Cover
Titel
Europe in the International Arena During the 1970s. Entering a Different World. L'Europe Sur La Scene Internationale dans Les Années 1970. A La Decouverte D' Un Nouveau Monde


Herausgeber
Varsori, Antonio; Migani, Guia
Erschienen
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 48,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Soldwisch, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Das anzuzeigende Werk ist ein sehr gelungener englisch-französischsprachiger Sammelband, der aus verschiedenen Forschungsprojekten der Universitäten Florenz, Padua, Perugia und Udine resultiert. Betrachtet wird das Europa der 1970er-Jahre. Die breite Forschungs- und Archivbasis dieses Bandes bietet nicht nur neue Ergebnisse auf dem Gebiet der bisher meist (west-) europäischen Integration, sondern nimmt gleichsam etwa die Ostpolitik der Bundesrepublik, die osteuropäische Integration, britische und belgische Außenpolitik und ihr Verhältnis zur europäischen Integration und vieles andere in den Blick.

Im ersten Kapitel, überschrieben „European construction: The great divide – La construction européenne: Le changement“ führt Antonio Varsori aus, dass politische und wirtschaftliche Veränderungen der 1960er- und 1970er-Jahre zu einem neuen Integrationsprozess geführt hätten, der seiner Meinung nach besonders durch sozialdemokratische Kräfte maßgeblich vorangetrieben wurde. Auf die wirtschaftliche Dimension konzentriert sich auch Éric Bussière in seinem Beitrag, wenn er den europäischen Regionalismus (Wirtschaft und Währung) als Antwort auf die Globalisierung interpretiert (S. 54). Wilfried Loth zeigt in seinem Aufsatz das Spannungsfeld der bundesdeutschen Außenpolitik zwischen Ost und West auf und beschreibt hier unter anderem die Kontinuität in der (west-)europäischen Integrationspolitik, die seiner Meinung nach mitbestimmend für Veränderungen in der Ostpolitik der Bundesrepublik waren. Mit dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft beschäftigt sich Mark Gilbert.

Im zweiten Kapitel „Europe between the superpowers – L’Europe entre les superpuissances“, befassen sich Silvio Pons und Frederico Romero mit der beginnenden Ost-West-Entspannung in Europa vor dem Hintergrund der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Duccio Basosi fokussiert die Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten mit Westeuropa im Bereich der Währungspolitik. Auch David Buriganas Frage nach der der technisch-industriellen Zusammenarbeit (zum Beispiel Luftfahrt) – die er als eine Frage der Außenpolitik interpretiert – bezieht sich auf Westeuropa und die Vereinigten Staaten. Das Ringen nach US-amerikanischem Standard habe auch innereuropäisch zu einem Wettbewerb sowohl unter EWG- und Nicht-EWG-Mitgliedstaaten, als auch innerhalb der Gemeinschaft geführt, der durch unterschiedliche Strategien der Zusammenarbeit geleitet wurde. Dabei betont er besonders den Einfluss von Währungsfragen diesseits und jenseits des Ozeans (zum Beispiel Bretton Woods) auf die diplomatischen Beziehungen zwischen den Partnern. Vladislav Martin Zubok arbeitet in seinem Beitrag drei Elemente heraus, die den Einfluss der Sowjetunion auf Osteuropa in den 1970er-Jahren nachhaltig schwächten: 1. die politischen Veränderungen, die auf den Prager Frühling 1968 folgten (S. 144ff.), 2. der Beitrag der KSZE zur Idee eines vereinigten Europas (S. 147ff.) und 3. der Zusammenbruch des Ostblocks, der mit der Solidarnosc-Bewegung in Polen begann (S. 151ff.).

Das dritte Kapitel „Europe and the north-south challenge – L’Europe et le défi nord-sud“ widmet sich unter anderem den Beziehungen Westeuropas mit der Dritten Welt, die maßgeblich durch die zunehmende Abhängigkeit Europas von Rohstoffen dieser Region mitbestimmt wurden. So zeigt Luciano Tossi die Bemühungen der EWG-Länder in den Vereinten Nationen, eine einheitliche Position gegenüber der Dritten Welt zu finden, analysiert aber auch die Grenzen dieser Bemühungen Ende der 1970er-Jahre. Guia Migani beschreibt in ihrem Beitrag die Entwicklung der Beziehungen der EWG-Länder zu den Mittelmeerländern seit 1970 bis zu den Pariser Verträgen 1972. Sie geht hier besonders auf die Herausforderungen für die EG durch die Erweiterung, den Wandel in der französischen Außenpolitik und die schwierige Situation nach den palästinensischen Terroranschlägen ein. Mit dem Ölschock 1973 und seinen Auswirkungen auf Westeuropa befassen sich Giuliano Garavini und Francesco Petrini. Das Ansteigen der Ölpreise sei schon vor dem Krieg durch die produzierenden Länder beschlossen worden und war Teil der „Dritte Welt Strategie“, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu reformieren (S. 217). Die einzige wirkliche Konsequenz des Krieges sei das Embargo gegen einige Staaten gewesen, die mit Israel kooperierten, wie die Vereinigten Staaten und die Niederlande. Valerio Perna beschreibt die Entwicklung der Dritte-Welt-Länder seit der Bandung-Konferenz 1954 und betont den steigenden Einfluss der Bandung-Staaten auf internationale Beziehungen und die europäischen Außenpolitiken.

Das vierte Kapitel trägt den Titel „Europe, mass movements, public opinion and new forms of foreign policy – L’Europe, mouvements de masse, opinion publique et nouvelles formes de politique étrangère“ und umfasst Aufsätze über die Rolle von Massenbewegungen in einzelnen europäischen Ländern, die öffentliche Meinung und europäische Außenpolitik. In einem ersten Beitrag beschäftigt sich Philippe Chassaigne mit dem großen Komplex der europäischen Identität, die seiner Meinung nach in der europäischen Diskussion nach den Römischen Verträgen keinen großen Stellenwert mehr eingenommen habe. Gründe dafür sieht Chassaigne unter anderem in der sehr funktional-technischen Ausgestaltung der Verträge. Bis 1989 gab es nur eine Initiative, die sich der europäischen Identität widmete, die Deklaration von 1973. Sie zu analysieren, ist Ziel des Beitrages.

Simone Paoli bringt die Pariser Verträge mit den Massenprotesten 1968 in Verbindung, die seiner Meinung nach viel weitreichender in die europäische Integrationspolitik hineinreichten, als bisher angenommen. Wie der unterschiedliche Umgang mit osteuropäischen Dissidenten zur Spaltung der italienischen Linken führte, dokumentiert Valentine Lomellini in ihrem Beitrag.

Im fünften und letzten Kapitel des vorliegenden Sammelbandes „Transition in southern Europe – La transition en Europe du sud“ wird unter anderem die Gefahr kommunistischer Einflussnahme in Krisenzeiten politischer Systeme Südeuropas analysiert. Mario Del Pero beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der unterschiedlichen Reaktion der Vereinigten Staaten unter der Präsidentschaft Lyndon B. Johnson, Richard Nixon und Gerald Ford in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre. Auf das westdeutsch-italienische Verhältnis konzentriert sich Giovanni Bernadini, indem er die westdeutschen Bemühungen dokumentiert, Italien bei der Modernisierung seines wirtschaftlichen und politischen Systems zu unterstützen. Antonio Muñoz Sánchez richtet den Blick auf Portugal und betont hier den wichtigen Beitrag politischer Bildung und Unterstützung am Beispiel der Arbeit der Friedrich-Ebert Stiftung im Zeitraum 1974/75. Eirini Karamouzi beschreibt in ihrem Aufsatz die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der EWG, die auf eine Stärkung des neuen demokratischen griechischen Systems abzielte.

Ohne Frage ist dieser Sammelband eine Bereicherung zur Forschungsdiskussion der europäischen Integrationsgeschichte. Gerade die Vielfalt der abgedruckten Beiträge macht diesen Band besonders lesenswert. So werden hier die Grenzen der „klassischen“ West- und Osteuropaforschungen, die sich entweder dem Einen oder dem Anderen widmen, bewusst durchbrochen. Dies bietet dem Leser ein breites Spektrum von Wissen und/oder Interpretationen. Das Europa der 1970er-Jahre, bisher in der Forschung zumeist als Kontinent der Krise und der Teilung gedeutet, erfährt in diesem Sammelband eine weitreichende Ergänzung und bietet somit neue Sichtweisen auf ein schon lange beforschtes Feld. Mit zum großen Teil neuen Forschungsergebnissen sei dieses Werk somit jedem empfohlen, der sich mit europäischer Geschichte allgemein, aber auch mit der Zusammenarbeit einzelner Staaten, der EWG und den Hintergründen politischer Entscheidungen auf europäischer Ebene befassen möchte.

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