Neuere Forschungen zum „Reichskommissariat Ostland“

: Lettland unter deutscher Besatzung 1941–1944. Der lettische Anteil am Holocaust. Berlin 2011 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-940938-84-8 428 S. € 24,00

: The Kings and the Pawns. Collaboration in Byelorussia during World War II. New York 2011 : Berghahn Books, ISBN 978-1-84545-776-1 458 S. $ 110.00

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Björn Felder, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die „Partisanenrepublik Belarus“ war zur Sowjetzeit ein beliebtes Topos zur Untermauerung des sowjetischen Partisanenmythos. Auch von den jetzigen Machthabern in Minsk wird dieses Bild zur Konstruktion einer weißrussischen post-sowjetischen Identität genutzt und geschichtspolitisch instrumentalisiert. So ist es keine Seltenheit, dass weißrussische Historiker auf Grund der generellen Arbeitsbedingungen in das benachbarte Vilnius oder nach Polen abwandern, um dort zumindest ihre Qualifikationsarbeiten durchzuführen. Auch Leonid Rein hat Weißrussland verlassen und ist nach Israel ausgewandert.

Zu Weißrussland unter nationalsozialistischer Besatzung wurde bisher wenig bearbeitet, obwohl hier fast eine Millionen Juden Opfer der NS-Gewaltpolitik wurden, andere Opfergruppen wie Kriegsgefangene, Roma und Geisteskranke nicht mitgezählt. Die früheren Arbeiten, zuletzt von Christian Gerlach und Bernd Chiari, widmeten sich vor allem der extrem gewalttätigen Besatzungspolitik, hier vor allem dem Judenmord und dem Partisanenkrieg, bei dem systematisch auch die lokale Dorfbevölkerung vernichtet wurde, sowie den inhumanen Umgang mit der Bevölkerung, die aus rassenbiologischen Überlegungen von den Nationalsozialisten als „minderwertig“ kategorisiert wurde, was in den geringen Nahrungsmittelrationen zum Ausdruck kam.1

Was bisher aber fehlte, war eine Beschreibung der multiethnischen, weißrussischen Bevölkerung und deren Reaktionen auf die Besatzung. Rein hat sich speziell diesem Thema angenommen, wobei er nicht die gesamte weißrussische Gesellschaft betrachtet, sondern nur den Teil, der mit den deutschen Besatzern kooperierte, was Rein als „Kollaboration“ bezeichnet. Rein untergliedert seine Arbeit in acht Kapitel. Er beginnt mit einer Einführung zum Phänomen der Kollaboration in Europa, in dem er betont, dass der Begriff stark politisiert sei und die Grenzen von Kooperation und Widerstand oft sehr dünn seien. Auch macht er einen strukturellen Unterschied zwischen der Kollaboration in Westeuropa, die er eher politisch motiviert sieht, und der in Osteruropa aus. Dort seien vor allem ethnische Gesichtspunkte und Nationalismus ausschlaggebend gewesen. Anschließend gibt er einen historischen Abriss zu Weißrussland zwischen den Kriegen und der deutschen Besatzungspolitik in Weißrussland, um zu seinem Hauptteil zu gelangen. Dort unterscheidet er zwischen politischer, ideologischer und militärischer Kollaboration, der Unterstützung der deutschen Massenverbrechen durch Einheimische sowie der Kollaboration durch die orthodoxe Kirche.

Rein vertritt die These, dass die wenigsten Kollaborateure als „weißrussische Nationalsozialisten“ zu werten seien oder grundsätzliche NS-Denkweisen wie Antisemitismus und Antikommunismus geteilt haben. Ihm zu Folge gab es eine Vielzahl von Beweggründen für Kollaboration. So habe es sicherlich Opportunisten und Überzeugungstäter in der lokalen weißrussischen Verwaltung gegeben. Einige hochrangige Vertreter des „Weißrussischen Zentralrates“, der das höchste einheimische Gremium während der NS-Besatzung darstellte, waren weißrussische Emigranten, die während der Revolution nach Westeuropa geflüchtet waren. Auch in der „Weißrussischen Volkshilfe“ und dem „Weißrussischen Jugendwerk“ sieht Rein Überzeugungstäter am Werk. Doch macht Rein deutlich, dass die weißrussischen Akteure von einem starken Nationalismus geleitet wurden, der sich auf die kurze Phase der weißrussischen Republik während des Bürgerkrieges berief. Dieses nationale Selbstverständnis und Selbstbewusstsein geriet rasch in Widerspruch zur deutschen Besatzungspolitik. Auch waren die einheimischen Akteure oft keine Marionetten, sondern entwickelten politischen Eigensinn, der durchaus von deutscher Seite nicht gewünscht war. Ähnlich wie in den ehemaligen baltischen Staaten träumten die einheimischen Akteure von einer staatlichen Unabhängigkeit. Natürlich gehörte auch Antikommunismus zur Agenda sowie die Vorstellung von ethnischer Homogenität, die sich in Antisemitismus, aber vor allem in Antipolonismus artikulierte.

