Olivier Zunz u.a. (Hgg.): Social Contracts under Stress

Cover
Titel
Social Contracts Under Stress. The Middle Classes of America, Europe and Japan at the Turn of the Century


Herausgeber
Zunz, Olivier; Schoppa, Leonard; Hiwatari, Nobuhiro
Erschienen
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
$47.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Vogel, Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Humboldt-Universität zu Berlin/ Freie Universität Berlin

Passend zur international geführten Diskussion um den Rückbau der Sozialstaaten erscheint der von Olivier Zunz, Leonard Schoppa und Nobuhiro Hiwatari herausgegebene Sammelband über die Auswirkungen der gesellschaftspolitischen Veränderungen nach 1945 auf die Stellung der middle classes. Die Fragestellung selbst könnte kaum aktueller sein, geht es doch um die derzeit hitzige Reformdiskussionen hervorrufenden „sozialen Verträge“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit deren Hilfe sollten damals nicht nur die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit miteinander in Einklang gebracht werden. Auch sollten sie den allgemeinen Wohlstand auf- und damit einhergehend die herkömmlichen sozialen Unterschiede abbauen helfen, wodurch die Bevölkerungsmehrheit sich zu einer einzigen großen Mittelschicht entwickeln würde.

Der Band ist in drei Teile gegliedert. Der Fokus des ersten Teils liegt auf den nationalen Entwicklungswegen und Besonderheiten der middle classes sowie auf ihren Veränderungen nach 1945 in Europa, den USA und Japan. Im zweiten Teil wird gezeigt, dass über middle class-Institutionen, wie den Bildungs- und Arbeitsmärkten, Teilgruppen der Bevölkerung diskriminiert wurden, so z.B. Schwarze und Frauen. Im dritten Teil wird schließlich nach den Auswirkungen der Globalisierung auf die middle classes und den mit ihr verbundenen Herausforderungen gefragt.

Die durch die Effekte der Wohlfahrtsstaaten expandierenden und sich in ihrer Zusammensetzung verändernden Mittelschichten stehen im Zentrum des ersten Teils. Obwohl sich in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er-Jahren die Ideologie der nivellierten Mittelstandsgesellschaft durchgesetzt hatte und in der DDR die Existenz eines Bürgertums offiziell negiert wurde, betrachtet Hannes Siegrist gerade die Zusammenführung der gehobenen Mittelschichten beider Länder nach 1989 als problematisch. Die fast vollständige Verdrängung der Ostdeutschen aus höheren Positionen sowohl im staatlichen als auch privatwirtschaftlichen Bereich spreche für die Kolonialisierungsthese, die auch Maurice Aymard in seinem Beitrag über die osteuropäischen middle classes nach 1945 vertritt.

In Großbritannien führten ähnliche Nivellierungstendenzen nicht zur Entwicklung eines egalitären Bewusstseins. Laut Umfragen sahen sich weit mehr Briten als Arbeiter, als deren Umfang den Sozialstatistiken gemäß entsprach. Dies führt Mike Savage auf die mit Stolz betrachtete Tradition der working class zurück. Gleichzeitig erodierten Arbeiterkultur und -lebensstil, die ebenso wie die Klassengesellschaft allein auf der Identitätsebene weiterhin eine Rolle spielten. Wie bereits Dror Wahrman für die britische middle class des 18. und 19. Jahrhunderts nachgezeichnet hat, zeigt Christophe Charle, dass classe(s) moyenne(s) in Frankreich eine rein rhetorische Größe im Kampf um politische Mehrheiten darstellte, die einmal im exklusiven Singular und ein andermal im offenen Plural eingesetzt wurde. 1 Stabiler als die Rhetorik erweist sich die Sozialstruktur: Trotz des zunehmenden allgemeinen Wohlstands, so Patrick Fridenson, blieben die sozialen Abstände zwischen den Klassen in Frankreich zwischen 1945 und mindestens 1975 erhalten.

Die untrennbare Verbindung von Krisendiskurs und middle class wird in den folgenden beiden Beiträgen zu Japan und den USA hergestellt. In Japan, so Andrew Gordon, wurde die middle class seit ihrer Entstehung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einer diffusen Abstiegsangst begleitet. Der Krisendiskurs sei als Selbstvergewisserungsdiskurs einer sich fortwährend verändernden Gruppe zu verstehen. Da sich seit der Nachkriegszeit die Bevölkerungsmehrheit als middle class verstand, entwickelte sich der Krisendiskurs der middle class in den 1990er-Jahren zu einem nationalen Krisendiskurs der Japaner.

