A. Gfeller: Building a European Identity

Cover
Titel
Building a European Identity. France, the United States, and the Oil Shock, 1973–1974


Autor(en)
Gfeller, Aurélie Élisa
Reihe
Berghahn Monographs in French Studies 12
Erschienen
New York 2012: Berghahn Books
Anzahl Seiten
X, 232 S.
Preis
$ 75.00 / £ 46.00 / € 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Die Geschichte der internationalen Beziehungen während der 1970er-Jahre im Allgemeinen und der europäischen Integration sowie der transatlantischen Beziehungen im Besonderen haben sich in den vergangenen Jahren eines großen Forschungsinteresses erfreut.1 Neue Arbeiten reagieren darauf entweder mit einer möglichst weitgehenden Spezialisierung oder sie stellen existierende Interpretationen und Narrative in Frage. Aurélie Élisa Gfellers knapp gehaltene Studie über die Europäische Politische Zusammenarbeit und die transatlantischen Verwerfungen der Jahre 1973/74 versucht beides. Sie setzt sich dabei insbesondere von Daniel Möcklis ausgezeichneter Untersuchung „European Foreign Policy during the Cold War“2 ab, die 2009 erschien, als Gfeller bereits an ihrer Dissertation gearbeitet haben dürfte. Der eigentliche Analysezeitraum von Gfellers klassisch diplomatiegeschichtlicher Arbeit beginnt mit Henry Kissingers „Year of Europe“-Initiative im April 1973 und reicht bis zum Dezember 1974, womit die Autorin zumindest über solche Studien hinausgeht, die sich auf das „Year of Europe“ beschränken. Durch die Erweiterung des Analysezeitraums will Gfeller zu einer positiveren Bewertung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) kommen als Möckli, dessen Untersuchung im Frühjahr 1974 endet. Anders als Möckli sieht Gfeller die EPZ nicht als kurzfristige Episode, die zunächst scheiterte, sondern bettet sie in längere Kontinuitäten eines „French European Project“ ein, das eine machtvolle europäische Außenpolitik zu realisieren gesucht habe.

Gestützt auf die Aktenüberlieferung der amerikanischen und französischen Präsidenten und Außenministerien rekonstruiert Gfeller minutiös und in klarer, flüssiger Sprache die wechselseitigen Wahrnehmungen und Verhandlungen in einer spannungsreichen Phase der transatlantischen Beziehungen. Ihre Arbeit ist erfreulich thesenstark, wenn auch die meisten Thesen – außer im Falle Möcklis – im Modus der eingeschränkten Zustimmung oder Umakzentuierung formuliert werden. In den obligatorischen sechs Buchkapiteln untersucht Gfeller erstens die Ausrufung des „Year of Europe“ und die europäischen Reaktionen, zweitens die anschließenden Debatten über die Definition einer „europäischen Identität“, drittens die „Europäisierung“ der französischen „Arab Policy“, viertens die transatlantischen Verwerfungen zwischen dem Ölembargo und der Washingtoner Energiekonferenz, fünftens den europäisch-arabischen Dialog sowie sechstens die Politik Giscard d’Estaings in der zweiten Hälfte des Jahres 1974.

Überzeugend, aber auch unkontrovers, schildert Gfeller, wie Kissingers Initiative vom April 1973, sich im kommenden Jahr wieder stärker den europäischen Ländern zu widmen und gemeinsam eine neue Atlantikcharta zu verabschieden, anders als intendiert zunächst zu engeren innereuropäischen Abstimmungsprozessen im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit führte und die transatlantischen Beziehungen eher verkomplizierte als verbesserte. Statt einer gemeinsamen europäisch-amerikanischen Erklärung verabschiedeten die Europäer im Dezember 1973 zunächst die „Declaration of European Identity“, die Gfeller vor allem deshalb als „landmark statement“ (S. 75) interpretiert, weil hier zum ersten Mal in einem europäischen Dokument von einer gemeinsamen europäischen „Identität“ gesprochen wurde. Gerade die französische Diplomatie, aber auch die politische Öffentlichkeit des Landes habe sich lange dagegen gewehrt, den für die Nation reservierten Identitätsbegriff auf Europa zu übertragen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1973, unter dem Eindruck des französischen Einflussverlusts im Nahen und Mittleren Osten, hätten sich die Diplomaten aber dazu bereitgefunden und begonnen, die Regeln der EPZ zu akzeptieren (S. 40–45). Dieser semantischen Verschiebung misst Gfeller große Bedeutung zu, nachdem sie eingangs betont hat, die Methoden der klassischen Diplomatiegeschichte durch eine Untersuchung der politischen Sprache erweitern zu wollen (S. 12). Im Folgenden spielt das dann aber kaum noch eine Rolle, und offenbar blieben andere Redeweisen, etwa von Europas „Persönlichkeit“, auch nach der Deklaration erhalten (S. 161).

