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Titel
Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe


Autor(en)
Müller, Jan-Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
£ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Riccardo Bavaj, School of History, University of St Andrews / Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

1982 publizierte Karl Dietrich Bracher eine „Geschichte politischen Denkens“, die wohl zu den meist zitierten Titeln der Zeitgeschichtsforschung zählt: „Zeit der Ideologien“ – so überschrieb der Bonner Politikwissenschaftler seine Deutung des 20. Jahrhunderts. Brachers Überlegungen kreisten um die Ambivalenzen und Brechungen des Fortschrittsgedankens und lieferten eine Interpretation radikaler Strömungen als „totalitärer Progressismus“. Sein normativer Ideologiebegriff war weitgehend für antiliberale Ideologisierungen politischer Ideen reserviert. Gegen „irrationalistische“ Verirrungen jeder Art gerichtet, war seine ideengeschichtliche Deutung zugleich ideenpolitische Intervention auf dem intellektuellen Kampfplatz der alten Bundesrepublik sowie des „Westens“ insgesamt. Brachers „Zeit der Ideologien“ kann als wichtiges geschichtsphilosophisches Manifest des Cold War Liberalism gelten.1

Nun hat der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Jan-Werner Müller den Versuch unternommen, aus einer Perspektive „jenseits des Kalten Krieges“ (S. 279) eine Gesamtschau politischer Ideen im Europa des 20. Jahrhunderts zu entwerfen: Historisierung statt Geschichtspolitik. Müllers Ideologiebegriff ist deutlich neutraler als derjenige Brachers und folgt eher Michael Freedens Konzeption von Ideologien als Gefüge miteinander verschränkter, ihrer Mehrdeutigkeit weitgehend entkleideter Begriffe.2 Natürlich ist Ideengeschichte immer auch Ideenpolitik, und jede Historisierung hat ihre Grenzen, will sie nicht im nacherzählenden Beschreiben verharren. Doch ist bei Müller, anders als bei Bracher, von ideologisierender „Pervertierung politischen Denkens“ ebensowenig die Rede wie von „Re-Barbarisierung“.3 Wie Mark Mazower ist Müller der Ansicht, dass man auch extreme Ideologien als Antworten auf spezifische Problemlagen zu interpretieren habe, die Zeitgenossen durchaus plausibel erschienen seien.4

Ähnlich wie Bracher allerdings, der im „fortwährenden Meinungsstreit um die ‚richtige‘ Volksherrschaft“ und im Kampf um „Begriff und Inhalt“ von Demokratie einen wesentlichen Aspekt der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts erblickte5, interessiert sich auch Müller in „Contesting Democracy“ für die begriffspolitische Vielstimmigkeit von Auffassungen darüber, wie sich der Volkswille konstituiert und die Repräsentation des Demos legitimiert. Dass Mussolinis Chefideologe Giovanni Gentile den „totalitären Staat“ des Faschismus als „demokratischen Staat par excellence“ bezeichnen konnte (S. 106), verweist nicht nur auf die Bandbreite damals kursierender Demokratievorstellungen und die Popularität antipluralistischer Ausdeutungen des Demokratiebegriffs, sondern vor allem auf die sich von der Jahrhundertwende an deutlich wandelnden Ansprüche politischer Partizipation. Legitimierung wie Delegitimierung politischer Herrschaft im Zeitalter der Massendemokratie stehen denn auch im Zentrum von Müllers Buch.

Klassischerweise betont der Autor den Ersten Weltkrieg als große Wasserscheide, die eine Zeit liberalen Fortschrittsdenkens und größtenteils konstitutioneller Monarchien von einem Zeitalter getrennt habe, in dem politische Aushandlungsprozesse wesentlich von Auseinandersetzungen über divergierende Demokratievorstellungen bestimmt gewesen seien. Dabei hätten Verfechter des Liberalismus zunächst keine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen des demokratischen Zeitalters gefunden – ein Urteil, das auch auf Max Weber zielt, der im ersten Kapitel ausführlich zu Wort kommt. An Alternativentwürfen zur parlamentarisch-liberalen Einhegung demokratischer Willensäußerung mangelte es bekanntlich nicht. Einige davon, die das Potenzial des Verheißungsbegriffs „Demokratie“ zu voller Entfaltung bringen wollten, werden vorgestellt: etwa der Austromarxismus Otto Bauers und der Rätekommunismus Antonio Gramscis, aber auch die eigenwilligen Aktualisierungen marxistischen Denkens durch Georg Lukács und Ernst Bloch. Eingehend beleuchtet werden auch die politisch folgenreichsten Experimente des ideengeschichtlichen Laboratoriums der Zwischenkriegszeit. Die gesellschaftlichen Homogenisierungs- und Reinigungsprojekte Hitlers, Stalins und Mussolinis deutet Müller bei allen Unterschieden als totalitäre Ordnungsmodelle, die auf eine vollständige Entgrenzung des Politischen zielten.

