M. Prinz: Der Sozialstaat hinter dem Haus

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Titel
Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920–1960


Autor(en)
Prinz, Michael
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 69
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
454 S., Abb.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

„Urban gardening“ auf großen altindustriellen Konversionsflächen verschafft dem Thema Selbstversorgung derzeit Aufmerksamkeit. Dessen gesellschaftliche Relevanz liegt in globalen sozialpolitischen Problemen hoher Sockelarbeitslosigkeit und in der Frage begründet, wie man künftig marktunabhängige Einkommen, Güter und soziale Sicherheit organisieren kann. Dies soll unter anderem dadurch erreicht werden, dass man möglichst viel selbst, im lokalen Umfeld produziert, abgesichert durch politische Rahmenbedingungen einer „Postwachstumsökonomie“.1 Michael Prinz stellt solche Zukunftsszenarien nicht explizit vor, aber er verweist in seiner großen Studie auf Konzepte und Handlungsansätze, die trotz anderer historischer und ideologischer Konstellationen den jetzt in Umlauf kommenden gar nicht so unähnlich sind. In seiner Analyse von „Leitkonzepten“ der Wirtschafts-, Sozial-, Siedlungs- und Boden- sowie Raumordnungspolitiken wird ein Komplex sozialer Ordnung und Intervention sowie konkreter Zukunftshoffnungen von Menschen sichtbar, der keineswegs marginal war, allerdings historisch marginalisiert wurde.

Es geht Prinz darum, komplementär zu seiner früheren Beschäftigung mit der Konsumgeschichte2 aufzuzeigen, dass sowohl strukturell als auch in Krisenzeiten kleine Formen der Bodenbewirtschaftung ein sehr wichtiges Element gestaltender Sozialpolitik und realer Sozialordnung waren. Die Zeit von 1920 bis 1960 stellt sich diesem Denkansatz zufolge keineswegs als geradlinige Modernisierungsgeschichte dar, die dann folgerichtig in einer Phase des Massenkonsums und wohlfahrtsstaatlich gebändigter Marktwirtschaft einmündete. Prinz hebt vielmehr auf die Ambivalenzen und Unsicherheiten im Entwicklungsgang deutscher Sozial- und Sozialpolitikgeschichte ab, auf Phasen des Pessimismus während der Inflation und der Weltwirtschaftskrise. Selbst in den prosperierenden Jahren der Weimarer Republik kam es zu Beschäftigungseinbrüchen und sahen katholische Kreise die Risiken forcierter Industrialisierung. Prinz arbeitet die offensichtlich recht tief greifenden Orientierungskrisen (und Kriegserfahrungen) dieser Jahrzehnte heraus und möchte zeigen, dass die Diskurse über den „Sozialstaat hinter dem Haus“, das heißt die „Eigenwirtschaft“, weiter reichten, als man sich dies bislang vorstellte. Als eine zentrale Denkfigur der rekonstruierten Debatte über Subsistenz sieht er die „Arbeiterbauern“, wie sie in der sozialen Realität regional konzentriert vorzufinden waren. Diese kombinierten im Zuge familienökonomischer Strategien Lohneinkommen und kleine Agrarwirtschaft. Obwohl der Begriff des Arbeiterbauern im untersuchten Zeitraum nicht einheitlich verwendet wurde, ist es ein Verdienst von Prinz, diese Leitfigur sozialpolitischen Denkens umfassend zu prüfen.

Das Spektrum des Subsistenzdiskurses im 20. Jahrhundert ist, wie schon angedeutet, sehr weit; Prinz geht nahezu allen Verzweigungen nach. Zu Anfang fallen entscheidende Stichworte wie „Bodenbindung“ und „Krisenfestigkeit“, die sich nach dem Ersten Weltkrieg aus tiefen Zweifeln über künftiges Wirtschaftswachstum und ein anhaltendes Arbeitsplatzpotenzial ergaben. Die schon von Tilman Harlander behandelte Geschichte halbagrarischer „Siedlungen“ bzw. des selbstgebauten Eigenheims mit Wirtschaftsgarten in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren3 – davon entstanden zwischen 1919 und 1941 ca. 260.000 – wird hier in den allgemeinen sozialpolitischen Kontext und nicht nur den der Krisenbewältigung gestellt. Immer wieder greift Prinz in eine Realgeschichte der Subsistenz aus und legt an regionalen Beispielen beeindruckende Zahlen dazu vor, wie weit etwa im Ruhrgebiet und in Westfalen agrarischer Nebenerwerb und Kleingärten tatsächlich verbreitet waren. Für den Nationalsozialismus sieht Prinz ebenfalls Siedlungsgedanken und Arbeiterbauern als ideologisch hoch relevant an. Allerdings scheint dies doch dem an anderer Stelle herausgearbeiteten Modernisierungscharakter des Nationalsozialismus zu widersprechen. Prinz zeigt auf, wie in der Weltwirtschaftskrise die strukturell gemischte und kleinteilige Wirtschaft Württembergs so manchem Wirtschaftswissenschaftler als Vorbild erschien, freilich wurden dann skeptische Stimmen laut.

