M. Rheinheimer: Die Dorfordnungen des Herzogtums Schleswig

Titel
Die Dorfordnungen des Herzogtums Schleswig. Dorf und Obrigkeit in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Rheinheimer, Martin
Erschienen
Stuttgart 1999: Lucius & Lucius
Anzahl Seiten
2 Bände XVIII u. 1017 S.
Preis
€ 77,00
Stefan Brakensiek, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Seit vor mehr als 150 Jahren Jacob Grimm seine mehrbändige Sammlung von Weistümern herausbrachte, hat sich die historische Forschung mit ländlichen Rechtsquellen des Mittelalters und der frühen Neuzeit befaßt. Grimm nahm unter dem weiten Begriff „Weistum“ unterschiedslos Quellen auf, die altes Herkommen kodifizierten, und solche, die neues Recht setzten. Er ging davon aus, daß in diesen Quellen das alte, volkstümliche Rechtsbrauchtum seinen Niederschlag gefunden habe. Lange Zeit war umstritten, ob sich in Weistümern und Dorfordnungen in erster Linie genossenschaftliche Rechtswahrung oder herrschaftliche Rechtssetzung manifestierten. Karl Siegfried Bader hat darauf hingewiesen, daß die ländlichen Rechtsquellen innerhalb eines weiten Spektrums zwischen gemeindlicher Autonomie und herrschaftlichem Oktroi angesiedelt waren. Inzwischen hat sich in der Forschung die terminologische Unterscheidung durchgesetzt, daß Weistümer vor allem Herrenrecht und -gerechtigkeiten behandeln, während Dorfordnungen in erster Linie Fragen der Gemeindewirtschaft und der innergemeindlichen Organisation regeln. Die alternativ formulierte Frage nach dem herrschaftlichen oder dem genossenschaftlichen Ursprung der ländlichen Rechtsquellen hat sich als unfruchtbar erwiesen, denn fast immer spielten unterschiedliche Interessen und Rechtstraditionen zusammen, wenn es zur Abfassung eines Weistums oder einer Dorfordnung kam. Um einen Eindruck zu erhalten, welche unterschiedlichen Faktoren zusammenwirken konnten, sei die Lektüre des angezeigten Werkes empfohlen.

Martin Rheinheimer hat zwei Bände vorgelegt, in denen die Dorfordnungen im Herzogtum Schleswig behandelt werden. Mit Schleswig hat er eine nördliche Region gewählt, die in der deutsch-sprachigen Forschung bislang stiefmütterlich behandelt wurde. Der erste Band bietet eine historische Abhandlung zum Thema; der zweite Band enthält eine Edition der 349 erhaltenen Dorfordnungen im Herzogtum Schleswig aus dem Zeitraum zwischen 1520 und 1918. Um es vorwegzunehmen: Dem Leser wird historische Grundlagenforschung auf hohem Niveau dargeboten. Zunächst gilt es festzuhalten, daß es im deutschsprachigen Gebiet keine vergleichbare Regionalstudie über Dorfordnungen gibt, weder was die Vollständigkeit des Quellenkorpus, noch was die Genauigkeit der Auswertung betrifft. Mit seiner Kieler Habilitationsschrift hat Martin Rheinheimer im besten Sinne des Wortes Pionierarbeit geleistet: Die Edition ist mustergültig und bietet hervorragende Möglichkeiten für die regional und international vergleichende Forschung und für die universitäre Lehre. Die Dorfordnungen sind teils in niederdeutscher, teils in hochdeutscher, teils in dänischer Sprache verfaßt. Diese sprachliche Mischlage ermöglicht Erkenntnisse über kulturelle und herrschaftliche Diffusionsvorgänge, aber auch über die pragmatische Zweisprachigkeit von bäuerlichen Bevölkerungen.

Der darstellende Teil bietet eine Definition von Dorfordnung (in Abgrenzung zu dem allzu weiten Weistums-Begriff), die Einordnung in den Forschungszusammenhang und eine detaillierte Analyse des Quellenkorpus nach seiner räumlichen und zeitlichen Herkunft, seinen Inhalten, den mittelbar zu erschließenden sozio-ökonomischen Hintergründen sowie nach den formalen und sprachlichen Merkmalen. Die Studie geht zunächst der Frage nach, in welchen Teilregionen des Herzogtums Schleswig und in welcher zeitlichen Folge und Erstreckung Dorfordnungen errichtet wurden. Als maßgebliche Faktoren für das Vorliegen oder das Fehlen dieses Quellentyps werden ökologische und wirtschaftliche Faktoren sowie die Qualität der Herrschaftsverhältnisse identifiziert. So fehlten Dorfordnungen praktisch völlig in den Marschengebieten Schleswigs, weil die dortige individualisierte Wirtschaftsweise keinen ausgeprägten Regelungsbedarf aufwarf. Auch aus den Gegenden, die von Gutswirtschaften dominiert wurden, sind kaum Dorfordnungen überliefert, offenbar deshalb, weil hier die Gutsherrschaft die Regeln des Wirtschaftens kraft eigener Autorität zu setzen vermochte, ohne mit den Bauern schriftliche Übereinkünfte zu treffen.

Was die zeitliche Entwicklung betrifft, unterscheidet der Vf. fünf Phasen, einen Auftakt im 16. Jahrhundert, die Ausbreitung der Dorfordnungen und ihre inhaltliche sowie formale Konsolidierung zwischen 1600 und 1675, die weiteste Verbreitung und Dichte der Quellengattung in den einhundert Jahren zwischen 1675 und 1775, den allmählichen Niedergang zwischen 1775 und der Mitte des 19. Jahrhunderts, schließlich das völlige Verschwinden. Erklären läßt sich diese Abfolge aus den spezifischen Funktionen der Dorfordnungen für das Zusammenleben und das Wirtschaften der dörflichen Bevölkerung im Mit- und Gegeneinander mit den verschiedenen Herrschaftsinstanzen. Rheinheimer macht deutlich, wie in der Entstehung und dem Verschwinden der Dorfordnungen sowohl der sozio-ökonomische Wandel als auch die politisch-mentalitären Veränderungen der beginnenden Neuzeit und des 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag fanden. Die vergleichende Untersuchung des recht spröden Quellenmaterials über einen langen Zeitraum und in einem größeren regionalen Kontext ermöglicht dem Vf. Rückschlüsse auf Motivationslagen der beteiligten Dorfbewohner und Herrschaftsvertreter, auf die Wege der Diffusion -und auf die rechtlichen Traditionen, die durch die Analyse einzelner Dorfordnungen niemals zu erzielen gewesen wären. Es liegt auf der Hand, daß bei der Art der untersuchten Quellen und angesichts der Vorgehensweise des Vf. die einzelnen historischen Akteure nur ausnahmsweise erkennbar werden. Trotzdem ist die Lektüre des Werkes von Martin Rheinheimer nicht langweilig, zumal die Ergebnisse in einer klaren, unprätentiösen Sprache präsentiert werden.

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