M. Schärtl: „Nicht das ganze Volk will, dass er sterbe“

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Titel
„Nicht das ganze Volk will, dass er sterbe“. Die Pilatusakten als historische Quelle der Spätantike


Autor(en)
Schärtl, Monika
Reihe
Apeliotes 8
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 65,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Es wurden Akten, in ihrer äußeren Gestalt gleich wie bei Pilatus über unseren Erlöser, erdichtet, in denen alle Lästerungen gegen Christus aufgezeichnet wurden. Er (Maximinus Daia) befahl durch ein erlassenes Edikt, diese Akten in alle Provinzen seines Reiches zu versenden und sie in den einzelnen Städten, Dörfern sowie auch den Landgütern zu publizieren und durch die Lehrer auch den Schülern zu vermitteln, damit statt dem, was sie ansonsten zur Einübung und zum Auswendiglernen wiederholt vorzusagen pflegten, die Gedächtnisse der Schüler diese (Akten) als Anvertrautes von sich gäben.“1 Diese Passage aus Rufinus dürfte die erste mit dem Begriff der Pilatusakten verbundene Assoziation sein. Tatsächlich aber sind die Akten Teil eines apokryphen Evangeliums, welches den Prozess Jesu (Pilatusakten), die folgende Sitzung des Hohen Rates (Nikodemusevangelium) und die „Höllenfahrt Christi“ schildern. Die Dissertation von Monika Schärtl, welche die beiden ersten Teile analysiert, stellt dazu – abgesehen von Shannons Masterarbeit2 – die erste ausführliche Studie seit der von Lipsius aus dem Jahre 1886 dar.3

In der Einführung referiert Schärtl den Forschungsstand4 (S. 12–14) und ihre Zielsetzungen (S. 14–16), welche in Datierung, Quellenkritik, formaler und inhaltlicher Erarbeitung sowie Exegese des Textes bestehen. Zunächst führt sie eine formale Analyse durch, in der sie die handschriftliche Überlieferung skizziert (S. 17–19) und nach Sammlung der möglichen Testimonien auf Basis der Nichterwähnung der Pilatusakten durch Eusebios und ihrer Nennung bei Epiphanios (Panarion 50,1,5 und 8) eine erste Datierung in die Zeit zwischen 340 und 375 vornimmt (S. 19–28). Daraufhin folgt eine Analyse des Prologes (S. 29–46): Schärtl sieht hier den als Verfasser bzw. Übersetzer angegebenen Gardisten Ananias als historisch an und datiert den Prolog in den Zeitraum zwischen September 425 und September 426. Danach bietet Schärtl einen Abriss zur Christianisierung des Reiches (S. 47–55) sowie zu Judentum und Antijudaismus der Spätantike (S. 56–64). Insbesondere beim ersten Teil handelt es sich um eine reine Kompilation von Grundwissen aus den wichtigsten Überblickswerken, die nicht nur im Hinblick auf die weitere Arbeit kaum von Nutzen, sondern auch alles andere als frei von Fehlern ist.5 Es wäre daher wohl sinnvoller gewesen, wichtige Elemente zum historischen Hintergrund an relevanter Stelle in den Text einzubinden.

Es folgen die eigentliche Analyse des Textes mit Übersetzung und Kommentierung der einzelnen Passagen der Pilatusakten (S. 65–157) sowie eine vergleichende Untersuchung der Rezensionen Griechisch A und B (S. 159–165). Die im Kommentar präsentierten Einzelergebnisse gehen indes oft nicht oder nur wenig über die frühere Forschung hinaus. Zwei Ergebnisse sind hervorzuheben: die Sammlung von Hinweisen für die angenommene Datierung in die Zeit Julians, worauf zurückzukommen sein wird, und eine Reihe von sinnvollen Modifikationen der Übersetzung von Felix Scheidweiler.6

Das letzte große Kapitel untersucht die Pilatusakten als historische Quelle zur Spätantike. In der Frage nach Umfang und Autorschaft der einzelnen Teile (S. 167–175) kommt Schärtl zu dem Schluss, dass die ursprünglichen Pilatusakten aus den Kapiteln 1–11 und 13,1–2 ohne 4,2 und 5 und das ursprüngliche Nikodemusevangelium aus den Kapiteln 12–16 ohne 13,1–2 bestanden. Als Verfasser sei für die judenfeindlichen Pilatusakten ein (heiden)christlicher Autor mit prorömischem Standpunkt aus der Zeit Julians und für das Nikodemusevangelium ein judenchristlicher Autor ungewissen Datums anzusehen. Als Adressaten der Pilatusakten betrachtet Schärtl sowohl Heiden als auch Christen; der Autor habe als Reaktion auf Maximinus Daias Pilatusakten den christlichen Glauben verteidigen wollen. Das Nikodemusevangelium sei dagegen an ein zu bekehrendes jüdisches Publikum gerichtet (S. 176–188). Zudem untersucht Schärtl eine Reihe von weiteren formellen Teilaspekten der Pilatusakten, so ihre Einordnung in das römische Prozessrecht (S. 189–206), den Kontext der Anklagen in der Spätantike (S. 206–219) sowie einige Detailfragen (S. 219–242) wie beispielsweise die Vergleichbarkeit mit Märtyrerakten (S. 229–232). Auch analysiert sie die Rolle der verschiedenen Religionen in den Pilatusakten, die des Christentums (S. 243–256) und des Judentums (S. 257–272), den Konflikt zwischen Christen und Heiden (S. 273–296) und die Bedeutung des Alten Testamentes (S. 297–307). Den Abschluss bildet ein Abriss zur Rezeption der Pilatusakten und der Höllenfahrt Christi (S. 308–316). Da gerade dieses Kapitel insgesamt gelungen ist und sich hierzu bereits eine Reihe von Vorarbeiten findet7, eine systematische Bearbeitung jedoch bislang fehlt, wäre eine entsprechende Schwerpunktsetzung ohne Zweifel ein lohnendes Unterfangen gewesen. Es folgen der Schluss (S. 317–321) und der Text der Pilatusakten in der überarbeiteten deutschen Übersetzung (S. 323–340).

Eine besondere Diskussion verdient Schärtls Datierung der Pilatusakten, die sie zwischen 340 und 375 verortet. Das jedoch ist alles andere als sicher. So fällt auf, dass auch Rufinus, der Übersetzer und Continuator des Eusebios, an der oben zitierten Stelle die „echten“, christlichen Pilatusakten nicht erwähnt. Sollte Rufinus, der sich eigener Zusätze zu Eusebios’ Text keineswegs enthält8, an einer derart exponierten Stelle die laut Schärtl seit mindestens zwei Jahrzehnten bekannten und gegen Maximinus Daia gerichteten Pilatusakten unerwähnt lassen? Dies ließe sich nur erklären, wenn die Pilatusakten gerade nicht eine Reaktion auf Maximinus Daias „Schulgesetz“ bildeten; dann aber fällt Eusebios als Argument weg. Auch der terminus ante quem ist problematisch, da bezweifelt werden kann, ob Epiphanios wirklich die überlieferten Pilatusakten meint. Es dürfte kaum davon auszugehen sein, dass die Schulpolitik des Maximinus Daia nur eine einzige Version „echter“ Pilatusakten als Gegenmaßnahme hervorgerufen hat, zumal sich die erhaltenen Pilatusakten gerade nicht – wie zu erwarten wäre – gegen die Heiden, sondern gegen die Juden richten und sogar eine heidenfreundliche Tendenz aufweisen. Wie aber sollte dies mit der Absicht einer Schrift gegen ein christenfeindliches Schulgesetz, das von Heiden erlassen und getragen wurde und in dem die Juden keine Rolle spielten, vereinbar sein? Somit könnte Epiphanios auch ein anderes, nicht erhaltenes Werk, das vielleicht tatsächlich eine Kampfschrift gegen Maximinus Daia war, meinen, zumal er von mehreren Fassungen der Pilatusakten spricht, wie Schärtl selbst erkennt (S. 45). Es spricht nichts gegen eine Abfassung der Akten im 4. Jahrhundert, doch ist dies nicht endgültig beweisbar.