Seit 1943 fanden sich Denkansätze einer entsprechenden Strategie der Existenzsicherung im Bereich der konservativen Opposition gegen das NS-Regime sowie bei den Ordoliberalen, die dabei waren, die Nachkriegsära vorzubereiten. In dieser, als manche den Boden als „übervölkert“, „begrenzt“ und „karg“ sahen, schien ein rechtes „Hauswerk“ mit intensiver Gartenwirtschaft angebracht (S. 19). Zunächst erschien der Wiederaufbau nur langsam vonstatten gehen zu können. Alle Kräfte waren einzuspannen, gar vom „Mut zur Armut“ war die Rede (S. 264). So etwas also war „sagbar“ – und eben um das „Sagbare“ geht es Prinz. Aber bald waren solche Aussagen nicht mehr repräsentativ, denn die Zahl der produzierten Mietwohnungen wurde in der Bundesrepublik bis 1961 um fünf Millionen verdoppelt. Ohne Zweifel aber hatten die bereitgestellten steuerlichen und betrieblichen Subventionen, um Bergarbeiterfamilien mit einem Wirtschaftsgarten auszustatten, bis in die 1950er-Jahre hinein nicht unerhebliches Gewicht, zumal sie sich mit der forcierten Familien- und Eigenheimideologie nahtlos vereinen ließen. „Siedlung“ am Rande der Großstadt ließ sich mit deren „Auflockerung“ durchaus verbinden. Dann freilich ging man in den Städten zum Modell der „Urbanität durch Dichte“ über und wurden auf dem Land die Kleinbauernbetriebe im Zuge von Generationswechseln und „Strukturwandel“ eliminiert. Nach der Phase des Sozialwohnungsbaus (ohne individuelle Gärten) setzte sich das suburbane Eigenheim durch. Letzteres verweist zwar auf die Sehnsucht, auf dem „Land“ zu wohnen, kaum aber danach, reale Selbstversorgung zu betreiben.

Insgesamt kann man Michael Prinz in seiner Argumentation weitgehend folgen. Er verkennt nicht, dass sich das Eigenheim dann doch zum „Konsumcontainer“ entwickeln sollte und die bislang so oft propagierte (und regional institutionell stark gestützte und subventionierte) „Wirtschaftsheimstätte“ zunehmend in Legitimationsprobleme geriet. Allerdings widmet sich Prinz den Zielkonflikten bei der politischen Durchsetzung der Subsistenzkonzepte zu wenig. Zwar gab es Sozialdemokraten, die mit der Siedlerbewegung sympathisierten, aber sonst war das sozialistische Lager hegemonial auf eine (regulierte oder in eine Staatswirtschaft zu transformierende) Industrieordnung eingestellt, in der Kleinbesitzer als reaktionär und organisationslogisch kontraproduktiv galten – ein Spiegelbild der Wertschätzung von Kleineigentümern in der konservativen Gesellschaftspolitik. Die Dynamik industrieller Produktion und fordistischer Anforderungen an die Lebenswelt der Produzenten mit ihrer historischen Durchschlagskraft kommt nur an den Außenrändern der Studie vor. Zwar stimmt es, dass die Großstadt ideologisch vielfach negativ besetzt war, aber sie gab den sozialpolitischen Takt vor. Im Nationalsozialismus stellten sich dem Arbeiterbauernkonzept seit 1936 die agrarischen Interessen der Vollbauernbetriebe entgegen. Manche der gelieferten Zahlen scheinen überinterpretiert – nicht jeder kleine und kleinste von der Statistik erfasste Garten trug und trägt zur Ernährung bei. Eher geht es doch auch um ein Stück ‚Heimat‘, um einen Raum der Geselligkeit und andere soziale Zwecke. Wie weit wollten gartenbewirtschaftende Großstädter wirklich zu einer für den Haushalt wesentlichen Subsistenzwirtschaft übergehen? Prinz weist selbst darauf hin, dass nicht wenige Städter erst einmal das Anpflanzen von Gemüse erlernen mussten, und die Erfahrungen bei der nationalsozialistischen „Siedlerauswahl“ zeigten weitere Probleme.

Alles in allem lenkt das Buch den Blick auf soziale Strukturmerkmale, die sonst wenig Aufmerksamkeit finden, und der Autor lässt äußerst kenntnisreich die Zusammenhänge einer Diskursgeschichte erkennen, die sonst nur einzeldisziplinäre Zugänge kannte. In seinem grand œuvre ist es Prinz gelungen, alternative sozialpolitische Konzepte, die konträr zur Orientierung an den Kategorien des Marktes, des Staates und des Konsums standen, in ihrer Gesamtheit in Erinnerung zu rufen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Niko Paech, Weniger und einfacher. Jenseits der Wachstumsspirale, in: Forschung & Lehre 4/2013, S. 274–277.
2 Michael Prinz, Konsum und Konsumgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 450–514 (Sammelrezension).
3 Vgl. Tilman Harlander / Katrin Hater / Frank Meiers (Hrsg.), Siedeln in der Not. Umbruch von Wohnungspolitik und Siedlungsbau am Ende der Weimarer Republik, Hamburg 1988.

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