Dieser Entgrenzung versuchte man nach 1945 in Westeuropa durch eine neue institutionelle Justierung der Balance von Demokratie und Liberalismus entgegenzuwirken, wobei die Komponenten dieser Balance im Lichte der „totalitären Erfahrung“ jeweils neu definiert wurden. Müller betont hier vor allem die Installation der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Verbreitung des Konzepts der wehrhaften Demokratie. „Self-disciplined democracies“ nennt er das konstitutionalistisch grundierte Ordnungsmodell, das für den westlichen Teil Nachkriegseuropas typisch geworden sei und sich durch den Prozess der europäischen Integration weiter verfestigt habe. Die politische Kultur Westeuropas in den späten 1940er- und den 1950er-Jahren sei indes weniger durch die diskreditierten politischen Sprachen des Liberalismus beeinflusst worden als vielmehr durch ein Konglomerat christdemokratischer Ideen – für Müller die „wichtigste ideologische Innovation der Nachkriegszeit“ (S. 130). Den Radius christdemokratischer Strahlkraft beschränkt der Autor freilich auf Westdeutschland, Italien, die Benelux-Länder und Frankreich. Der Personalismus Jacques Maritains findet in diesem Zusammenhang besondere Beachtung.

Müller zufolge musste sich das Modell selbstbeschränkter Demokratie vor allem zwei Herausforderungen stellen: zum einen den Protesten für eine stärker partizipatorische Demokratie, die Ende der 1960er-Jahre lautstark artikuliert wurden; zum anderen der Revitalisierung klassisch liberaler Gedanken und der Zirkulation als „neo-liberal“ apostrophierter Ideen als Antwort auf die Mitte der 1970er-Jahre heraufbeschworene „Krise der Regierbarkeit“. Erstere Herausforderung wird unter anderem an dem Situationismus Guy Debords, der Parlamentarismuskritik Johannes Agnolis sowie dem libertären Sozialismus Herbert Marcuses illustriert; letztere wird vor allem an den Interventionen Friedrich von Hayeks und Michael Oakeshotts erläutert.

Diese und andere Zusammenhänge werden mit großem Überblick und einer beeindruckenden Durchdringung der Materie geistreich und sprachlich elegant dargelegt. Auch zentrale Entwicklungen in Osteuropa (Ungarn-Aufstand, Prager Frühling, Charta 77) schildert Müller mit profunder Sachkenntnis, wenngleich weniger ausführlich. Geschickt verwebt der Autor ideengeschichtliche Analysen mit politik- und verfassungsgeschichtlichen Erzählsträngen und vermeidet den leicht sterilen Eindruck, den enzyklopädisch angelegte Überblickswerke zur politischen Theorie oft vermitteln.6 Auch wenn der zum Verständnis der Attraktivität politischer Ideen relevante gesellschaftliche Resonanzraum streckenweise nur schwach ausgeleuchtet wird, lässt sich Müllers Werk durchaus als ideengeschichtliches Gegenstück zu Mark Mazowers bislang unübertroffener Gesamtdarstellung über das Europa des 20. Jahrhunderts lesen.

Bei allem Lob seien abschließend drei Punkte genannt, die man kritisch einwenden könnte: Erstens werden die Ursachen ideengeschichtlichen Wandels nicht hinreichend klar. Der Erste Weltkrieg war sicher ein wesentlicher Faktor, der das ideengeschichtliche Experimentierfeld der Zwischenkriegszeit mit konstituierte. Doch reicht er nicht aus, um die gewaltige Öffnung des gedanklichen Möglichkeitsraums zu erklären. Ebenfalls zu berücksichtigen wären vor allem die rasante Beschleunigung des sozio-ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Wandels seit den 1880er-Jahren, der damit einhergehende Zuwachs an Gestaltungsoptionen und die Entwertung geschichtlicher Kontinuität.

