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Titel
Digital Past. Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter


Autor(en)
Haber, Peter
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Böhler, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Die gekürzte Fassung der Habilitationsschrift des Basler Historikers Peter Haber widmet sich keinem Thema des Mainstream-Wissenschaftsbetriebs. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Diskussion darüber, welche verändernde Bedeutung der Computer für die Geschichtswissenschaft besitzt, es bis dato nur bedingt ins Rampenlicht geschafft hat. Die Unabgeschlossenheit des „digital turn“, auf die auch Haber immer wieder hinweist, erklärt hier viel. Hinzu kommt, dass der digitale Wandel als „Querschnittsmaterie“ wahrlich Herausforderungen bereithält: Fallen manche Aspekte des Themas historischen Spezialdisziplinen wie der Technikgeschichte oder Fachdidaktik zu, stellen andere nichts genuin Geschichtswissenschaftliches dar, sondern gehen vielmehr im größeren geistes- und kulturwissenschaftlichen oder auch bibliothekswissenschaftlichen Kontext auf.

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, das Thema ein- und zuzuordnen, ist der Computereinsatz in der Geschichtswissenschaft mittlerweile ein jahrzehntealtes Phänomen. In zwei Kapiteln zu Beginn werden jene unterschiedlichen Entwicklungslinien, welche in den aktuellen Dynamiken zusammenlaufen, umrissen. Am Anfang – ein erster Artikel dazu erschien 1968 in der Historischen Zeitschrift – stand der (Groß-)Rechner als Werkzeug für Quantifizierung und Textanalyse im Gefolge des Booms sozialwissenschaftlicher Methoden. 1981, mit der Markteinführung des Personal Computers (PC), beginnt laut Haber ein neuer Handlungsstrang. Im Unterschied zur Quantifizierung, die ein Minderheitenprogramm blieb, erlebte der PC als intelligente Schreibmaschine eine rasche Verbreitung. Parallel dazu existierte das Internet bereits in seinen, von der Geschichtswissenschaft noch nicht bzw. kaum genutzten, Vor- und Frühformen. Haber schildert hier, wie die Anfangserfolge, welche der Vernetzung entfernter Computer Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre zum Durchbruch verhalfen, maßgeblich von der „Killer-Applikation“ E-Mail ausgingen. Diese Möglichkeit zum schnellen, unkomplizierten Kontakt sollte es dann auch sein, die das Internet in den 1990er-Jahren in der Geschichtswissenschaft etablierte. Bezeichnenderweise handelte es sich bei den ersten historischen Projekten im Internet um Mailinglisten, die dann um Web-Auftritte ergänzt wurden. Das 1993 online gestellte H-Net stand ursprünglich für History-Net. Mit dem Computer als Kommunikationsmedium war die Geschichtswissenschaft endgültig im digitalen Zeitalter angekommen – mit weitreichenden Folgen für die Formen und Rituale der akademischen Interaktion. Unter anderem steht zur Diskussion, ob die „hervorragende Stellung des Gesprächs bei der Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis unter den Bedingungen einer zunehmend verschriftlichten Alltagskommunikation sich wird halten können“ (S. 36).

Der dringenden Frage, welche Bedeutung den zunehmend digitalen „Ordnungen des Wissens“ zukommt, widmen sich zwei weitere Kapitel. Schließlich ist von der Ablöse analoger Wissens- und der damit verbundenen Ordnungs- bzw. Erschließungssysteme nicht nur der konkrete Arbeitsvorgang des Forschens betroffen. Auch mit einer Veränderung des Resultats, der Geschichte, ist zu rechnen. Haber nähert sich diesem Thema zunächst ebenfalls von der historischen Seite, in dem er auf Bezugspunkte heutiger digitaler Wissenssysteme (zum Beispiel Wikipedia oder Weblogs) eingeht: von der verschwundenen „allwissenden“ Bibliothek von Alexandria über die egalisierende Zäsur des Buchdrucks und die Enzyklopädie als frühem Hypertext bis zu einem Abriss der kulturwissenschaftlichen Kritik des Archivbegriffs. Darauf aufbauend werden dann einzelne Problemstellungen zur Sprache gebracht: Wie steht es mit der „Archivierbarkeit“ bzw. Langzeiterhaltung des Internets und speziell des World Wide Webs (WWW) selbst? Wer ist zuständig, wie wird mit dem Problem der schieren Masse umzugehen sein? Widersetzt sich die Un-Ordnung des WWWs nicht den traditionellen „Ordnungen des Wissens“ inklusive ihrer Klassifizierungssysteme? Ist das neue „Ordnungsprinzip“ nicht vielmehr das Zusammenführen von Wissen durch Verlinkung – abrufbar per Knopfdruck?

