B. Wassenberg u.a. (Hrsg.): Contre l’Europe?

Cover
Titel
Contre l’Europe?. Anti-européisme, euroscepticisme et alter-européisme dans la construction européenne de 1945 à nos jours (Volume 1): les concepts


Herausgeber
Wassenberg, Birte; Clavert, Frédéric; Hamman, Philippe
Reihe
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 11
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
498 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen

„Das europäische Haus steht in Flammen“, so der alarmierende Befund des früheren Außenministers Joschka Fischer.1 Die „guten“ Europäer schnüren Rettungspakete und erschrockene Europhile rufen nach mehr Integration zur Lösung der Krise. Zugleich haben Europaskeptiker, die es schon immer besser gewusst haben, Hochkonjunktur. Der Euro und zugleich das gesamte Projekt der europäischen Einigung werden in Frage gestellt. Da kommt ein Buch wie „Contre l’Europe?“ gerade zur rechten Zeit. Der Sammelband basiert auf den Arbeiten einer jungen Forschergruppe an der Universität Straßburg, die als Reaktion auf die europäische Ernüchterung der „Nullerjahre“ – angefangen mit dem Nein der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag 2005 bis zum nur knapp im zweiten Anlauf von den Iren akzeptierten Reformvertrag von Lissabon im Oktober 2009 – das Phänomen des Anti-Europäismus in den Blick nehmen. Die Autoren stammen aus Deutschland, Frankreich und angrenzenden Ländern und unterschiedlichen Disziplinen (Rechts-, Wirtschafts-, Politik-, Geschichts-, Kommunikations-, Musikwissenschaft, Soziologie), zudem ist der Band durchgängig dreisprachig (deutsch, französisch, englisch) verfasst und bietet zu jedem Beitrag eine Zusammenfassung in den jeweiligen Sprachen.

Wie so häufig bei derart voluminösen Sammelbänden wird die Breite der Forschungsansätze der Komplexität des Themas zwar gerecht, geht aber freilich ein wenig zu Lasten der Kohärenz des Projektes. Der erste, eher theoretisch angelegte Teil befasst sich mit den politischen Konzepten des Anti- bzw. Alter-Europäismus. Seine Manifestationen in einzelnen Ländern oder auf einzelnen Themenfeldern werden im zweiten Teil an verschiedenen Beispielen aufgezeigt. Teil drei widmet sich dem Europa der Regionen als Alternativkonzept zur europäischen Integration der Staaten und Teil vier nimmt die Grenzen Europas und des Europäischen in den Blick. Die Beiträge des Bandes werfen eine Reihe von Fragen und Problemen auf, die sich schwer auf einen Nenner bringen lassen. Das liegt zunächst am Phänomen des Europaskeptizismus selbst und an dessen begrifflichen Unschärfen. So gibt es keine einschlägige Theorie zur Erklärung europhober Einstellungen. Vielmehr ist Europaskepsis ein schwer greifbares soziales und politisches Phänomen, das aber dennoch dringend einer systematischeren Erforschung bedürfte, um den nicht immer gradlinigen Prozess der europäischen Einigung nach 1945 zu verstehen. Insofern haben wir es mit einem echten Desiderat der Integrationsforschung zu tun. Insbesondere die historische Integrationsforschung hinkt hier noch hinterher. Aufgrund der Archivfristen und der damit begrenzten Zugänglichkeit historischer Quellen werden die 1980er- und 1990er-Jahre als die ersten Hochphasen euroskeptischer Haltungen erst allmählich in den Fokus rücken. Somit hat man das Feld bisher den Politikwissenschaftlern überlassen, die recht schematisch zwischen einer „harten“, fundamentalen Europaskepsis im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung der europäischen Integration unterscheiden und einer „weichen“, konstruktiven Europaskepsis, bei der die europäische Einigung nicht im Grundsatz abgelehnt wird, sondern nur bestimmte (Fehl-)Entwicklungen und Teilbereiche der Integration.