Die deutsche Seite hatte außer Versprechungen, Herrenmenschenattitüde und Rassendünkel wenig zu bieten und den weißrussischen Akteuren, aber auch der einfachen Bevölkerung war rasch klar geworden, dass die Deutschen als Kolonialherren gekommen waren und Hunger und Leid mit sich brachten, wie Rein ausführt. Besonders die Bevölkerung der ländlichen Gebiete fand sich rasch zwischen Hammer und Ambos, zwischen den sowjetischen Partisanen und den deutschen Jagdkommandos wieder, die beide nur Freund und Feind kannten.

Bei der Partisanenbekämpfung setzten die Deutschen ebenfalls viele Einheimische ein, deren Motivation aber rasch schwand, was eine Folge einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung war: Weißrussische Kräfte waren zunächst höchst motiviert, doch trauten ihnen weder die deutsche Führung noch die Verantwortlichen vor Ort. Folglich wurden sie nur mangelhaft mit Waffen, Kleidung und Lebensmittel versorgt. Moskau dagegen investierte offensichtlich viel mehr in die sowjetischen Partisanen. Die technische Unterlegenheit und die schlechte Behandlung durch die Deutschen bewegte laut Rein viele einheimischen Partisanenjäger zum Überlaufen. Das deutsche Misstrauen und das Rassendünkel war laut Rein ein generelles Problem der deutschen Besatzer, die in Weißrussland die anfänglichen starken Sympathien weiter Teil der Bevölkerung rasch verspielt hatten. Es ist umso erstaunlicher, dass bis zum Ende der deutschen Herrschaft trotz der Hungerpolitik, des Terrors und des Partisanenkriegs Einheimische das Regime unterstützten.

Im militärischen Bereich, bei der Polizei, den Schutzmannschaften, den Wehrmachts-„Hiwis“ und den Mitgliedern der 30. Division der Waffen-SS, die laut Rein vor allem aus Weißrussen bestand und 1944 und 1945 an der Westfront tatsächlich zum Einsatz kam, kann Rein verschiedene Motivationsquellen aufzeigen. Die Tätigkeit konnte neben dem üblichen Ordnungsdienst auch die Beteiligung am Holocaust, die Teilnahme an der Partisanenbekämpfung sowie militärischen Aufgaben bedeuten. Rein nennt neben Nationalismus, Antisemitismus und Antikommunismus auch ökonomische Gründe sowie Formen der Loyalitätsbekundung: er zeigt, dass nicht selten ehemalige Parteikader und selbst NKVD-Leute in den lokalen Verwaltungs- und Polizeistrukturen arbeiteten. Einmal kann man dies als Versuch werten, die eigene kommunistische Vergangenheit durch die neue Tätigkeit „reinzuwaschen“ – man könnte aber auch von totalitärer Kontinuität sprechen. Gerade in der Kooperationsbereitschaft der einfachen Bevölkerung sieht Reine eine Kontinuität, da gerade vom Regime unter Stalin Kooperation und Denunziation von der Bevölkerung gefordert wurde, es „Feinde“ gab, die verfolgt und vernichtet und seit 1939 in diesem Zusammenhang verstärkt ethnische Kategorien verwendet wurden. Rein betont die Bedeutung des Ethnischen und speziell der ethnischen Säuberungen unter Stalin in den Jahren zuvor, die eine Vorstellung scheinbarer Normalität hinterlassen hatten und zudem auch Grund für Rache sein konnten – wie man ergänzen könnte. Auch die Ablehnung des stalinistischen Regimes spielte eine große Rolle. Laut Rein versuchten die deutschen ebenso wie die sowjetischen Besatzer zuvor die unterschiedlichen Ethnien gegeneinander auszuspielen.