Wie Krisendiskurs und soziale Realität auseinanderklaffen können, verdeutlicht Meg Jacobs am Beispiel der USA. Ein um die Angst vor Inflation kreisender Krisendiskurs der middle class zementierte die Feindseligkeit gegenüber der organisierten Arbeiterschaft, welche über Gehaltserhöhungen an den Lebensstandard der middle class anzuknüpfen versuchte. In den Augen der middle class führte dies zur sie schädigenden Inflation. Tatsächlich blieb die Inflationsrate stabil, während der Lebensstandard der middle class sogar kontinuierlich anstieg. Die durch Umfragen dokumentierte ständige Verlustangst entbehrte somit jeglicher realer Grundlage.

Diese Darstellungen der Krisendiskurse Japans und der USA erinnern überraschend deutlich an die neuere deutsche Bürgertumsforschung, welche angeregt hat, den Krisendiskurs des Bürgertums eher als Auseinandersetzung mit Veränderung, denn als Zeichen für den Untergang der sozialen Formation zu betrachten. 2 Ebenso Kontinente verbindend scheint die Diskrepanz zwischen sozialen Phänomenen und ihrer Einschätzung durch soziale Gruppen zu sein.

Institutionen der Mittelschicht und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen stehen im Zentrum des zweiten Teils. Hier werden die Verbreitung der middle class, ihre zunehmende Homogenität und der Ausschluß von vor allem Frauen und Schwarzen bei der Umsetzung von den nominell auf Universalität ausgerichteten Politiken untersucht. Die Spannung zwischen universalistischem Anspruch und exklusiver Realität der middle class wird hier als weiteres länderübergreifendes Phänomen deutlich.

Ira Katznelson weist nach, wie die südstaatlichen Abgeordneten innerhalb der Demokratischen Partei ihre Mehrheit im Kongress ausnutzten, um jegliche Wohlfahrts- und Arbeitsmarktpolitik so auszugestalten, dass schwarze Arbeiter nicht von ihr profitieren konnten. Schwarze wurden beispielsweise in den regionalen Arbeitsbüros für Kriegsveteranen systematisch unterhalb ihrer Qualifikation eingestuft und konnten deshalb kaum von Reintegrationsmodellen für Kriegsveteranen profitieren. Die Bildungspolitik benachteiligte Schwarze und darüber hinaus auch Weiße der lower middle class, wie Margaret Weir unterstreicht. Schwarze besuchten landesweit systematisch schlechtere Schulen als weiße Schüler. Die weiße lower middle class studierte eher auf den lokalen community colleges als auf den renommierteren Universitäten. Das starke Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit verschleierte die statuszuweisende Funktion von Bildung, wie nicht nur in diesem Beitrag deutlich wird. Die über die Bildung vermittelte soziale Ungleichheit erregte erst wieder Aufmerksamkeit als die Ressourcen infolge des Abschwungs der 1980er-Jahre knapp wurden.

Die Frage von Inklusion und Exklusion ist neben den ethnischen und sozialen Trennlinien vor allem mit der Kategorie des Geschlechts verbunden. So bauten die europäischen Wohlfahrtsstaaten alle auf dem Modell der durch einen männlichen Erwerbsträger versorgten Familie auf, wie Chiara Saraceno hervorhebt. Die als abhängig definierten übrigen Familienmitglieder erhalten nur über den männlichen Ernährer Zugang zu staatlichen Leistungen. Dem Niedergang der männlichen Vollbeschäftigung, der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen, der sinkenden Kinderzahl, der wachsenden Zahl pflegebedürftiger Alter, den hohen Scheidungsraten und der damit verbundenen hohen Rate der Alleinerziehenden sei noch nicht Rechnung getragen worden. Das gleiche Problem zeigt William W. Kelly für Japan auf. Zudem wurden in den 1970er-Jahren infolge der Ölkrise Frauen zusammen mit Immigranten aus dem Arbeitsmarkt verdrängt und damit doppelt benachteiligt. Die staatliche Wohlfahrtspolitik der 1980er-Jahre begünstigte dann halbtags beschäftigte Frauen mit niedrigem Einkommen. Einkommensstarke Frauen wurden als eigenständige Personen versichert und konnten keinen Nutzen aus Gehalt oder Rente ihres Partners ziehen.

Die globalisierungsbedingten sozialen Veränderungen, welche die Spannung der sozialen Verträge der Nachkriegszeit mit verursachten, bilden den Kern des dritten Teils. Nobuhiro Hiwatari untersucht die Folgen der wachsenden internationalen Kapitalströme seit der ersten Ölkrise in der Mitte der 1970er-Jahre. Er argumentiert, dass die Regierungen Europas, Japans und der USA unter internationalem Wettbewerbsdruck ihre Inflationen niedrig halten mussten. Um dies zu erreichen, wurde auch die hohe Arbeitslosigkeit und damit einhergehend die wirtschaftliche Unsicherheit der Wähler in Kauf genommen. Der internationale Druck auf die Währungspolitik zwang auch Regierungen nach Thatcher und Reagan zu einer Politik, die den Wohlfahrtsstaat zurückdrängte. Der Einfluss starker nationaler Interessengruppen auf die Politik nahm entsprechend ab.