So notwendig und begrüßenswert also eine weitere Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes sein mag, so groß ist zugleich die Gefahr einer begrifflichen Beliebigkeit, um auch noch die letzte Spielart des Euroskeptizismus beschreiben zu können. Schon im Titel des Bandes werden verschiedene Angebote unterbreitet: Anti-Europäismus und Euroskeptizismus mögen zwei Begriffe sein, für die es einen breiteren Konsens geben dürfte. Der Neologismus des Alter-Europäismus hingegen impliziert mit seiner Anlehnung an den Begriff der Alter-Globalisierung eine thematische Verengung auf Diskurse über den Neoliberalismus, die, wie der emeritierte Soziologieprofessor Maurice Blanc in seinem Nachwort zu Recht anmerkt, die komplexe europäische Realität nicht adäquat widerspiegelt (S. 477) – und sicherlich auch nicht in der Absicht der Herausgeber liegt. Vielmehr bewegt sich ihr Ansatz eher in Richtung eines Bekenntnisses zu theoretischer Vagheit („flou théorique“), die helfe, so Philippe Haman in seinem Beitrag, die Komplexität und Wandelbarkeit des Phänomens einzufangen. Neben der bekannten und etablierten Zweiteilung wird also mit weiteren Spielarten und Beschreibungen experimentiert, freilich ohne zu endgültig befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Der Vorschlag des Autorengespanns Amandine Crespy und Nicolas Verschueren von „résistances à l’Europe“ zu sprechen, zeigt beispielsweise, dass Begriffe nicht ohne weiteres aus einem bestimmten nationalen und historischen Kontext auf einen anderen übertragen werden können.

Nicht ganz klar ist, wie sich Euroskeptizismus quantitativ und qualitativ vermessen lässt. Schon auf die Frage nach den Ursprüngen und Wurzeln kann es mehrere Antworten geben. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive markieren die frühen 1980er-Jahre eine Zäsur, die zur Prägung und Verbreitung des Begriffs des Europaskeptizismus geführt hat, und zwar im traditionell europaskeptischen Großbritannien (Muriel Rambour). Antieuropäismus jedoch lässt sich schon für die Ära de Gaulle konstatieren (Simon Lang). Und aus der Perspektive der Historikerin (Marie-Therese Bitsch) handelt es sich sowieso um ein Phänomen, das so alt ist wie der Integrationsprozess selber und bereits in der Zwischenkriegszeit zu beobachten ist. Insofern wären insbesondere Untersuchungen zur „longue durée“ des Europaskeptizismus interessant. Die Beiträge des Bandes konzentrieren sich auf die Zeit nach 1945 und zeigen an unterschiedlichen Beispielen die Motive, Konzepte, Argumentationsmuster und Europabilder bestimmter gesellschaftlicher und sozialer Gruppen auf: die Darstellung Europas in den Wochenschauen nach 1945 (Eugen Pfister), die Debatten zur Verfassung 2005 in Deutschland und Großbritannien (David Tréfás), die Argumente gegen den Euro (Frédéric Clavert), in personenzentrierter Perspektive der Euroskeptizismus eines Raymond Aron (Olivier de Lapparent) oder als nationales Beispiel der Euroskeptizismus der Dänen von 1918 bis 1993 (Louis Clerc). Die Idee der regionalen Integration in Gestalt der Eurodistrikte wird als Alternative zur europäischen Integration der Staaten überzeugend als eine Form des „weichen“ Euroskeptizismus vorgestellt (Birte Wassenberg), die zur Lösung des aktuell wieder diskutierten Problems der mangelnden Akzeptanz der europäischen Institutionen beim Bürger beitragen könne.

„… si l’Europe n’a plus guère d’adversaires, ses partisans continuent à se diviser“ (Maurice Blanc, S. 452). „Harte“ Europafeindlichkeit ist (im Moment noch) die Ausnahme. Typischer sind vielmehr die vielen Spielarten eines „weichen“ und konstruktiven Skeptizismus, die aufzuzeigen ein großes Verdienst des Sammelbandes darstellt. Zu wünschen wären allerdings künftig synthetisierende Darstellungen.

Anmerkung:
1 Joschka Fischer in der Süddeutschen Zeitung vom 4.6.2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension