J. Dülffer u. G. Krumeich (Hg.): Frieden

Titel
Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918


Herausgeber
Dülffer, Jost; Krumeich, Gerd
Reihe
Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 15
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Stefan Kestler, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg

Während John Dos Passos mit seinem Buch „Wilsons verlorener Friede“ 1 bereits vor Jahrzehnten den Versuch unternommen hat, den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg politisch nachzuzeichnen, liegt nun ein Sammelband unter ähnlicher Titulatur vor, der sich freilich schon inhaltlich deutlich von seinem transatlantischen Pendant unterscheidet: Geht es hier doch um ausgesprochen europäische Perspektiven, die noch dazu nicht den Weg in den Krieg bzw. das Kriegsgeschehen selbst, sondern vielmehr dessen gleichermaßen traumatisch wirkende „Nachgeschichte“ thematisieren.

In den letzten Jahren hat sich bezüglich der Erforschung des Ersten Weltkrieges, seiner Vorgeschichte und Folgen, ein regelrechter Boom entwickelt. Erfreulicherweise hat hierzu auch die modern definierte Militärgeschichtsschreibung ihren Beitrag geleistet, die, anders als ihre eher „antiquierten“ Vorläufer Kriegs- und Operationsgeschichte, nunmehr vor allen Dingen die Verknüpfung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren mit dem eigentlichen Geschehen an der Front, in Kasernen und Planungsstäben betreibt. Die Liste der herausragenden Veröffentlichungen in diesem Bereich ist lang, zu erinnern sei an dieser Stelle exemplarisch an Klaus Vondungs wegweisende Arbeit zum „Kriegserlebnis“ 2 sowie an die neueren Editionen zum Kriegsende 1918 3 und zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg 4.

Mit ihrer seit Mai 2002 vorliegenden Publikation schließen sich Jost Dülffer und Gerd Krumeich durchaus dem herrschenden Trend an; jedoch unter augenfälliger Maßgabe, hierbei auf besondere Desiderate der Forschung einzugehen. Die 19 Einzelbeiträge der Veröffentlichung unternehmen den Versuch, die Bandbreite des gewählten Themenbereichs auszuschöpfen. So überwiegen zwar deutlich die Untersuchungen zum Deutschland der Weimarer Zeit, doch werden spezielle Fragestellungen bezüglich der Situation in Frankreich, Italien, Großbritannien und Rußland angeschlossen. Die Erweiterung des Blickwinkels erscheint nötig, will man komparativen Nutzen aus den Ergebnissen der Arbeit ziehen. Nicht umsonst beruft sich Gerd Krumeich hier auf eine gewollte „Internationalisierung“ (11) des gewählten Ansatzes. Im Falle Rußlands wirft Dittmar Dahlmann dabei die interessante Frage auf, welchen konkreten Einfluß die antibolschewistische Emigrantenliteratur tatsächlich auf die politisch-ideologischen Stimmungslagen Westeuropas ausüben konnte. Aribert Reimann belegt dagegen den bemerkenswerten Umstand, daß auf englischer Seite „die Verlustraten mit dem sozialen Status der Rekruten anstiegen“ (78) und Großbritannien im Bereich der möglichen Erinnerungsformen an den Großen Krieg europaweit einen echten „Sonderweg“ (90) einnahm. Bernd-A. Rusinek kommt dagegen bezüglich der deutschen Situation zu der beunruhigenden Feststellung, daß der Erste Weltkrieg dort „kollektiv lebendig blieb“, und zwar vor allen Dingen im „rituellen Kriegsgebaren im öffentlichen Raum“ - und das eben nicht nur in Krisenzeiten (14).

Inhaltlich fällt das Sammelwerk dadurch auf, daß neben den Bereichen Kriegserleben, Totenkult und Trauerkultur gerade die besondere Perspektive der Kriegsteilnehmer erfreulich oft thematisiert wird. Kriege entstehen primär in Köpfen; die Erinnerung an das Geschehen und die Verarbeitung des Erlebten setzen sich realerweise in denselben Köpfen fort. Daß der Weltkrieg 1914/18 in seiner grundlegenden Funktion als „Urkatastrophe„ des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich Verlierer hervorbrachte, ist weithin unbestritten und bekannt. Die Anbahnung der neuerlichen Katastrophe von 1939 unter genau dieser speziellen Perspektive wird ebenfalls seit längerem diskutiert. Zu Recht hebt Jost Dülffer daher in seinem Beitrag hervor, daß der Nationalsozialismus „im zwanzigjährigen Anlauf die Erfahrung des Ersten Weltkrieges zur mentalen Vorbereitung des Zweiten“ (37) nutzte. Anders hingegen der Befund für das Frankreich der Zwischenkriegszeit: Dort war zwar Krieg allein schon durch zahlreiche koloniale Konflikte „ständig präsent“ (47), doch arbeiten Jean-Jacques Becker ebenso wie Matthias Waechter in ihren Aufsätzen kenntnisreich heraus, daß gerade die Bevölkerung jegliche Form des Krieges immer weniger unterstützte.

Gute Beispiele für militante Grundkonditionen finden sich daneben in der Aufarbeitung des Opfermythos (Sabine Kienitz) sowie der spezifischen Gewaltbefugnis bzw. -bereitschaft sozialer wie politischer Gruppen der Zwischenkriegszeit. Zwei wichtige Bereiche, die, durchaus gewollt, in einigen der hier versammelten Aufsätze (Matthias Waechter, Oliver Janz, Aribert Reimann u.a.) gerade deshalb thematisiert werden. Für Italien führt dieser Ansatz immerhin zu dem wichtigen Befund, daß die dort praktizierte Kultur der Trauer auf politischer Ebene in der Tat stark destabilisierend wirkte. Wie aber finden die Begriffe „Krieg“ und „Zivilisation“ in der Realität zueinander? Auch dieser Fragestellung wird hintergründig nachgegangen, so z.B. in den Beiträgen zu Totengedenken, Friedensbewegung und Anti-Kriegskunst von Susanne Brandt, Karl Holl und Annegret Jürgens-Kirchhoff.

Um den Konnex zwischen militärischem Extremzustand und ziviler Alltagspraxis genauer auszuleuchten, bedarf es, gemäß Einschätzung der historischen Forschung, nach wie vor des Vergleichs von Kriegserlebnis und Kriegswirkung, also auch der Beseitigung der zuweilen willkürlichen Trennung der beiden Bereiche „Krieg“ und „Frieden“. Hierin darf man ohne Zweifel eine der dringlichsten Aufgaben einer erneuerten Militärgeschichte im Rahmen der Gesellschaftsgeschichte der Gewalt erblicken. Diese Erkenntnis spiegelt sich gerade auch in den einleitenden Beiträgen von Gerd Krumeich und Jost Dülffer wider, welche die „Präsenz des Krieges im Frieden“ wie auch die „mentale Verlängerung der Kriegssituation in den Friedensschluß“ hinein (so die Titelformulierungen) zutreffend problematisieren. Zum Themenspektrum der zum Teil stark kulturgeschichtlich orientierten Publikation gehört es ebenso fraglos, Deutungs- und Wahrnehmungsstrukturen, Orientierungs- und Wertmuster wie auch Gesellschafts- und Weltbilder der Betroffenen nicht nur zu untersuchen, sondern gleichzeitig in Beziehung zu deren gelebter sozialer Praxis zu setzen. Die Verbindung von Militär und Nation, respektive von Militär und Männlichkeit als Elemente zivilgesellschaftlicher Wertmuster wurden dabei ebenfalls berücksichtigt. An der Entstehung eines national aufgeladenen Soldatenbildes sowie einer militärisch geprägten Staatsbürgervorstellung hatte ja gerade auch ein bürgerliches Umfeld häufig erheblichen Anteil. Ohne die Beachtung gerade dieses Aspekts ist das Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft im Einzelfall für uns nur unzureichend zu definieren. So verwundert es kaum, in dem vorliegenden Sammelwerk Betrachtungen über „Gewalt- und Todesreflexion“ (162), die Rolle und Stellung der Kriegsveteranen, wie auch militärischer Entscheidungsträger der Vorgänge zwischen 1914 und 1918 vorzufinden. Markus Pöhlmann beispielsweise interpretiert den Krieg interessanterweise auch „als eine Form der Kulturbegegnung“, wodurch ihm quasi „interethnischer Charakter“ zukam. Neue Blickfelder werden in diesem Zusammenhang weiterhin durch die Aufsätze von Sabine Kienitz, Heinz Hagenlücke und vor allem Christoph Cornelißen vermittelt, der die spezielle Bedeutung des Kriegserlebens für die „Frontgeneration“ der deutschen Historiker gewinnbringend untersucht.

Zusammenfassend darf angemerkt werden, daß sich die vorgelegten Ergebnisse in Summe sprachlich ausgewogen und gut lesbar präsentieren. Der Band eröffnet auf hohem Niveau weitere zukunftsweisende Perspektiven der historischen Kultur- und Mentalitätenforschung.

Anmerkungen:
1 Dos Passos, John, Wilsons verlorener Friede. Wie Amerika in den Krieg gedrängt wurde, Wien 1964.
2 Vondung, Klaus (Hrsg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980.
3 Duppler, Jörg/Groß, Gerhard P. (Hrsg.), Kriegsende 1918. Ereignis - Wirkung - Nachwirkung, München 1999.
4 Ulrich, Bernd/Ziemann, Benjamin (Hrsg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1997.

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