Weiterhin will Schärtl die Pilatusakten in die julianische bzw. die unmittelbar nachjulianische Zeit datieren; sie seien eine Reaktion auf dessen Religionspolitik (S. 318); nur kurz erwähnt seien die damit verbundene Hypothese des Abfassungsortes Antiochia (S. 171f.), Schärtls Annahme von Hinweisen auf den Arianerstreit (S. 246–249), die die Autorin allerdings als Spekulation kennzeichnet, sowie ihre These, die Einfügung „vor der Sonne“ bei der Händewaschung des Pilatus passe „inhaltlich zur Wiederbelebung des Sonnenkultes […] durch die römischen Herrscher sowie zur Zeit Julians“ (S. 117). Die drei zentralen Argumente für Schärtls Datierung sind jedoch nicht stichhaltig: (1) Schärtl führt die Förderung des Asklepioskultes durch Julian im Rahmen des identitätsbildenden Kampfes mit dem Christentum an und betrachtet die Pilatusakten als christlichen Beitrag zu diesem Konflikt (S. 291f.). Einmal abgesehen davon, dass dieser Gegensatz nicht auf die Zeit Julians zu beschränken ist9, droht dieser Ansatz den Konflikt zwischen Julian und dem Christentum zu sehr auf diesen Aspekt zu reduzieren. Gegen eine Datierung in die Zeit Julians, in der sich die Konkurrenz zwischen Christus und Asklepios verschärfte, spricht indes, dass der klar positiv dargestellte Pilatus die Wunder Jesu mit dem Wirken des Asklepios erklärt (1,1). (2) In der Anklage der Juden, Jesus schreibe sich zu, den Tempel niederzureißen und innerhalb von drei Tagen wiederaufbauen zu können (4,1), sieht Schärtl eine Anspielung auf das Jerusalemer Tempelbauprojekt Julians (S. 217f.). Dies kann aber nur als eine Mutmaßung gelten. Als verfehlt ist ihre Annahme anzusehen, dass dieses Tempelwort auch auf die Zerstörung der Asklepiostempel Bezug nehmen kann. Der Kontext lässt dies nicht zu, und die Argumentation, dass der Verfasser auf die Zerstörungen anspielt, „die seiner Meinung nach endgültig sind, während es die Zerstörung des Leibes Jesu nicht ist“ (S. 291), bleibt ein extrem instabiles Konstrukt. (3) Schärtls Argument der Erwähnung des goldenen Kalbes durch Pilatus (9,2) als Reaktion auf die seiner Mithrasverehrung geschuldeten Stiermünzen Julians (S. 264–266) ist bereits im Ansatz verfehlt: Es handelt sich nämlich nicht um Abbildungen des Mithrasstieres, sondern um symbolische Darstellungen eines Horoskops, da Julian im Zeichen des Stieren geboren oder (wahrscheinlicher) gezeugt wurde.10 Schärtls Datierung der Pilatusakten überzeugt daher nicht.

Zuletzt sei noch auf einige handwerkliche Mängel hingewiesen: Schärtl wechselt zwischen einer abgekürzten und einer ausgeschriebenen Zitierweise antiker Autoren11; die Verwendung und Zitation von Quellenausgaben, die lediglich eine Übersetzung bieten12, trägt kaum positiv zum Vertrauen in die Textgrundlage der Arbeit bei; auch wird in den Anmerkungen oft als Beleg für im Haupttext erwähnte Passagen aus antiken Autoren lediglich auf die Sekundärliteratur verweisen.13

Eine abschließende Beurteilung dieser Arbeit fällt nicht leicht: Auf der einen Seite treten argumentatorische Schwächen und eine Neigung zur Unselbstständigkeit klar hervor; andererseits ist zu bedenken, dass die Zahl neuerer Forschungen zu den Pilatusakten gering und daher eine aktuelle Untersuchung willkommen ist, die das Material zusammenstellt und eine Reihe von Detailkorrekturen bietet. Auch stellt die gewählte Thematik in ihrer Breite zweifellos eine extrem große Herausforderung dar. Das Ziel, ein allen Ansprüchen an einen wissenschaftlichen Kommentar genügendes Werk vorzulegen, hat Schärtl mit ihrer Arbeit wohl nicht erreicht. Zweifellos wird sie aber die Pilatusakten in die Erinnerung der Wissenschaft zurückzurufen; zudem liefert sie für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung eine reiche Materialsammlung.

