M. Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik

Titel
NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935-1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland


Autor(en)
Jonas, Michael
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Göttingen 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
S. 687
Preis
€ 74,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Manfred Menger, Sundhagen

Das Buch beruht auf einer von finnischen Historikern angeregten und betreuten, 2009 in Helsinki verteidigten Dissertation. Die voluminöse, auch in finnischer Übersetzung erschienene Schrift bietet eine politische Biographie Wipert von Blüchers (1883-1963) für die Zeit seines Wirkens als Deutscher Gesandter in Helsinki (1935-1944) im Kontext deutscher Finnlandpolitik.

Man nimmt das Werk mit Interesse, aber auch mit einer Portion Skepsis zur Hand. Der Name W. von Blücher ist in Finnland nicht nur Historikern vertraut. Und was angesichts der Stellung Blüchers als langjähriger Repräsentant Nazideutschlands in Helsinki noch erstaunlicher erscheinen mag – sein Name hat in seinem einstigen Gastland bis heute insgesamt einen bemerkenswert guten Klang. Dazu hat vieles beigetragen, darunter nicht zuletzt auch das von dem „Gesandten zwischen Diktatur und Demokratie“ zielbewusst lancierte Selbstbildnis über sein Wirken und Wollen in Helsinki. Seine Memoiren fanden in den 1950er-Jahren in der finnischen Öffentlichkeit eine erhebliche Resonanz und wirkten auch nachhaltig auf das finnische Geschichtsbild.

Jonas verdeutlicht den Grundtenor seiner Einschätzung Blüchers schon in der Einleitung. Für ihn gehörte der Gesandte zweifelsfrei zu der „nicht unbeträchtlichen Anzahl von Berufsdiplomaten“, die sich, wenn auch in der Regel vergeblich, bemühten, an den Konventionen und Traditionen ihrer Profession festzuhalten und sich so dem Totalitätsanspruch des NS-Regimes zu entziehen. (S. 18) Verfügte das tief in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickte Auswärtige Amt aber tatsächlich über eine beträchtliche Anzahl derartiger Beamter? Und vor allem: Ist es wirklich zutreffend, dass Blücher, der seinen Posten als Missionschef in einem für das „Dritte Reich“ zumindest seit Beginn der „Barbarossa“-Planungen äußerst wichtigen Land fast ein Jahrzehnt, also ungewöhnlich lange, behaupten konnte zu dieser Riege gehörte?

Die erste Frage kann Jonas verständlicherweise nicht definitiv beantworten. Was aber die Rolle Blüchers betrifft, so wird dem Leser sehr bald bewusst, dass der Autor nichts auf einfache Formeln bringt, sondern durch gründliche Recherchen und differenzierte Wertungen überzeugt. Die Arbeit erfasst viele Vorgänge bis ins letzte Detail, beeindruckt durch eine profunde Kenntnis der für die Thematik relevanten Quellen und Literatur, hat Überlänge, ist aber dennoch gut lesbar und übersichtlich gegliedert.

In den ersten Kapiteln werden der familiäre Hintergrund, der Bildungsgang, die ersten Jahrzehnte der diplomatischen Karriere Blüchers, seine Gefühlswelt und politische Mentalität sowie sein Verhältnis zum Nationalsozialismus erörtert. Die sich der biographischen Einbettung anschließenden Kapitel folgen weitgehend der chronologischen Entwicklung des deutsch-finnischen Verhältnisses. Sie markieren dessen wichtigste Zäsuren (Vorkriegszeit, Winterkrieg 1939/40, Genesis der deutsch-finnischen Militärallianz 1940/41, Periode weitgehend ungetrübter „Waffenbrüderschaft“ 1941/42, Bündniskrise 1943, Agonie der Beziehungen 1944) und verdeutlichen die jeweils relevanten Probleme der bilateralen Beziehungen und Aktionen des Gesandten.

Jonas charakterisiert Blücher als Musterbild eines Karrierediplomaten der alten Schule. Der national-konservativ eingestellte, in seiner Gefühlswelt und politischen Disposition dem wilhelminischen Kaiserreich verhaftete Beamte soll nach 1933 vor allem aus „übersteigerten Pflichtgefühl“ (S. 622) widerwillig, doch im Grunde loyal im Amt verblieben sein. Er war, wie von Jonas in Auseinandersetzung mit Blüchers nachträglicher Selbststilisierung, nachgewiesen wird, kein opponierender Regimegegner, missbilligte kategorisch den auf gewaltsamen Umsturz zielenden Widerstand, hat aber, häufig in Anlehnung an die finnische Sicht, wiederholt Standpunkte vertreten und Konzeptionen entworfen die dem offiziellen Kurs der NS-Führung zuwiderliefen. Diese von Jonas unter dem Schlüsselbegriff systemimmanenter Alternativpolitik subsumierten eigenen politischen Ansätze und Konzepte verdeutlicht der Autor besonders überzeugend an der dezidiert kritischen Position Blüchers, seiner „kategorischen Opposition“ (S. 185), gegenüber dem aus seiner Sicht völlig verfehlten deutschen Kurs während des finnisch-sowjetischen Winterkrieges sowie an dessen von der Historiographie bisher kaum zur Kenntnis genommenen nordeuropapolitischen Vorstellungen. Diese besaßen vor allem im Hinblick auf die besetzten westskandinavischen Staaten tatsächlich uneingeschränkt alternativpolitischen Gehalt, waren unvereinbar mit der dort praktizierten Gewalt- und Okkupationspolitik und unterschieden sich deutlich von den gängigen Dogmen der nazistischen Nordeuropa-Ideologie. Nachdrücklich hervorgehoben wird in der Arbeit auch Blüchers vorsätzliche Distanz zu den am Rande des politischen Geschehens agierenden finnischen Faschisten, ebenso sein Bemühen, einem Übergreifen der NS-Judenverfolgung auf Finnland vorzubeugen sowie sein generelles Bestreben, zur Vermeidung kontraproduktiver Verwerfungen im bilateralen Verhältnis finnischen Empfindlichkeiten und Realitäten möglichst Rechnung zu tragen.

