Pinch, Trevor; Bijsterveld, Karin (Hrsg.): The Oxford Handbook of Sound Studies. . Oxford 2012 : Oxford University Press, ISBN 978-0195388947 593 S. € 112,99

Feiereisen, Florence; Hill, Alexandra Merley (Hrsg.): Germany in the Loud Twentieth Century. An Introduction. Oxford 2012 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-975938-5 XIII, 184 S. £ 15.99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Handbücher und Einführungen können gemeinhin als Zeichen der Wissenskonsolidierung gelten. Sie systematisieren und kategorisieren gesichertes Wissen aus einzelnen Forschungsfeldern und bereiten es so auf, dass es nicht zuletzt auch in der akademischen Lehre einfacher vermittelt werden kann. Insofern lässt es aufhorchen, wenn Oxford University Press in seiner renommierten Handbuchreihe dieses Frühjahr ein „Oxford Handbook of Sound Studies“ veröffentlicht und zeitgleich eine Einführung in die deutsche Klanggeschichte des 20. Jahrhunderts auf den Markt bringt. Sind die Sound Studies bzw. ist die Sound History tatsächlich schon reif für Handbücher und Einführungen? Einerseits ist es zwar durchaus so, dass die kultur- und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Hören und den Klängen, die in der deutschen Geschichtswissenschaft erst seit Kurzem an Aufmerksamkeit gewonnen hat, im englischen Sprachraum und in anderen Disziplinen schon seit Längerem betrieben wird.1 Andererseits lässt sich aber auch in diesem weiteren Kontext noch nicht wirklich von einer Wissenskonsolidierung sprechen. Das liegt nicht zuletzt am multidisziplinären Charakter der Sound Studies, in deren Rahmen Musik-, Medien-, Technik-, Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zwar durchaus miteinander reden, dabei aber häufig noch unterschiedliche Fragen stellen und unterschiedliche Methoden und Begriffe in Anschlag bringen.

Kann das „Oxford Handbook of Sound Studies“ dazu beitragen, dieses interdisziplinäre Feld zu ordnen und seine Methoden und Begriffe zu systematisieren? Die Herausgeber Trevor Pinch und Karin Bijsterveld, beide aus den Science and Technology Studies (STS) stammend, geben in ihrer Einleitung einen konzisen und informativen Überblick über die Entwicklung dieses Feldes in den letzten Jahren. Sie legen dabei aber explizit den Fokus auf „science, technology, and medicine as the keys to unlock the worlds of sound“ und geben freimütig zu: „we do not claim that this book fully covers ‚sound studies’“ (S. 6). Das Handbuch ist zudem nicht wie ein typisches Handbuch aufgebaut mit Überblicksartikeln zu einzelnen Subfeldern, Epochen, Methoden oder Begriffen. Stattdessen versammelt es in klassischer Sammelbandmanier Forschungsaufsätze zu einzelnen Themen und Gegenständen, die in sieben Sektionen zu je drei oder vier Aufsätzen versammelt sind. Wie in der Einleitung angekündigt, konzentrieren sich die Beiträge dabei auf die Felder der Technik-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte bzw. -forschung, wobei mit Technikgeschichte auch die Geschichte der Audiomedien und ihrer Auswirkungen zum Beispiel auf Praktiken der Musikproduktion und -konsumption gemeint ist.

Die Beiträge sind durchweg gut geschrieben und bewegen sich auf hohem Niveau. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive sind vor allem die Beiträge mit historischem Schwerpunkt interessant. Dazu zählt etwa der Aufsatz von Mark M. Smith, der am Beispiel der amerikanischen Frühindustrialisierung und des Umgangs der neu-englischen Textilarbeiterinnen mit dem Lärm der mechanisierten Textilproduktion die berühmte Metapher von der „Machine in the Garden“ (Leo Marx) problematisiert. Die Industrialisierung wurde nicht einfach als Einbruch der lauten Technik in die bukolische Stille wahrgenommen, so Smith, sondern der durch die Industrialisierung hervorgerufene sensorische Wandel wurde von den Arbeiterinnen in ganz unterschiedlicher und nicht immer konfliktträchtiger Weise in ihr Wahrnehmungs- und Sinnessystem eingebaut. Mit dem Industrielärm beschäftigt sich auch Hans-Joachim Braun, der die bisher kaum untersuchte Geschichte des betrieblichen Lärmschutzes im Deutschland des 20. Jahrhunderts behandelt. In den Sektionen zur Wissenschaftsgeschichte setzen sich Joeri Bruyninckx und Julia Kursell mit dem Einsatz des Phonographen in wissenschaftlichen Experimenten und Feldforschungen des frühen 20. Jahrhunderts auseinander, während etwa Myles W. Jackson die Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente der Tonregulierung des 19. Jahrhunderts, wie der Stimmgabel und des Metronoms, zu Musikinstrumenten des 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Im Abschnitt zur Medizin behandelt Hillel Schwartz die unter anderem von Florence Nightingale im 19. Jahrhundert vorangetriebene akustische Befriedung von Krankenhäusern, während sich die Beiträge von Tom Rice zur Praxis der Auskultation (also des medizinischen Abhorchens des Körpers) und von Mara Mills zur Auseinandersetzung um künstliche Ohrimplantate vornehmlich auf die Gegenwart beziehen. Auch die Beiträge in den Sektionen zum sound editing und zum technischen Umgang mit Musik und Tonspeicherung sind vornehmlich gegenwartsbezogen. Als historisch besonders interessant hervorzuheben sind hier allerdings die Beiträge von Timothy D. Taylor zur Domestizierung elektronischer Musik in US-amerikanischen Werbefilmen der 1960er- und 1970er-Jahre, von Andreas Fickers zur Visualisierung des Radiohörens durch die Einführung der Stationsskalen in den 1930er-Jahren und von Trever Hagen und Tia DeNora zu nicht-offiziellen Musikpraktiken in Ungarn und der Tschechoslowakei von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre.