Dieses Potenzial des WWWs schuf das Phantasma (Haber bedient sich hier Lacanscher Terminologie) universell verfügbaren Wissens. Die indessen große Lücke zwischen Anspruch und Realität nennt Haber „Google-Syndrom“. Wikipedia erscheint dabei weniger als Gegenstück denn ideale Ergänzung – geeignet die Illusion zu befördern, jegliches Wissen schnell und kostenlos konsumieren zu können. Google verdankt seinen Erfolg der Volltextsuche. Nachdem aber einschlägige Studien bestätigen, dass die menschliche Geduld im digitalen Zeitalter in der Regel nur dafür ausreicht, die ersten der gefundenen Treffer anzuschauen, entscheidet der programmierte Ranking-Algorithmus darüber, was wir finden bzw. was nicht. In den 1990er-Jahren mit viel Enthusiasmus gegründete wissenschaftliche Erschließungsdienste des WWWs – sogenannte Subject Gateways – setzten sich dennoch nicht durch. In der Praxis empfinden vor allem Studierende Google als viel nützlicher, zumal es mittlerweile auch eigens für den wissenschaftlichen Kontext geschaffene Suchmaschinen wie Google Scholar gibt. Angesichts solcher Befunde kann nicht genug betont werden, wie wichtig die Vermittlung von Informationskompetenz bei den Studierenden ist. Was es sich anzueignen gilt, erstreckt sich allerdings nicht nur auf den Umgang mit Google und den Informationsraum WWW. Die digitalen Bibliothekskataloge, die bisher zur Erschließung analoger Informationen zu verwenden waren, befinden sich in einem massiven Ausbauprozess. Zunehmend erstrecken sie sich auch auf Volltext aus lizensierten Fachdatenbanken wie Journal Storage (JSTOR) oder auch aus Google Books. Hinzu kommt die Integration interaktiver und kollaborativer Elemente des Web 2.0 (zum Beispiel Tagging). Spätestens für das neue Bibliografieren in/mit der Bibliothek 2.0 müssen auch die „alten Hasen“ in die Nachschulung.

Die beiden letzten Abschnitte fokussieren auf Quellenarbeit mit digitalem Material und auf das Schreiben von Geschichte für bzw. mit digitalen Medien. Eine Quellenkritik des Digitalen kann und muss laut Haber im Kern auf Johann Gustav Droysen und Ernst Bernheim aufbauen. Welche Netzressourcen eher zu Überrest oder eher zu Tradition (beispielsweise Wikipedia, Weblogs, Flickr) zählen, lässt sich dabei relativ leicht klären. Die Beurteilung der „Echtheit“, die Identifizierung von Original und Kopie bei digitalen Dokumenten erscheint schon schwieriger und setzt bestimmte Technologien voraus (zum Beispiel elektronische Signaturen).

Es sind die Quellen, durch die wir auf die Vergangenheit blicken. Ihre medialen Bedingtheiten korrelieren mit bestimmten Erkenntnischancen. Haber bemüht sich zwar einerseits, Traditionslinien aufzuzeigen, andererseits hängt die von ihm antizipierte neue/andere Geschichte im digitalen Zeitalter ganz wesentlich mit den neuartigen Quellen zusammen, die wir im Netz vorfinden und die neue methodische Zugänge erfordern. So führen die Transparenzbestrebungen öffentlicher Verwaltungen dazu, dass immer mehr maschinell weiterverwertbares Material in großen Dimensionen verfügbar wird (zum Beispiel Daten in Geoinformationssystemen). Der Rohdatenkorpus von „Ngram“ allerdings, einem Tool zur statistischen Auswertung und Visualisierung von Worthäufigkeiten in historischen Texten, stammt aus den Index-Datenbanken von Google Books, die Ende 2010 zwölf Prozent aller weltweit bisher publizierten Bücher indiziert hatten. Für Haber ist „Ngram“ das bis dato aufsehenerregendste Projekt einer „Data Driven History“, wie er die von ihm prognostizierte Wiederkehr der Quantifizierung unter neuen Vorzeichen nennt.

Der zweite Ursprung der neuen/anderen Geschichte im digitalen Zeitalter sind die neuen Formen der Darstellung. Dreht sich das herkömmliche Schreiben um das Zusammenbringen der einzelnen Handlungsmomente in eine kohärente, lineare Erzählung, geht es beim Schreiben von Hypertexten, die keinen Anfang und kein Ende aufweisen, um das gerade Gegenteil – um die Zerlegung des Stoffs in einzelne Inhaltselemente mit verschiedenen Verbindungen zu den anderen Textbausteinen (deren Größe laut zitierter Faustregel 2500 Zeichen nicht überschreiten sollte) und zu verschiedensten bildlichen Materialien. Visualisierungstechniken sagt Haber eine Zukunft voraus, die über das Illustrieren bzw. Verdeutlichen weit hinausgehen.

Digitale Schreibprozesse weisen aber noch andere Besonderheiten auf. Der PC hat als Schreibmaschine einmal klein angefangen. Mittlerweile eröffnen sich durch ihn neue Formen gemeinsamer Produktionsprozesse (wo jedoch transparent bleibt, was woher oder von wem stammt); das lokal installierte Textverarbeitungsprogramm hält Haber ohnedies für ein Auslaufmodell. Vorstellbar ist mittlerweile aber auch die direkte Interaktion mit der Leserschaft – etwa zum Zweck der Qualitätskontrolle ex ante (das griffige Schlagwort dazu: Peer Review 2.0). Weblogs vergleicht Haber mit dem Austausch unter KollegInnen am Rande einer Tagung. Über sie ließen sich zudem Diskussionen führen, die bisher in Fachzeitschriften stattfinden. Die Zukunft letzterer darf, wie die manch anderer Sparte der wissenschaftlichen Publizistik, ebenfalls im Digitalen vermutet werden – mit unbekannten Auswirkungen auf Konzeptionierung und Ausstattung sowie auf die Rezeption der Inhalte.

Eingangs wurden Gründe dafür genannt, warum der Großteil der historischen Zunft den Computer als Arbeitsinstrument schätzt, für die tiefer gehenden Implikationen jedoch wenig Interesse zeigt. Mitschuld an diesem Faktum dürfte die Beschaffenheit der einschlägigen Literatur sein, mit ihren vielfach ermüdenden technischen Beschreibungen von Applikationen, „aufgelockert“ durch Screenshots. Dass Haber darauf verzichtet, ist im positiven Sinne zu betonen. Sein Text ist vielmehr als eine aufeinander abgestimmte Abfolge einzelner Essays zu charakterisieren, die einen kenntnisreichen, weiten Bogen spannen. Bei aller gegebenen Lesbarkeit bleibt indessen der Verdacht, dass ein „Digital Historian“ nur sein kann, wer auch ein wenig ein „Computer Whiz“ ist – eine Voraussetzung, die nur wenige erfüllen. Deswegen das Thema auf die Ebene der Hilfswissenschaft oder der Arbeitstechniken herunterzuspielen, wäre jedoch Selbstbetrug. Davon ist man nach der Lektüre dieses Buches überzeugt.

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