Titel
Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989


Autor(en)
Götz, Irene
Reihe
Alltag & Kultur 14
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Silke Meyer, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Eine prinzipielle Schwierigkeit der Erforschung von Gegenwartskultur spricht die Autorin Irene Götz in ihrer Einleitung selbst an: Sobald man über die Einleitung des Buches nachdenkt, hat sich das Forschungsfeld bereits neu kartiert. Götz reichte ihre Habilitationsschrift im Jahr 2002 ein, der publizierte Text über deutsche Identitäten erschien im Jahr 2011: dazwischen liegen eine Reihe von Einheitsfeiern, eine in Deutschland ausgetragene und dort zum Sommermärchen erhobene Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 mit der Erfindung des Wortes „Fanmeile“ und schließlich das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls und damit das Datum, das zugleich den Beginn ihres Untersuchungszeitraums markiert. Die Hauptquellen der Studie – teilnehmende Beobachtung an nationalen Feierlichkeiten, mediale Diskurse sowie biografische Interviews – erscheinen damit zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie nicht mehr aktuell und die vorsichtigen Annäherungen an das von Götz als Tabu deklarierte Thema der nationalen Identifikation seltsam zögerlich. Wer das Meer an schwarz-rot-goldener Fröhlichkeit im Jahr 2006 miterlebt hat oder wer beobachtet, wie gerade die politisch links-orientierte Kreativindustrie in die neue neoliberal-appellative Konstruktion von nationaler Identität eingebunden ist („Du bist Deutschland“, 2005), mag sich zunächst über diese Markierung des Nationalen als Tabu wundern. Dabei ist das Buch in sich bereits ein zeithistorisches Dokument, das zugleich die Haltung der Forschenden bei ihrer teilnehmenden Beobachtung mitethnografiert. Und genau das macht es nicht zu einer überholten, sondern zu einer an vielschichtigen Reflexionsprozessen reichen Studie.

Irene Götz’ Zugang ist kulturwissenschaftlich-ethnologisch im besten Sinne: Sensibel für den Einfluss der Forschenden auf ihr Feld verflicht sie exemplarische Fallstudien mit der Analyse politischer Ereignisgeschichte und den zugehörigen Diskursen. Sie zeigt so überzeugend, dass die Wiederentdeckung des Nationalen in Deutschland nach 1989 keinen eindimensionalen Prozess darstellt, sondern sich vielmehr „plurale Formen der Re- und Denationalisierung“ gegenseitig bedingen (S. 20). Die Studie geht programmatisch über die Ebene der medialen Repräsentationen hinaus und gibt den Blick frei auf individuelle, situative, ambivalente und hybride Formen deutscher Identitäten. Damit eröffnet Götz methodisch vielfältig und ethnografisch einfühlsam neue Perspektiven einer akteursorientierten anthropologischen Nationalismusforschung.

Die Arbeit umfasst drei Teile und ein Postskriptum, in dem die Autorin auf die Entwicklungen nach 2002 eingeht. Im ersten einführenden Teil ordnet sie ihr ethnologisches Erkenntnisinteresse einer Vermessung der Zweiten Moderne zu. Diese beschreibt Irene Götz mit Clifford Geertz’ Diktum der Welt in Stücken als Hybrid, welche in erster Linie von Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gekennzeichnet ist und sich am ehesten über den „Umweg von Beispielen, Unterschieden, Variationen und Besonderheiten“1 ausloten lässt.

Diese Vielfalt und Mehrdeutigkeit bildet sich im breiten Spektrum der diskursiven Erscheinungsformen des Nationalen ab: von politischen Debatten über die deutsch-deutsche Vereinigung, doppelte Staatsbürgerschaft und Leitkultur über pop- zu alltagskulturellen Formaten wie multikulturell inszenierten Hiphop-Auftritten bei Einheitsfeiern oder der Rede vom Verlust der D-Mark in den Feuilletons, Talkshows und an den Stammtischen der Berliner Republik. Als Bezugsrahmen dienen Götz Prozesse des ‚nation building‘ der Ersten Moderne und deren wiederkehrende Vergemeinschaftungsmomente wie national markierte Produkte, Volksfeste und Jubiläumsfeiern sowie Helden aus der Sport- und Unterhaltungsbranche. Durch diese Einbettung wird beispielsweise das Sommermärchen des Jahres 2006 nicht zum befreienden Auslöser nationaler Bekenntnis, sondern zur logischen Folge einer Wiederkehr des Nationalen, deren massenmediale Verbreitung Götz in die 1990er-Jahre datiert. Die symbolische Konstruktion nationaler Gedächtnisgemeinschaften beginnt jedoch früher – hier folgt die Autorin unter anderen den Historikern Konrad Jarausch und Edgar Wolfrum –, nämlich in den Tendenzen der Entnationalisierung und der Tabuisierung von nationaler Identifikation nach 1945.

Diese These bestätigt sich in den Interviews aus zwei Forschungsprojekten, die Götz für ihre Fragestellung in Hinblick auf die individuelle Wahrnehmung und Aneignung des Nationen-Diskurses in verschiedenen Phasen auswertet. Sie stellt dabei den Fallstudien methodologische Fragen voran, in denen sie Zugangsweisen und Quellenkritik zur multiperspektivischen Interviewauswertung gerade bei einem tabubehafteten Thema diskutiert. Der Gattung einer Qualifikationsschrift gemäß bergen diese quellenkritischen Ausführungen einige Wiederholungen – die Autorin selbst spricht von einem Gemeinplatz ethnologischen Schreibens, wenn von der Produktion kultureller Differenz und vom Interview als Artefakt die Rede ist. Die Lektüre dieser Einführung in die Methodik sei aber vor allem denen ans Herz gelegt, die eine umfassende aktuelle Sichtung des relevanten Forschungsstandes zur Interviewinterpretation nachvollziehen wollen.

Die Interviewaussagen bündelt Götz zu zwei Themensubstraten, welche als politisch-historische Einflussfaktoren das Erleben einer deutschen Identität auf der Ebene des Subjekts prägen: zum einen der Nationalsozialismus, zum anderen der Mauerfall. Ersteren erfahren die Interviewten auf Reisen als die Brille, durch die sie im Ausland als Deutsche wahrgenommen werden. Die interviewte Rosa P. empfindet dieses Erbe als „Wundstelle“, welche ihre Identität sowohl nach außen in Gesprächen mit Nicht-Deutschen als auch nach innen in der Auseinandersetzung mit ihren Eltern prägt. Das Tabuthema wird so zum Identifikationsangebot. Beide Formen der Auseinandersetzung begründen jedoch auch einen Wandel in ihrer Haltung: auf Reisen beginnt sie, „mehr deutsch“ (S. 280) zu werden, und adaptiert entsprechend national-stereotypes Erbe. Stolz ist sie auf Goethe, Bach und Beethoven, beschämt über Bier und Schnitzel. In Deutschland kompensiert sie die Schuldgefühle über ausländerfeindliches Verhalten, indem sie sich eine ostentative Ausländerfreundlichkeit auferlegt.

Diese Muster einer reflexiven nationalen Identifizierung kombiniert Götz zu einem neuen Typus deutscher Identität, welcher sich vor allem durch seine Ambivalenz und Widersprüchlichkeit auszeichne. Vier Elemente wiederholen sich in den Interviews: erstens familiäre Erfahrungen mit der Generation der Kriegskinder und -jugendlichen; zweitens die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und eine eindeutige Distanzierung vom Deutschsein; drittens – biografisch darauf folgend – die Anerkennung und Wertschätzung der deutschen Kulturnation, des Verfassungspatriotismus und des deutschen Fürsorgestaats sowie schließlich viertens eine erhöhte Sensibilisierung für Xenophobie im Alltag und eine fast zwanghafte Empathie mit Nicht-Deutschen als normativem Handlungsanspruch. In diese immer auch biografisch geprägte Selbstdarstellung im Interview finden also eher Diskurse vom „Leiden an Deutschland“ (S. 281), von der deutschen Klassik und vom Sozialstaat Eingang als die Repräsentationsstrategien der nationalen Feierpraxis.

Das zweite Substrat, welches Götz als musterbildend für eine deutsche Identitätsstiftung interpretiert, ist das Thema der deutsch-deutschen Vereinigung. Davon ausgehend stellt Götz eine Selbst-Ethnisierung der Ost-Deutschen fest, hinzu kommen „das Motivgeflecht Nationalsozialismus und DDR-Geschichte“ (S. 306), die Ablehnung einer an Geld und Besitz orientierten Werteordnung sowie innerfamiliäre und biografische Rahmenbedingungen. Auch hier beobachtet Götz den Anspruch auf Xenophilie und den Bezug auf die Kulturnation vor der deutschen Teilung.

Das Postskriptum enthält Überlegungen zu pluralisierten Identitätsdiskursen nach dem Jahr 2000. Besonders die jüngeren Entwicklungen auf dem Finanzmarkt, welche sich mancherorts im Ruf nach einem „Mehr an Staat“ niederschlagen, bieten hier vielfache Anknüpfungspunkte für die diskutierten Thesen. Hier scheint noch einmal auf, dass die deutschen Identitäten sich in einem hochdynamischen Prozess befinden, von dem nur ein Zeitschnitt beleuchtet werden konnte.

Irene Götz legt ein wichtiges Werk zu einem Thema vor, zu dem eine Stellungnahme aus dem Fach Europäische Ethnologie überfällig war. Kritisch angemerkt sei, dass der Text an manchen Stellen Längen enthält, vor allem im zweiten Teil. Dagegen wäre die Verschränkung der Interviewaussagen mit zeitgenössischen Mediendiskursen deutlicher herauszuarbeiten gewesen, beispielsweise auch durch eine Auswertung der Erzählmuster in der narrativen Selbstdarstellung im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse. Damit hätte sich auch die Gelegenheit geboten, die Kontingenzperspektive der Kulturanalyse in einer „Welt in Stücken“ deutlich zu machen. Diese Anmerkung schmälert den Stellenwert der Studie zu diesem nicht nur für Europäische Ethnolog/innen zentralen Thema der Identitätsbildung aber nicht. Wer sich mit der Überwindung eines methodischen Nationalismus, mit Erinnerungskultur in nationalen und transnationalen Kontexten, mit Migration und Europäisierung, mit Globalisierung und Homogenisierung, mit Governance und mit politischen und ökonomischen Regulationsstrategien beschäftigt, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

Anmerkung:
1 Clifford Geertz, Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1996, S. 19.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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