Die Vielfältigkeit und Breite der gesellschaftlichen Kooperation mit den nationalsozialistischen Besatzern in Weißrussland ist erstaunlich. Im Vergleich zur baltischen Nachbarregion kann man durchaus von vergleichbaren Phänomenen sprechen, wenn auch die Möglichkeiten zur „nationalen“ Artikulation in Weißrussland viel geringer waren. Doch gab es offensichtlich viel öfter bewaffneten Widerstand, eben nicht nur durch sowjetische Gruppen: nach Rein existierten eine Vielzahl nicht-kommunistischer Partisanen, etwa jüdischer Gruppen, die den sowjetischen Führungsanspruch nicht anerkannten, genauso wie nationalistische weißrussische Formation und natürlich Abteilungen der polnischen Armia Krajowa.

Während die Situation in Lettland viel umfassender erforscht ist als der weißrussische Fall, hat Katrin Reichelt eine weitere Arbeit zu Lettland vorgelegt, in der sie sich ebenso wie Rein mit der „Kollaboration“ befasst, namentlich dem „lettischen Anteil am Holocaust“. Dieser Titel ist im Grunde irreführend, denn einige Kapitel handeln von lettischer „Kollaboration“, jedoch außerhalb des Holocausts und andere behandeln den Holocaust in Lettland, ohne einen wirklichen „lettischen Anteil“ zu beschreiben. Bevor sie zu ihrem Hauptgegenstand kommt, befasst sich Reichelt mit der „Geschichte der Juden in Lettland von den Anfängen“, sowie dem lettisch-jüdischen Verhältnis in der Zwischenkriegsrepublik und während der sowjetischen Besatzung. Bezüglich des Holocausts unterscheidet sie eine Phase der Pogrome und eine zweite Phase des systematischen Mordens. Des Weiteren gibt sie eine Übersicht über die Ghettos in Riga, Dünaburg (Daugavpils) und Libau (Liepāja), geht auf die jüdische Zwangsarbeit, die Enteignung der Juden sowie den Ausbau des Konzentrationslagers Kaiserwald nach Auflösung des Rigaer Ghettos ein und beschreibt abschließend das deutsch-lettische Verhältnis sowie die „Solidarität von Letten mit verfolgten Juden“.

Insgesamt muss man vorausschicken, dass Reichelts Arbeit unter großen Mängeln leidet, die sich auf die inhaltliche Struktur und Kohärenz, den Gebrauch von Quellen und Forschungsliteratur als auch auf die wissenschaftliche Analyse beziehen. Oft findet man mehr Meinung als wissenschaftliche Belege. Die lettische Aizsargi waren eben nicht die lettische „Nationalarmee“ (S. 56) auch keine „faschistische Organisation“ (S. 338), sondern eine Nationalgarde oder Schutzkorps, das parallel zu den nationalen Streitkräften bestand, um nur ein Beispiel zu nennen. Reichelt beherrscht ihr Gebiet nicht souverän, auch sind Teile der Arbeit unzureichend recherchiert. Abschnittsweise verzichtet sie auf Angaben von Referenzen und Quellen, obwohl klar ist, dass sie sich auf andere Autoren bezieht. So etwa, wenn sie von einer angeblichen Debatte spricht, ob Stalin die ethnische Problematik in den neu gewonnenen westlichen Territorien auf „biologische Weise“ (S. 59) zu lösen suchte, ohne jegliche Verweise.

