entdeckung neuer Welten auf der Erde und am Himmel wurden im 15. und frühen 16. Jahrhundert festgefügte Weltbilder und eine bis dahin angenommene, vermeintlich unveräußerliche Substanz des Seienden relativiert, verschoben und vielfachen (neuen) Beziehungen unterworfen. Es war die Zeit der Zwischentöne und Relativierungen.

Nirgends wird das deutlicher als am künstlerisch repräsentierten Menschen. Das Einzelbildnis und dessen Aussage über die Individualitätskultur ist Thema des sechsten Kapitels. Auf Einzelporträts wird der Abgebildete zwar in den Gesichtszügen unverwechselbarer gezeigt. Doch viel wichtiger, so Vowinckel, seien die selbstverständlich mit dargestellten sozialen Bezugs- und Identifikationspunkte des Abgebildeten gewesen. Auch Allegorien wurden immer populärer, wobei jedoch „nicht die Darstellung individueller Gesichtszüge, sondern die Darstellung einer Idee am Beispiel einer bestimmten Person“ (S. 150) verfolgt worden sei. Auf Bildern wird also keine Substanz, keine absolute Individualität transportiert. Vielmehr ist der Maler Kommunikator der (Selbst-)Wahrnehmung und der Absichten des Gemalten, zugleich mischt der Künstler unweigerlich eigene Wahrnehmungen und Sinnmuster in das Bild mit ein. Dieses wird dann später von den Betrachtern auf unterschiedliche Arten rezipiert. Substanz von Ideen oder Personen ist hier nicht erkennbar. Die Renaissance ließ, vielleicht ist das ihr Spezifikum, wieder das Wissen um Kontextabhängigkeit des in Beziehungen stehenden Seins, um die Vielgestaltigkeit und Gebrochenheit von Identität und „Essenz“ sowie um die enorme Vielfältigkeit der Wahrnehmungen und Deutungen der schon in sich schwankenden, zersplitterten Individuen zu. „Die Individualisierung der Gesichter ist deshalb nicht allein die Folge der Aufwertung einzelner Persönlichkeiten, sondern die Folge einer generellen Aufwertung des Akzidentiellen gegenüber dem substanziellen und deshalb unerreichbaren Urbild“ (S. 161). Diese Beziehungsabhängigkeit, diese Zersplitterung und Multiperspektivität des konstruierten Individuums kam in den vielen Porträts der Maria Magdalena (Hure oder Heilige?), der Judith (Tugendallegorie oder femme fatale?) und des Erzengels Michael mit der Seelenwaage zum Ausdruck. Meist lautete die in den Repräsentationen transportierte und wahrscheinlich von den Zeitgenossen mit ihrer Wissensordnung so gedeutete Aussage: nicht entweder oder – sondern sowohl als auch.

Vowinckel fördert in ihrem anregenden Buch einen in der Renaissance weit verbreiteten Aspekt von Individualität wieder zutage, in dem das Individuum gerade deshalb etwas Eigenes wurde, weil es verglichen, bezogen und nuanciert wurde. Das Individuum steht nicht für sich allein, sondern ist nur, wenn es agiert, abgebildet wird und in Beziehung steht. Auch methodisch ist Vowinckels Buch ein Erfolg. Ihr gelingt, was nur wenigen gelingt: eine wirklich innovative Verknüpfung der Ideengeschichte mit neuen, repräsentations- und praxeologiegeschichtlichen Methoden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch