J. Burkhardt: Reformationsjahrhundert

Titel
Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617


Autor(en)
Burkhardt, Johannes
Erschienen
Stuttgart 2002: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Sandl, Geisteswissenschaftliche Sektion, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Zu wenigen Themen existieren ähnlich viele Überblicksdarstellungen wie zur Reformationsgeschichte. Seit den ersten Zusammenfassungen der Ereignisse, die noch aus dem 16. Jahrhundert stammen, ist die Zahl der auf eine Gesamtdeutung angelegten Reformationsgeschichten mit regelmäßigen Höhepunkten zu Jubiläen, Jahres- und Geburtstagen kontinuierlich angestiegen. Was schon kaum mehr für den Fachmann zu übersehen ist, muss den interessierten Laien, wichtiger Adressat gerade dieser historiographischen Literaturgattung, vollends überfordern. Denn es ist keineswegs so, dass alle Überblicksdarstellungen in derselben Gründlichkeit und Qualität über den Gegen- sowie den Forschungsstand informieren. Johannes Burkhardts nun erschienenes Buch über „Das Reformationsjahrhundert“ gehört zweifellos zu den Werken, die dies tun. Ja es leistet noch mehr: Über eine gelungene Zusammenfassung hinaus setzt es Akzente und konturiert Forschungsfelder in einer Weise, die, äußerst selten für eine Überblicksdarstellung, aller Voraussicht nach auf den weiteren Forschungsprozess zurückwirken werden.

Ein medien- und ein begriffsgeschichtlicher Akzent verdienen es, schon zu Beginn hervorgehoben zu werden. Burkhardt stellt erstens das ‚Medienereignis’ Reformation in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dabei geht es nicht nur um eine Erweiterung des bislang vorhandenen Spektrums theologie-, sozial- und institutionengeschichtlicher Forschungen. Ziel ist vielmehr eine Neuperspektivierung der Reformationsepoche insgesamt im Lichte ihrer Verbreitungs-, Speicherungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Einsicht in die zeitgenössischen Sinnbildungsprozesse und ihre technisch-kulturellen Voraussetzungen wird von Burkhardt damit zur Bedingung des Reformationsverständnisses gemacht. Zweitens überprüft Burckhardt in kenntnisreicher, zum Teil kritischer Weise die aktuelle Begrifflichkeit der Reformationsforschung und plädiert durchweg für eine (Wieder-) Annäherung der Nomenklatur an die Deutungs- und Wahrnehmungsmuster des Untersuchungszeitraums.

Doch nun der Reihe nach: Burkhardt teilt seinen Gegenstand in drei Themenblöcke. Der erste Themenblock beschäftigt sich unter der Überschrift „Neuzeit im Andruck – Die Reformation“ mit den mediengeschichtlichen Umwälzungen und ihren epochemachenden Auswirkungen im Spiegel der Reformation (16-76). Die zwei folgenden Teile behandeln Institutionalisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlicher Reichweite. Im Mittelabschnitt wird die Konfessionsbildung als „Wende zur Institution“ (77-135) zum Gegenstand gemacht, bevor im dritten Teil (136-199) die „Institutionalisierung eines Reiches“ – sprich: die Prozesse der Staats- und Herrschaftsbildung im 16. Jahrhundert – thematisiert werden. Das Buch besitzt einen Anmerkungsapparat mit den wichtigsten, in der Regel mit hilfreichen Kurzbemerkungen des Autors versehenen Literaturtiteln sowie einem Personen- und Autorenregister.

Burkhardt begründet zunächst seine mediengeschichtliche Perspektive. Seine These ist, dass „die auf das neue und schnell perfektionierte Druckmedium gestützte zunehmende Verschriftung der Welt [...] alle anderen Akzente“ (14) mitbestimmt habe. Er wendet sich dementsprechend zunächst der Erfindung des Drucks in seinen technischen und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen und Folgen zu. Der Erfolg des Druckmediums war nach Burkhardts Auffassung engstens mit der Reformation verbunden. In Luther fand es einen Autor, der für den weiteren mediengeschichtlichen Verlauf entscheidende Bedeutung erlangte. Das gilt wohlgemerkt nun nicht im Sinne einer Instrumentalisierung des Mediums durch den Reformator, sondern im Sinne eines Primats des Mediums. So erscheint „Luthers Reformation“ nicht als eine Geschichte des erfolgreichen Einsatzes des Printmediums, sondern, gewissermaßen umgekehrt, als „Geschichte aus der Druckerpresse“. Wer aufgrund der Kapitelüberschriften allerdings eine konstruktivistische Revision unseres Reformationsbildes erwartet, kann beruhigt bzw. wird – je nach Façon – entäuscht werden. Die wirklichkeitskonstitutive Kraft des Druckmediums bricht sich in der Darstellung Burkhardts immer wieder an Voraussetzungen – seien es soziale, theologische oder kulturelle –, die eine den zeitgenössischen Kommunikationsprozessen vorausliegende Realität projizieren. So erscheinen Medien in den Kapiteln über die „reformatorische Öffentlichkeit“ und den „Bauernkrieg als Medienkrieg“ folgerichtig vor allem unter dem Aspekt der Verbreitungsmöglichkeiten und -geschwindigkeiten.

An diesem Punkt gilt es angesichts der vom Autor selbst hervorgehobenen Bedeutung des mediengeschichtlichen Ansatzes noch einmal nachzuhaken. Der „innovatorische Impuls der Zeit“, so Burkhardt, bestehe nicht „in ihren Inhalten, sondern in den Druckmedien und der Kulturfertigkeit, mit der sie hier erstmals zum Einsatz kommen“ (15). An die Stelle der Wirklichkeit, so könnte man sagen, tritt ihr mediales Gegebensein als die Ebene, auf welcher die historischen Transformationsprozesse lokalisiert werden. Auf dieser Ebene muss nach Überzeugung Burkhardts der Epochenbruch und der Beginn der Frühen Neuzeit bestimmt werden. Aus historiographischer Sicht lässt sich kaum grundsätzlicher argumentieren; allerdings lässt sich aus eben diesen Gründen auch kaum ein größerer Argumentationsdruck aufbauen, der theoretisch-konzeptuell entsprechend eingelöst werden muss. Gerade in dieser Hinsicht wird Burkhardt allerdings kaum explizit.

Den Anschluss an die Medienwissenschaft stellt er vor allem über zwei Bücher her: Michael Gieseckes systemtheoretisch konzipierten monumentalen Überblick über den Beginn des Buchdrucks sowie Werner Faulstichs eher deskriptiv gehaltene Überblicksdarstellung über die Mediengeschichte des 15. bis 17. Jahrhunderts. Letzterer scheint insgesamt für Burkhardt wichtiger zu sein, da systemtheoretische Überlegungen keine über einige rhetorische Anklänge hinausgehende Rolle spielen. Andere Autoren, die umfangreiche Darstellungen zum auch von Burkhardt zitierten Zusammenhang von Medien, Wahrnehmung und Kommunikation vorgelegt haben, werden zum Teil zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, spielen jedoch in der Argumentation kaum eine Rolle. Das gilt beispielsweise für Elizabeth L. Eisensteins mittlerweile schon klassische Studie zur ‚Druckerpresse’ und ihren Wirkungen auf die Wissensgesellschaft des 15. und 16. Jahrhunderts. Aber auch die aktuelle medienwissenschaftliche Diskussion über die wirklichkeitskonstitutive Rolle der Medien (die den im Literaturverzeichnis genannten Marshall McLuhan längst hinter sich gelassen hat) hätte in diesem Zusammenhang Interesse verdient. Burkhardts These von der Geschichtsmächtigkeit der medialen Revolution bezieht ihre Plausibilität vor allem aus der Suggestivkraft des Medienbegriffs im aktuellen Diskurs. Die Sprengkraft medientheoretischer Erkenntnisse gerade für die Geschichtswissenschaft – von welcher die Diskussion um den sogenannten ‚linguistic turn’ eine gewisse Vorahnung vermittelt hat – muss erst noch systematisch entfaltet oder gegebenenfalls entschärft werden.

Im zweiten Teil, der die Geschichte der Ausdifferenzierung und Abschließung der drei wichtigsten konfessionellen Gruppen in Gestalt der ‚Lutheraner’, der ‚Katholiken’ und der ‚Reformierten’ im Laufe des 16. Jahrhunderts behandelt, tritt der mediengeschichtliche Blick dementsprechend in den Hintergrund. Detailliert werden hier die jüngeren Forschungspositionen gegenübergestellt und abgewogen, wobei - kaum verwunderlich - das Konfessionalisierungsparadigma den Rahmen der Interpretation vorgibt. Burkhardt betont mit Wolfgang Reinhardt, Heinz Schilling und anderen die Parallelität der Entwicklungen der einzelnen konfessionellen Gruppen, setzt jedoch mithilfe des älteren, auf Ernst Walter Zeeden zurückgehenden Begriffs der „Konfessionsbildung“ neue Akzente. Nicht aus der Sicht konfessionsneutraler säkularer Folgen, sondern aus der zeitgenössischen konfessionellen Differenz heraus entwickelt er den Blick auf „kulturelle Fundamentalvorgänge“. Damit relativiert er die staats- und gesellschaftsgeschichtliche Ausrichtung des Konfessionalisierungsansatzes zugunsten „der Aufbauleistung der intellektuellen Eliten und der religiös-institutionellen Eigendynamik der Konfessionsbildungen“ (77).

Ausgehend von der Frage nach dem „konfessionellen Unterschied“ von Lehrinhalten, Kultus, Organisationselementen und Disziplinierungsmomenten gelangt Burkhardt zu einer griffigen Typologie des evangelisch-lutherischen „Primats der Lehre“ (81-95), des katholischen „Primats der Organisation“ (96-115) sowie des reformierten „Primats der Praxis“ (116-135). Im einzelnen gelingt es Burkhardt, eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen den drei konfessionellen Gruppen herauszuarbeiten, die man durchaus fundamental nennen kann. Der im Vergleich zum von Burkhardt unter Teleologieverdacht gestellten Konfessionalisierungsbegriff vorsichtigere Terminus „Konfessionsbildung“ bewährt sich hier in seinen interpretatorischen Möglichkeiten. Er gibt den Blick frei auf historische Spezifika, gestattet es jedoch auch, weiterhin einen Interpretationshorizont abzustecken, der Vergleichbarkeit garantiert. Insofern ist Burkhardts Ansatz, die unbestreitbaren Ergebnisse des Konfessionalisierungsparadigmas gewissermaßen an die Logik des 16. Jahrhundert zurückzubinden, ausgesprochen überzeugend.

Analytisch deutlich getrennt von der Thematik der „Konfessionsbildung“ beschreibt Burkhardt dann im dritten Teil die Staatsbildungsprozesse im Laufe des 16. Jahrhunderts. Auch hier hütet er sich vor allzu teleologisch wirkenden Zuschreibungen von Modernisierungspotenzialen zu einzelnen Ebenen der Herrschaftsbildung; ja er operationalisiert im Gegenteil die Skepsis gegenüber eingeschliffenen politikgeschichtlichen Interpretationsmustern, um schon auf der Ebene der Gliederung die Interdependenz der europäischen, reichischen und territorialen Ebene zu betonen. Wiederum wird der Wille deutlich, über eine Zusammenfassung von Forschungsergebnissen hinaus einen Beitrag zur Historisierung und Kontextualisierung staats- und gesellschaftsgeschichtlicher Forschungsergebnisse zu leisten. Insgesamt bleibt allerdings dieser letzte Teil weitgehend in den Bahnen eines konzisen und informativen Überblicks über die aktuelle Forschungslandschaft ohne eigene begriffliche Akzentsetzungen. Die Ausführungen zu Karl V. und seiner an der Vorstellung der Universalmonarchie orientierten Politik werden ergänzt durch die Ergebnisse zur Finanz- und Wirtschaftsgeschichte, zur Kommunikationsgeschichte sowie zur Frage der europäischen Aktualität des Karlsbildes. Im Kapitel über die „deutsche Landesstaatlichkeit“ wird anschließend der Strukturwandel der Herrschaft vom mittelalterlichen Personenverband zum neuzeitlichen institutionellen Flächenstaat einschließlich der Rolle, die Hof und Stadt hierbei spielten, skizziert. Das letzte Kapitel informiert über die Reichsgeschichte und zollt damit der Bedeutung, die diesem Thema im Kontext der deutschen Frühneuzeitforschung zukommt, Tribut.

Burkhardts Buch über das ‚Reformationsjahrhundert’ ist eine instruierende und gleichzeitig unterhaltsame Überblicksdarstellung; sie kann zudem an vielen Stellen neue Perspektiven aufzeigen. Besonders spannend wird es immer dann, wenn der eingeschlagene medien- und kommunikationsgeschichtliche Ansatz dazu führt, dass Geschichte als synchroner und diachroner Kommunikationszusammenhang sichtbar wird. Das geschieht beispielsweise im Zusammenhang mit der Diskussion der Begriffe ‚alt-’ und ‚neugläubig’, in deren Kontext Burkhardt den bemerkenswerten Satz fallen lässt, dass „der religiöse Mythos (von der ungebrochenen Kontinuität der katholischen Kirche, M.S.) ... die historische Wahrnehmung so lange überformt (habe), dass er schon fast eine historische Wirklichkeit geschaffen hat, mit der man wie in vielen anderen Fällen an sich leben könnte.“ (115) Wer könnte an der Richtigkeit dieses Satzes zweifeln. Historisch wirksam ist die katholische Kirche in den Jahrhunderten nach der Reformation als Kirche geworden, die ihre Kontinuität über den Epochenbruch hinaus gewahrt hat. Der Historiker mag das korrigieren, die historische Wirkungsmächtigkeit dieses (Vor-) Urteils sollte man darüber jedoch nicht aus den Augen verlieren. Ernstgenommene Mediengeschichte macht Geschichte, wie sich hier zeigt, im Hinblick auf ihre Wahrnehmung und Kommunikation hin transparent; daraus entstehen spannende Fragen wie die nach der historischen Wirklichkeit.

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