Leonard Schoppa überprüft die These, dass zunehmender internationaler Handel und Kapitalfluss zu einer Umverteilung von Einkommen in industrialisierten Ländern führen. Er vergleicht drei Länder bzw. Regionen, die auf je unterschiedliche middle class- Verträge gesetzt haben: Die Konsumförderung in den USA und Großbritannien, die Wohlfahrtsstaaten der kontinentaleuropäischen Länder und Japans Pfad der öffentlich-privaten Kooperation. Zwar wurden alle drei Wege der Wohlstandssicherung durch wachsende Einkommensscheren unter Druck gesetzt. Doch die kontinentaleuropäischen Wohlfahrtssysteme federten bislang erfolgreicher als die anderen Länder die Folgen der Globalisierung ab, gemessen an Einkommensunterschieden.

Trotz der breiten Länderauswahl zeigt der vorliegende Sammelband überraschend viele Gemeinsamkeiten und Parallelen hinsichtlich der Entwicklung der middle classes in Europa, USA und Japan. Vor allem die Parallelen zwischen Japan und Deutschland bzw. Kontinentaleuropa hinsichtlich der Wohlfahrtsstaaten und ihrer Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis, die Krisendiskurse der middle classes in allen besprochenen Ländern und deren ähnliche Bewertung als Verarbeitungsmechanismen sozialen Wandels sind frappierend. Gleichzeitig können die Besonderheiten einzelner Länder, so der partielle Ausschluss der schwarzen Bevölkerung aus den sozialen Verträgen der USA, dazu anregen, das Thema in Europa und Asien unter Einschluss der Einwanderungspopulationen zu betrachten.

Die Vergleichsmöglichkeiten zwischen den zahlreichen Ländern sind leider dadurch beschränkt, dass keine gemeinsame Definition von middle class durchgehalten wird. Manche der Autoren legen ihre Definition offen (Siegrist und Savage) bzw. differenzieren innerhalb der middle class (Weir). Andere bleiben eine Defnition schuldig (Saraceno, Hiwatari). Dies ist besonders problematisch, da middle class sowohl die gehobenen Schichten als auch die breite Mittelschicht bezeichnen kann. Eine so breit angelegte Kategorie muss vage bleiben und blendet große Statusunterschiede innerhalb der middle classes aus, so dass eine Aussage über deren Identität nicht mehr möglich scheint. Um die Ergebnisse aus so verschiedenen Ländern alle aufeinander beziehen zu können, wäre eine präzisere Definition nötig gewesen.

Ein die vielfältigen und interessanten Ergebnisse aufeinander beziehendes Schlusskapitel hätte es dem Leser schließlich erleichtert, vergleichende Schlüsse zu ziehen. So liegen schließlich eine Anzahl von aufschlussreichen Länderstudien vor, und einige wenige Einblicke in transnationale Phänomene, jedoch kaum Transfers oder Vergleiche. Die Leistung des ambitionierten Bandes besteht neben den Ergebnissen der Einzelbeiträge darin, das Phänomen der sich nach 1945 verändernden Mittelschichten in einer so breiten Palette von Ländern zusammenzubringen und den nationalen oder europäischen Fokus zu erweitern.

Anmerkungen:
1 Wahrman, Dror, Imagining the Middle Class. The Political Representation of Class in Britain, c. 1780-1840, Cambridge 1995.
2 So wurden verschiedene bürgerliche Krisendiskurse als innerbürgerliche Auseinandersetzung (Manfred Hettling), als Aushandlung bürgerlicher Werte (Christina von Hodenberg) und als Selbstverständigung und Orientierung in Zeiten des Umbruchs (Hannes Siegrist) bezeichnet. Siehe Hettling, Manfred‚Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung‘, in: Ders.; Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 57-78, hier S. 75-77; von Hodenberg, Christina‚Der Fluch des Geldsacks. Der Aufstieg des Industriellen als Herausforderung bürgerlicher Werte‘, in: Ebd., S. 79-104, vor allem S. 87, 103, und Siegrist, Hannes‚Bürgerlichkeit und Antibürgerlichkeit in historischer Perspektive‘, in: Meuter, Günter; Otten, Henrique Ricardo (Hgg.), Der Aufstand der Bürger: antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 35-50, hier S. 43.

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