Immer wieder hat man den Eindruck, dass die einzelnen Kapitel inhaltlich und strukturell nicht aufeinander abgestimmt worden sind. Da Reichelt seit Anfang der 1990er-Jahre an diesem Thema arbeitete, hat es den Anschein, als ob einzelne Kapitel aus unterschiedlichen Schaffensperioden stammen, für die Publikation aber nicht vereinheitlicht wurden. Immer wieder stößt man auf argumentative Widersprüche. Einmal „distanziert“ sich Reichelt davon, die Ereignisse der sowjetischen Besatzung mit den Geschehnissen während der NS-Besatzung in Beziehung zu setzten (S. 64), dann betont sie später, die Bereitschaft der lettischen Akteure, die Gewalt der Nationalsozialisten zu unterstützen, sei nur durch eine neue Akzeptanz von Gewalt in der lettischen Gesellschaft erklärbar, die durch den „massiven Terror“ während der Sowjetbesatzung erzeugt worden sei (S. 83). An anderer Stelle betont sie, dass Beteiligung von Letten am Holocaust nicht „ohne die Präsenz deutscher Truppen […] betrachtet werden [kann]“ (S. 83), um sich später vehement gegen die Feststellung zu wehren, der Holocaust in Lettland hätte ohne deutsche Besatzung nicht stattgefunden: „kein Historiker […] kann eine Behauptung dieser Art aufstellen“ (S. 289).

Diese Mängel werden auch in den Kapiteln zur anfänglichen „Pogrombereitschaft“ der Letten deutlich. Die Frage, ob „spontane Pogrome“ durch Einheimische stattfanden und damit, ob es eine Eigeninitiative von Einheimischen am Judenmord gegeben habe, also einen tatsächlichen „lettischen“ Holocaust, wurde und wird kontrovers für die gesamte Region diskutiert. Tatsächlich haben verschiedene Forscher, darunter der Autor dieser Rezension, dies widerlegt und auch die neuste Arbeit zum Nachbarland Litauen von Christoph Dieckmann bestätigt dies.2

Da auch Reichelt keine „spontanen Pogrome“ vor Ankunft der Deutschen nachweisen kann, versteift sie sich auf den Standpunkt, die Beteiligung lettischer Akteure an der Judenverfolgung nach der Ankunft der Deutschen hätte sich zum Teil aus „Eigeninitiative“ ereignet und beruft sich dabei vor allem auf Aussagen von Überlebenden, kann aber letztlich keine Belege für ihre These liefern. Sie definiert auch nicht den Begriff „Eigeninitiative“ oder führt ihre Argumentation weiter aus, sondern nennt lediglich bereits bekannte Beispiele. Es ist völlig unbestritten, dass sich Letten an der Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt haben, nur waren es nicht „Nachbarn“ (S. 93), sondern Mitglieder von Polizei und Sicherheitspolizei, die unter deutscher Kontrolle standen bzw. von deutscher Seite angeleitet wurden – es ist schwer, hier eine Form von „Eigeninitiative“ auszumachen, schwerer noch, diese zu belegen.

Dies gilt etwa für den Fall von Martiņš Vagulāns in Mitau (Jelgava), der dort seit Ende Juni 1941 über die Stadt herrschte und begann, die jüdische Bevölkerung zu verhaften. Für Reichelt ist dies ein Beispiel für lettische „Eigeninitiative“. Tatsächlich war auch Vagulāns von der deutschen Sicherheitspolizei angeworben worden und zudem bereits vor dem Sommer 1941 Agent deutscher Geheimdienste und Mitglied des rechtsradikalen Pērkonkrusts (Donnerkreuz)3, wovon Reichelt anscheinend keine Kenntnis hat. Auch ist sie nicht informiert, dass die abschließende Ermordung der Juden von Mitau nicht von Vagulāns’ Leuten sondern von deutschen Mitgliedern der Einsatzgruppe A durchgeführt wurde.4