In ihrem Abschlussbeitrag zur Geschichte der Sonifikation (also der Transformation nicht-akustischer Daten in Klänge) gehen Jonathan Sterne und Mitchell Akiyama auf die Aufzeichnungen des Phonautographen aus den 1860er-Jahren zurück. Der Phonautograph diente – anders als der 20 Jahre später entwickelte Phonograph von Thomas A. Edison – nicht der Aufnahme und Wiedergabe von Klang, sondern nur der selbsttätigen Aufzeichnung von Klängen auf Papier. 2008 wurden diese Phonautographien jedoch mithilfe digitaler Technik erstmals auch zum Klingen gebracht, was Sterne und Akiyama dazu veranlasst, die Grenze „between the sonic and the nonsonic“ (S. 547) zu problematisieren und somit auch die Frage nach der Einheit des Untersuchungsgegenstands „Sound“ neu zu stellen. Damit adressieren Sterne und Akiyama abschließend grundsätzliche Fragen der „sound scholarship“ (ebd.). Auch in anderen Beiträgen, wie etwa dem von Mark M. Smith, geschieht das am Rande.

Leider findet in dem Handbuch aber keine systematische Auseinandersetzung mit Theorie- oder Methodenfragen statt. Die einzelnen Beiträge bieten faszinierende Einblicke in einzelne Forschungsgebiete und Gegenstände der Sound Studies, sie liefern aber keinen Überblick und keine systematisierende Zusammenschau etwa der unterschiedlichen disziplinären oder methodischen Ansätze innerhalb der Sound Studies. Der Band erfüllt daher die Erwartungen an ein Handbuch nur bedingt, auch wenn er als Sammelband höchst informativ und anregend zu lesen ist.

Ähnliches lässt sich auch von dem Sammelband „Germany in the Loud Twentieth Century“ sagen: Als Aufsatzsammlung ist er ebenfalls anregend zu lesen, die Erwartungen an eine Einführung erfüllt er jedoch nicht. Dabei geben sich die Herausgeberinnen Florence Feiereisen und Alexandra Merley Hill durchaus Mühe, die Kohärenz der Beiträge durch überleitende Zwischentexte zu erhöhen und dem Sammelband durch eine das Buch begleitende Website mit Übungsaufgaben und weiterführenden Hinweisen zu den einzelnen Beiträgen den Charakter eines in der Lehre einsetzbaren Textbook zu geben.2 Ihre Einleitung ist jedoch weniger konzise als die von Pinch und Bijsterveld. Die in den USA lehrenden Germanistinnen Feiereisen und Hill sprechen unterschiedliche Ansätze und Fragestellungen aus dem Kontext der Sound Studies an, können dabei aber nicht wirklich deutlich machen, was mit der zentralen Frage des Bandes: „what does Germany sound like?“ (S. 12) genau gemeint sein soll. Folglich wird diese Frage von den Herausgeberinnen ebenso wenig beantwortet wie von den übrigen Autorinnen und Autoren des Bandes. Diese beschäftigen sich stattdessen mit so unterschiedlichen Themen wie (in der Reihenfolge des Bandes) den Antilärmbemühungen des frühen 20. Jahrhunderts (John Goodyear), dem akustisch Unbewussten bei Günter Eich (Robert G. Ryder), der auditiven Wahrnehmung im Ersten Weltkrieg (Yaron Jean), Raumakustik und Architektur (Sabine von Fischer), Klang und Raum in Wolfgang Hilbigs Roman „Das Provisorium“ (Curtis Swope), der auditiven Erinnerung an Ost- und West-Berlin (Nicole Dietrich), der Musikpolitik in der frühen DDR (David Tompkins), der akustischen Überwachung in „Das Leben der Anderen“ (Christine Lenk), der Geschichte der Klangkunst (Brett M. Van Hoesen und Jean-Paul Perrotte) und der Identitätspolitik im deutschen Hip-Hop (Maria Stehle).