Problematischer als diese uneingelöste Ankündigung ist Gfellers Interpretation der Europäischen Politischen Zusammenarbeit als Erfolgsgeschichte, die sie vor allem aus der gewachsenen französischen Bereitschaft erklärt, die eigene Außenpolitik zu „europäisieren“. In diesem Licht erscheint die gemeinsame Stellungnahme der Europäer zum Nahostkonflikt vom 6. November 1973 als großer Erfolg der EPZ. Zweifelsohne nahmen die Länder der Europäischen Gemeinschaft hier unter dem Eindruck der Ölproduktions- und Lieferbeschränkungen der arabischen Förderländer zum ersten Mal überhaupt eine gemeinsame außenpolitische Position ein. Allerdings sollte die bloße Tatsache der gemeinsamen Erklärung nicht über die massiven innereuropäischen Friktionen hinwegtäuschen, die beispielsweise die Frage der Solidarität mit den vom Vollembargo betroffenen Niederlanden auslöste. Diese und andere innereuropäische Konflikte werden von Gfeller zwar erwähnt, aber nicht gegen die Gemeinsamkeiten abgewogen. Daher erscheinen letztere immer als große Errungenschaften und nicht als kleinster gemeinsamer Nenner einer zerstrittenen Gemeinschaft, wofür zumindest ebenso viel spricht. Genauso fragwürdig ist die Deutung der EPZ als Erfolgsgeschichte mit Blick auf die Washingtoner Energiekonferenz vom Februar 1974. Im Vorfeld setzten die Franzosen zwar alle wesentlichen Forderungen in eine gemeinsame europäische Position um, aber diese zerbrach während der Konferenz sofort, als zuerst Helmut Schmidt für die Bundesregierung und dann die anderen Regierungsvertreter auf den Kurs der USA einschwenkten, so dass Frankreich isoliert blieb.

Gfeller erwähnt durchaus, dass Frankreich sich nicht an der Internationalen Energieagentur beteiligte, die als Folge der Washingtoner Energiekonferenz gegründet wurde. Sie ignoriert diese Tatsache aber weitgehend, um sich stattdessen dem europäisch-arabischen Dialog zu widmen. Es ist richtig, dass dieser die US-Regierung irritierte und von Kissinger als unzulässige Störung seiner Kreise gesehen wurde; große Wirkungen erzielte der Dialog in den folgenden Jahren indes nicht. Das gilt auch für die von Giscard Ende 1974 angekündigte und in den Folgejahren durchgeführte Konferenz für Internationale Wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gfeller als Erfolg bewertet (S. 179). Auf der Konferenz wurden aber keine substanziellen Einigungen erzielt, und das Abschlusskommuniqué enthält zumindest ebenso viele explizite Dissenspunkte wie nichtssagende Übereinkünfte. Hier scheinen sehr grundsätzliche Grenzen von Gfellers Arbeit auf: Die Autorin hat sich zwar nicht auf die französischen Archive beschränkt, sondern hat auch intensiv in den USA geforscht. Dennoch sind ihre Wertungen deutlich frankophil und folgen zumeist der französischen Perspektive bzw. der Selbstdeutung der Zeitgenossen. Während die französischen Diplomaten und Politiker „standfest“ sind (S. 149–153) und vernünftige, ausgewogene Urteile fällen (S. 119), wird das Verhalten der Amerikaner an einer Stelle gar als „tantrum“ (Wutanfall) beschrieben (S. 149). Dies ist zumindest verwunderlich, wenn man die deutlich anders akzentuierten außerfranzösischen Pressereaktionen zum Auftritt des Außenministers Michel Jobert auf der Washingtoner Energiekonferenz kennt.

Ergänzend zu den diplomatischen Akten und den Erinnerungsschriften beteiligter Akteure wertet Gfeller jedoch lediglich die französische Presse aus. Nachdem sie in der Einleitung behauptet, dass sie damit – wie auch mit der Untersuchung des Handelns von Regierungsmitarbeitern unterer Hierarchieebenen – über die klassische Diplomatiegeschichte hinausgehe, bleiben diese Presseanalysen letztlich doch unvermittelt neben ihrer eigentlichen Untersuchung der diplomatischen Verhandlungen vor allem zwischen den Außenministerien stehen. Ob deren Analyse für die 1970er-Jahre noch der Schlüssel zum Verständnis der internationalen Beziehungen ist, bliebe allerdings zu überprüfen. Vor der Washingtoner Energiekonferenz, auf der sich nicht nur die Außenminister, sondern auch Vertreter der Finanz- und Wirtschaftsministerien sowie der mit Energiefragen betrauten Regierungsbehörden versammelten, erklärte US-Präsident Richard Nixon seinem Finanzminister George P. Shultz und seinem Energiezar William E. Simon: „I think you and Bill can talk to the technical types and talk turkey to them – they don’t have to posture like the Foreign Ministers.“3 Angesichts der zunehmenden kommunikativen und wirtschaftlichen Verdichtung stellte auch Helmut Schmidt fast zeitgleich die Funktion der klassischen Diplomatie sehr grundsätzlich in Frage.4 Nicht nur im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kommunizierten Experten aus den einschlägigen Ministerien immer öfter direkt miteinander, ohne die Vermittlung der Außenministerien. Deren Bedeutung für eine Geschichte der internationalen Beziehungen müsste für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts also erst genau umrissen werden, anstatt sie einfach vorauszusetzen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa meine Sammelrezension „Transatlantische Beziehungen in den 1970er-Jahren“, in: H-Soz-u-Kult, 30.11.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-157> (17.01.2013).
2 Daniel Möckli, European foreign policy during the Cold War. Heath, Brandt, Pompidou and the dream of political unity, London 2009.
3 Memorandum of Conversation: Washington Energy Conference, Secret, February 9, 1974, Digital National Security Archive, KT01025.
4 Helmut Schmidt, Leitgedanken unserer Außenpolitik, in: ders. (Hrsg.), Kontinuität und Konzentration, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 226–243, hier S. 227.

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