Auch bezüglich der lettischen Einheit der Sicherheitspolizei unter Viktors Arāijs, einer Einheit, die allein aus Letten bestand und von der deutschen Sicherheitspolizei aufgestellt wurde, um als Mord-Kommando den Holocaust in Lettland durchzuführen, ist Reichelt nicht auf dem letzten Stande und argumentiert widersprüchlich: Einmal soll das Kommando laut Zeugenaussage auf „sicherheitspolitische[n] Befehl“ (S. 103) hin gehandelt haben, dann spricht sie an anderer Stelle von einer lettischen „Initiative“, eine Einheit zu gründen, die sich am Judenmord beteiligen sollte (S. 104). Was die Aufstellung der Einheit angeht, so folgt Reichelt den Angaben von Arāijs bei dessen Prozess in Hamburg, in denen er seine Rolle hervorhebt. Neuere Dokumente aber zeigen ein anderes Bild: So entstand das „Arāijs-Kommando“ aus einer Kooperation zwischen deutscher Sicherheitspolizei und der lettischen faschistischen Organisation Pērkonkrusts. Hinzu kommt, dass auch Arāijs vor Juni 1941 von deutschen Geheimdiensten angeworben worden war.5 Die Donnerkreuzler kooperierten in den ersten Besatzungsmonaten nicht nur mit der Sicherheitspolizei bezüglich der Verfolgung von Juden und Kommunisten, sondern kontrollierten auch Teile der ländlichen Regionen und deren Polizei. So entsteht eine völlig neue Perspektive von politisch-ideologischer Motivation der lettischen Akteure, die sich am Holocaust beteiligten – nicht aber bei Reichelt.

Ungenau ist auch die Darstellung des das Nebeneinanders von deutscher Ordnungspolizei und Sicherheitspolizei (Sipo) mit ihren jeweiligen lettischen Hilfseinheiten. Neu sind dagegen die Schilderungen zu den jüdischen Ghettos in Libau und Dünaburg, zu denen Reichelt feststellt, dass sie für die Zwangsarbeit errichtet wurden und keine reine Durchgangsstationen für die endgültige Vernichtung darstellten. Der „lettische Beitrag“ bestand hier bekanntermaßen in Form der Wachmannschaften, die mal mehr und mal weniger willkürlich Gewalt ausübten. Man hätte sich Informationen über die Beteiligung der lettischen „Selbstverwaltung“ bei der Organisation und Verwaltung der Ghettos gewünscht, wie es Christian Dieckmann am litauischen Fall gezeigt hat. Auch beim Thema Zwangsarbeit und Enteignung sieht Reichelt keine primäre lettische Beteiligung, wenn auch lettische Organisationen zumindest von letzterer profitierten.

Als Motivation für die lettische Beteiligung an den NS-Verbrechen macht Reichelt beim Arāijs-Kommando eine Mischung von Antisemitismus und „Streben nach Machtausübung“ aus, während sie bei den lettischen Polizisten, die auch zum Teil Erschießungen durchführte, vor allem Antisemitismus als Motiv nennt. Letztlich geht es Reichelt darum zu zeigen, dass die lettischen Täter als „Mörder“ und bewusst handelnde „Straftäter“ zu beurteilen sind (S. 351). Reichelt will vor allem die lettische „Kollaboration“ darstellen, es gelingt ihr aber nicht, diese zu erklären oder zu kontextualisieren, obwohl das Phänomen inzwischen relativ gut erschlossen ist. Auch wird auf das von ihr konstatierte Phänomen der „Eigeninitiative“ im Zusammenhang der Motivation nicht näher eingegangen.

Insgesamt leidet das Werk so stark unter den geschilderten Mängeln, dass man zu keiner positiven Bewertung kommen kann. Ganz anders verhält es sich mit Rein, der keinen juristisch-politischen Ansatz verfolgt, sondern einfach das Phänomen „Kollaboration“ in Weißrussland in all seinen Facetten verstehen will. Seine Ergebnisse sind umso erstaunlicher, da er keine Archive und Bibliotheken in Weißrussland nutzte, dafür aber auf eine breite Quellenbasis aus Archiven in Deutschland, den USA und Israel zurückgriffen hat. Die Arbeit von Rein ist ganz sicher ein neues Standardwerk zur Geschichte der nationalsozialistischen Besatzung in Weißrussland.

Anmerkungen:
1 Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
2 Zu Litauen: Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. 2 Bände, Göttingen 2011. Zu Lettland: Björn M. Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–46, Paderborn 2009.
3 Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941–1944. The Missing Center, Riga u.a. 1996, S. 156–157; Björn M. Felder, „Die Spreu vom Weizen trennen…“ Die Lettische Kartei – Pērkonkrsts im SD Lettland 1941–1943, in: Yearbook oft the Museum of Occupation of Latvia 2003, S. 47–66, hier: S. 58.
4 Klaus-Michael Mallmann, Die Türöffner der „Endlösung“. Zur Genesis des Genozids, in: Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 437–463, hier: S. 451.
5 Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg, S. 215–217.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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