In der Quintessenz zielten die politischen Ansätze und Bestrebungen des couragierten, selbstbewussten Diplomaten nach der Interpretation des Autors auf die Wiederherstellung und den vorsichtigen, international verträglichen Ausbau der im Gefolge des Ersten Weltkrieges verlorengegangenen Hegemonialstellung des Deutschen Reiches im Ostseeraum. Dabei sollte die Selbständigkeit der betroffenen Staaten respektiert und auf eine Einmischung in deren innere Angelegenheiten weitgehend verzichtet werden. Was an dieser grundsätzlich gut belegten Einschätzung namentlich auch im Hinblick auf Finnland allerdings mehr irritiert als überzeugt ist der wiederholte Hinweis, dass Blüchers chancenlose Visionen einer moderaten Hegemonialpraxis auf die spätwilhelminische Tradition deutscher Großmacht- und Außenpolitik zurückgingen. Mit anderen Worten: Auf ein Periode deutscher Finnlandpolitik in der die Finnen zwar in ihren Bestreben um nationale Unabhängigkeit von Russland unterstützt wurden, aber in der Endkonsequenz deutschen Begehren und Machtambitionen im höchsten Grade ausgeliefert waren.

Die in verschiedener Hinsicht von den Paradigmen der NS-Außenpolitik abweichenden Haltung des Gesandten brachte ihn mehrfach in direkten Gegensatz zu Ribbentrop, der wiederholt in Betracht zog, Blücher von seinem Posten abzuberufen. Warum es letztlich doch nicht dazu kam wird in der Arbeit hinreichend geklärt. Der Gesandte verdankte die Stärke seiner Position unter anderem seinem erheblichen Rückhalt in finnischen Führungskreisen, seiner überzeugenden Rolle als Transformator zwischen Berlin und Helsinki, ferner der Tatsache, dass die bilateralen Beziehungen längere Zeit von Konsens und Entgegenkommen geprägt waren. Vor allem aber fiel ins Gewicht, dass sich Blücher trotz seines politisch-ideologischen Dissenses mit dem System einer zumindest partiellen, wenn nicht sogar weitgehenden Vereinnahmung durch das Regime nicht entziehen konnte und sein politisches Handeln prinzipiell an der tatsächlichen oder vermeintlichen deutschen Interessenlage orientierte. Sobald er (oder auch sein oberster Auftraggeber) diese gefährdet sah, hatte Blücher, entgegen der von ihm besonders in der Rückschau kreierten selbstlosen Politik der Nichteinmischung keine Skrupel, auch mit harten Bandagen in Belange seines Gastlandes einzugreifen. Jonas belegt das schlüssig, wenn auch ohne verbale Schärfe und mitunter relativierend, an der üblen Rolle des Gesandten beim Sturz des Berlin nicht genehmen finnischen Außenministers R. Holsti im Herbst 1938 sowie an Blüchers Verhalten in der Phase finnischer Absetzbewegungen. Der Missionschef wurde nun zum entschiedensten Fürsprecher ökonomischer Erpressung Finnlands und zog pflichtgemäß sämtliche Register, um die maßgeblichen Männer der finnischen Politik zu einer Haltung zu veranlassen, die ihr Land in die totale Katastrophe geführt hätte. Schließlich operierte er auch uneingeschränkt mit dem Kampfbegriff vom Verrat Finnlands am deutschen Waffenbruder.

Jonas bewahrt die Grenze zwischen kritischer Würdigung und Verklärung seines Protagonisten und gewinnt über die politische Biographie Blücher einen neuen Zugang zum Verständnis deutscher Finnlandpolitik. Obwohl der Fokus vor allem auf Blüchers Wahrnehmung und Handeln gerichtet ist, bietet das Buch zugleich eine ausgezeichnete Analyse der deutsch-finnischen politischen Beziehungen vor dem und im Zweiten Weltkrieg. Neben erstmals von ihm erschlossenen Quellen und der Memoirenliteratur kommt Jonas dabei der Ertrag der seit einem halben Jahrhundert erbrachten einschlägigen finnischen, anglo-amerikanischen und deutschen Forschungen zugute. Er versteht seine Arbeit als postideologische Betrachtung, setzt sich - fast immer sachlich korrekt - mit teilweise auf politische Zwänge und Rücksichtnahmen zurückzuführende Schwächen früherer Untersuchungen auseinander, vermerkt und würdigt aber zugleich jede für seine Thematik wichtige Erkenntnis anderer Forscher. Alles in allem: Das Buch zeugt von einer hohen Qualifikation, einer bemerkenswerten Wortgewandtheit und wissenschaftlicher Redlichkeit. Vom dem jungen Autor ist nach so einem Debüt noch viel zu erwarten.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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