Die einzelnen Beiträge sind dabei von unterschiedlicher Qualität, zumeist aber mit Gewinn zu lesen. Aus zeithistorischer Perspektive besonders interessant ist etwa der Beitrag von Yaron Jean über die „sonic mindedness“ im Ersten Weltkrieg, in dem er die unterschiedlichen akustischen Kampferfahrungen im Schützengraben, im U-Boot-Krieg und im Luftkrieg rekonstruiert. David Tompkins beschränkt sich in seinem kurzen Beitrag zur DDR leider weitgehend auf die offizielle Musikpolitik der SED, ohne zu überprüfen, inwieweit deren propagandistische Ansprüche tatsächlich eingelöst worden sind. Daneben sind aber auch germanistische Beiträge wie der Robert G. Ryders über Günter Eichs Hörspiel „Träume“ von 1951 und dessen Einordnung in die Psychologie des Radiohörens zeithistorisch ertragreich. Die Radiojournalistin Nicole Dietrich hat Ost- und Westberlinerinnen und -berliner über ihre unterschiedlichen Klangerinnerungen an die Zeit vor dem Mauerfall befragt und rekonstruiert in überzeugender Weise die Bedeutung dieser Erinnerungen für die Selbstwahrnehmung als „Ossi“ oder „Wessi“, aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West in der auditiven Erfahrung der Teilung.3 Insgesamt entsteht aus diesen unterschiedlichen Beiträgen aber keine Einführung in die Klanggeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert (von dem auch nicht geklärt wird, inwiefern es besonders „laut“ gewesen sei, wie der Titel behauptet). Das liegt nicht nur daran, dass viele denkbare Themen und Aspekte unbehandelt bleiben (was bei Sammelbänden in der Regel immer eine müßige Kritik ist), sondern vor allem daran, dass kein klarer analytischer Rahmen entworfen wird, wie eine solche deutsche Klanggeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt zu konzeptualisieren wäre.

Von dieser Kritik bleibt das „Oxford Handbook of Sound Studies“ unberührt, da Pinch und Bijsterveld in ihrer Einleitung keine ähnlich weitreichenden und dann unbeantwortet bleibenden Fragen aufwerfen wie Feiereisen und Hill. Letztlich fällt das Fazit für beide Bände aber ähnlich aus: Sie enthalten beide eine Vielzahl anregender und zum Teil hervorragend geschriebener Beiträge, die unterschiedlichste Einblicke in das aktuell prosperierende Forschungsfeld der Sound Studies bzw. der Sound History geben. Sie erfüllen aber letztlich beide nicht die Erwartungen an ein Handbuch bzw. an eine historische Einführung. Das ist nicht notwendigerweise ein Mangel. Es zeigt lediglich, dass das Feld der historisch orientierten Sound Studies eben doch noch nicht ins Stadium der handbuch- und einführungsgestützten Wissenskonsolidierung eingetreten ist. Oder um es mit den Worten von Hans-Joachim Braun aus seinem Handbuchbeitrag zu sagen: „much work remains to be done“ (S. 76).

Anmerkungen:
1 Vgl. für die deutsche Geschichtswissenschaft Jan-Friedrich Mißfelder, Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 21-47; Daniel Morat, Zur Geschichte des Hörens. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 695-717; Jürgen Müller, „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, in: Historische Zeitschrift 292 (2011), H. 1, S. 1-29; für die schon ältere Sound History im englischsprachigen Raum stellvertretend nur Mark M. Smith (Hrsg.), Hearing History. A Reader, Athens 2004; für die gestaltungsorientierten Sound Studies Holger Schulze (Hrsg.), Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008.
2 Vgl. die Oxford University Press-Begleitwebsite zu „Germany in the Loud Twentieth Century“, <http://www.oup.com/us/companion.websites/9780199759385/> (31.10.2012). Auch für das „Oxford Handbook“ gibt es eine begleitende Internetseite mit Hörbeispielen und weiterführenden Links, die aber leider schlecht an das Buch angebunden ist (in den einzelnen Kapiteln fehlen zum Beispiel Hinweise auf die im Internet zur Verfügung gestellten Tondokumente) und zum Teil bereits veraltete oder inaktive Links enthält; vgl. die Oxford University Press-Begleitwebsite zum „Oxford Handbook of Sound Studies“, <http://www.oup.com/us/companion.websites/9780195388947/?view=usa> (31.10.2012).
3 Leider findet sich auf der Internetseite zum Band kein Link zu den Radiobeiträgen von Nicole Dietrich. Teile der von Dietrich in ihrem Beitrag verwendeten Interviews lassen sich aber hier hören: N\osztalgia Encyclopedia, <http://www.nosztalgia.net/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=17&Itemid=39mp;Itemid=39> (31.10.2012).

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