Anmerkungen:
1 Rufin. HE 9,5,1 in eigener Übersetzung.
2 John D. Shannon, „For good work do they wish to kill him?“ Narrative critique of the acts of Pilate, Master-Thesis University of Missouri 2006. Schärtl verwendet diese Arbeit zwar, versäumt es im Literaturverzeichnis jedoch, sie zur besseren Einordnung korrekt als Qualifikationsschrift zu kennzeichnen.
3 Richard Adelbert Lipsius, Die Pilatus-Acten, Kiel 1886.
4 Zu ergänzen wäre noch: James R. Harris, The Homeric Centones and the Acts of Pilate, London 1898.
5 Dass Julian mit seinem Rhetorenedikt versuchte, „die Christen vom Zugang zur rhetorischen Bildung und dem damit verbundenen Ansehen auszuschließen“ (S. 50), steht in direktem Widerspruch zu Julians eigenen Äußerungen (ep. 61c Bidez) und erinnert an die singuläre Darstellung des Sozomenos (5,18,1). Die Aussagen, Constantius II. habe Constantin II. ausgeschaltet (S. 50) und im Codex Theodosianus seien „alle Verordnungen seit Konstantin kodifiziert“ (S. 55), verdeutlichen die mit der extremen Kürze verbundenen Probleme dieser Kapitel. Auch die an anderer Stelle ohne Beleg angeführte Behauptung, dass schon Constantin den Titel des pontifex maximus abgelegt habe (S. 98), ist hier zu nennen.
6 Es handelt sich hierbei um folgende Stellen: „hinausgehen“ statt „weggehen“ in 9,3 (S. 114); „retten“ statt „helfen“ in 10,1 (S. 125); „bösen Beschluss fassen“ statt „bösen Plan schmieden“ in 15,2 (S. 144), wobei allein die sprachliche Holprigkeit der letzten Formulierung hier Anlass zu Kritik gibt. Nicht neu ist dagegen „versiegeln“ statt „verriegeln“ in 12,1 (S. 133), da der in der 5./6. Auflage der Schneemelcher-Ausgabe gebotenen Übersetzung „verriegeln“ (S. 407) als ursprüngliche Übersetzung Scheidweilers in der 3./4. Auflage „versiegeln“ vorausging.
7 Als Beispiele seien genannt: Thomas P. Allen, A critical edition of the old English ‚Gospel‘ of Nicodemus, Diss. Rice University 1968; Katherine A. S. Collett, The Gospel of Nicodemus in Anglo-Saxon England, Diss. University of Pennsylvania 1981; Jeanne F. Drennan, A short Middle English prose translation of the „Gospel of Nicodemus“, Diss. University of Michigan 1980; Alvin E. J. Ford, The old French prose versions of the ‚Gospel of Nicodemus‘, Diss. University of Pennsylvania 1971; Matthew Z. Heintzelman, The Acts of Pilate as an isolating force in the Frankfurt Passion Play of 1493, Diss. University of Chicago 2000.
8 Torben Christensen, Rufinus of Aquileia and the Historia ecclesiastica, Lib. VIII–IX, of Eusebius, Copenhagen 1989, S. 333–336.
9 Vgl. nur Ruprecht Ziegler, Aigeai, der Asklepioskult, das Kaiserhaus der Decier und das Christentum, in: Tyche 9 (1984), S. 187–212, bes. 206–209; für den Hinweis auf diesen Aufsatz dankt der Rezensent Florian Haymann (München/Freiburg). Auch die von Schärtl angeführte Stelle aus Justins Apologie (S. 285) spricht eine deutliche Sprache.
10 Im Zeichen des Stieres geboren: Frank D. Gilliard, Notes on the coinage of Julian the Apostate, in: Journal of Roman Studies 54 (1964), S. 135–141, bes. 138f. Im Zeichen des Stieres gezeugt: Kay Ehling, „Wer wird jetzt noch an Schicksalerforschung und Horoskop glauben?“ (Ephraim d. Syrer 4, 26). Bemerkungen zu Julians Stiermünzen und dem Geburtsdatum des Kaisers, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 55/56 (2005/2006), S. 111–132.
11 Drei besonders deutliche Beispiele seien genannt: die unterschiedliche Zitierweise der beiden Hauptwerke des Flavius Josephus direkt nebeneinander in Anm. 309; weiterhin die Zitate in Anm. 473 und 474 sowie in Anm. 542 und 543, wo auch Augustinus inkonsequent zitiert wird (Anm. 474 und 543).
12 Folgende Fälle seien genannt: Cassius Dio, Diodor, Josephus (beide Hauptwerke), Julians Contra Galilaeos, Aristides’ Apologie, Basilius, Ephraem Syrus, Ignatius von Antiochien und Johannes Chrysostomos’ Adversus Iudaeos. Bei einer großen Zahl der anderen verwendeten Quellenausgaben handelt es sich entweder um zweisprachige Leseausgaben für ein breites Publikum oder um alte Ausgaben – meist aus der Patrologia Graeca Mignes –, die längst durch neuere Editionen überholt sind.
13 Vgl. Anm. 88, 102, 250–251, 330, 384, 566, 706, 728, 862, 914, 1086, 1113, 1172 und 1186–1187; vgl. auch das Aquivalent für moderne Autoren (Anm. 136) und für Paraphrasen aus antiken Quellen (Anm. 203 und 267).

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