Zum Verständnis der im Nachkriegseuropa zirkulierenden Ideen hätte zweitens vermutlich beigetragen, wenn Müller an seine andernorts veröffentlichten Überlegungen zu ideengeschichtlichen Entwicklungen in den USA angeknüpft hätte.7 Transatlantische Verflechtungen tauchen in seiner Darstellung kaum auf. In diesem Punkt folgt er weder Mazowers „Dark Continent“ noch Tony Judts „Postwar“. Möglicherweise hätte die Einbeziehung transatlantischer Mediatoren konsensliberaler Ordnungsmuster die in Anlehnung an Martin Conway entwickelte starke These von der Ausnahmestellung christdemokratischen Denkens etwas abgeschwächt – eine These, die auch mit Blick auf die zentrale Rolle sozialdemokratischer Ideen in weiten Teilen Westeuropas überpointiert wirkt.

Ohnehin, so mein dritter Punkt, fristen liberale und sozialdemokratische Denker in Müllers Buch eher ein Schattendasein – etwas überraschend angesichts seiner eigenen Forschungen zum europäischen Liberalismus.8 Kritik an der Auswahl von Protagonisten einer Überblicksdarstellung wirkt natürlich immer etwas abgedroschen. Diskussionen darüber, warum dieser und nicht jener vorkommt, lassen sich endlos führen. Müllers Ziel ist es, politisches Denken zu beleuchten, das politikgeschichtlich von Belang war. Er will sich daher auf „in-between figures“ konzentrieren, etwa „second-hand dealers in ideas“ (Hayek) und „bureaucrats with visions“ (S. 3). Diese Beschreibung trifft auf einige seiner Protagonisten auch zu. Fraglich erscheint aber, warum eine solche Zielvorgabe etwa Michel Foucault ins Blickfeld rücken lässt, der recht ausführlich (und zweifellos interessant) behandelt wird, während über Raymond Aron oder Bertrand de Jouvenel so gut wie nichts zu lesen ist. Der Ansatz, den Fokus stärker auf Vermittlerfiguren zu legen, ist bedenkenswert, doch scheint es sich bei vielen der etwas eingehender diskutierten Denker nur in einem sehr weiten Sinne um „second-hand dealers in ideas“ zu handeln.

Dieser Bemerkungen ungeachtet setzt Müllers Darstellung Maßstäbe, an denen künftige Betrachtungen zur europäischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts zu messen sein werden. Auffällig ist, dass Müllers Ideologiebegriff sich im Laufe des Buches zu verflüchtigen scheint: Immer häufiger ist von „politischen Sprachen“ die Rede, immer seltener von „Ideologien“. Die von Bracher beschriebene „Zeit der Ideologien“, also der Kampf von im 19. Jahrhundert wurzelnden „Ismen“, ist aus Müllers Sicht heute zu Ende. Insofern scheint sich die ideengeschichtliche Entwicklung – Bracher hätte von „Entideologisierung“ gesprochen – auch in der analytischen Begrifflichkeit des Autors niederzuschlagen. Eine überzeugende methodische Vermittlung zwischen den Begriffen der „politischen Ideologie“ und der „politischen Sprache“ steht noch aus. Weiterführende Überlegungen zu einer Synthese von Ideen- und Begriffsgeschichte hat Jan-Werner Müller aber selbst kürzlich vorgelegt.9

Anmerkungen:
1 Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982.
2 Michael Freeden, Ideologies and Political Theory. A Conceptual Approach, Oxford 1996.
3 Bracher, Zeit der Ideologien, S. 80, S. 322.
4 Vgl. Mark Mazower, Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, London 1998, S. XII.
5 Bracher, Zeit der Ideologien, S. 123.
6 Etwas schematisch wirkt etwa die Vorgehensweise bei Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 4.1: Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung, Stuttgart 2010.
7 Vgl. Jan-Werner Müller, The Cold War and the Intellectual History of the Late Twentieth Century, in: Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. 3: Endings, Cambridge 2010, S. 1-22.
8 Vgl. etwa ders., Fear and Freedom. On „Cold War Liberalism“, in: European Journal of Political Theory 7 (2008), S. 45-64.
9 Ders., European Intellectual History as Contemporary History, in: Journal of Contemporary History 46 (2011), S. 574-590.

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