: Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess. München 2011 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-60583-3 231 S. € 19,95

: Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München. Berlin 2011 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-011-0 248 S. € 19,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Historisches Institut der Universität Jena (Jena Center)

Vermutlich haben nur wenige deutsche NS-Prozesse ähnliche Aufmerksamkeit erfahren wie das im Mai 2011 endende Münchner Schwurgerichtsverfahren gegen den früheren Trawniki-Mann John (Iwan) Demjanjuk. Zu dessen Bedeutung als möglicherweise „letzter Prozess“ einer mit großer zeitlicher Verzögerung stattfindenden Strafverfolgung passt, dass erst jetzt auch in Deutschland einzelne Juristen, Historiker und Journalisten damit begonnen haben, sich näher mit seiner verschlungenen Vorgeschichte und den zu erwartenden Wirkungen zu befassen.1 Die meisten Autoren begeben sich dabei auf eine schwierige Gratwanderung, gilt es doch nicht nur, ein detailgetreues Bild des Prozessgeschehens zu zeichnen, sondern gleichzeitig auch zur Aufhellung eines komplizierten Rechtsfalls beizutragen, dessen Ursprünge weit in das „extreme“ 20. Jahrhundert zurückreichen.

Die Darstellung des ZEIT-Journalisten Heinrich Wefing setzt dementsprechend bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein. So schildert er im ersten Teil seines Buches knapp die wichtigsten Lebensstationen des späteren Angeklagten, der als Sohn westukrainischer Bauern nur knapp den mörderischen Folgen der stalinistischen Zwangskollektivierung entgeht. Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wird Demjanjuk in die Rote Armee eingezogen und gerät schon kurz danach in deutsche Kriegsgefangenschaft, die er im „Stalag 319“ nahe dem heutigen Chelm verbringt. Während er bis heute jede Verbindung zum berüchtigten Lager Trawniki bestreitet, spricht die Indizienkette, die amerikanische, israelische und deutsche Staatsanwälte in jahrelanger Puzzlearbeit zusammengeführt haben, gegen diese Version. Auch Wefing, der in seiner Rekonstruktion des Falls sehr vorsichtig vorgeht und sich mehrfach gegen voreilige Schlussfolgerungen ausspricht, hält die Grundthese der Anklage für plausibel, der zufolge der junge Ukrainer tatsächlich zu jener Gruppe von 4.000 bis 5.000 so genannten Trawniki-Leuten gehörte, die von SS-Ausbildern für die Teilnahme an der „Aktion Reinhardt“ angeworben und gedrillt wurden. Wie vielen anderen gelingt ihm Anfang der 1950er-Jahre die Einreise in die USA, wo er sich gemeinsam mit Frau und Kindern in der Region Cleveland niederlässt. Die Demjanjuks erreichen bescheidenen wirtschaftlichen Wohlstand und genießen ein weitgehend unbeschwertes Leben im Kreise der ukrainischen Exilgemeinde.

Dies ändert sich Mitte der 1970er-Jahre, als sich in Washington eine Politik durchzusetzen beginnt, die nach dem Rückzug aus Vietnam auf eine verstärkte internationale Profilierung in Menschenrechtsfragen setzt. Demjanjuks Name gerät nun ins Fadenkreuz der Einwanderungsbehörde INS, die ihn als potentiellen Kandidaten für ein Ausbürgerungsverfahren einstuft und zu diesem Zweck Kontakte zu israelischen Sonderermittlern aufnimmt. Dort bekunden mehrere Holocaust-Überlebende übereinstimmend, Demjanjuk aus dem Vernichtungslager Treblinka zu kennen. Die amerikanischen Behörden ergreifen daraufhin eine Maßnahme, die sich laut Wefing als ein nicht mehr zu korrigierendes „Verhängnis“ erweist (S. 42): Obwohl sowjetische Quellen darauf hinweisen, dass Demjanjuk ausschließlich in den Lagern Sobibór und Flossenbürg Dienst getan habe, übernehmen sie ungeachtet dessen die Version der israelischen Zeugen. Die Folgen dieser fatalen Entscheidung sind im Wesentlichen bekannt: Im April 1988 verurteilte das Jerusalemer Bezirksgericht den vermeintlichen „Iwan den Schrecklichen“ zum Tode; erst im Juli 1993 hob der israelische Supreme Court das Fehlurteil auf und entließ Demjanjuk aus der Haft. Der Justizskandal war perfekt und die Reputation der NS-Ermittler nachhaltig beschädigt – und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als infolge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums eine zweite Ermittlungswelle gegen osteuropäische Unterstützer der NS-Vernichtungspolitik auf die internationale Agenda rückte.

Vor diesem Hintergrund widmet sich der zweite Teil des Buchs der keinesfalls leicht zu beantwortenden Frage, warum ausgerechnet die bundesdeutsche Justiz 2008 nochmals im Fall Demjanjuk zu ermitteln beginnt, nachdem sie eben dies wenige Jahre zuvor noch aus rechtlichen – nicht aus rechtstatsächlichen – Gründen abgelehnt hatte. Obwohl Wefing den Namen des niederländischen Strafrechtlers Christiaan Frederik Rüter nicht erwähnt, müssen die entsprechenden beiden Kapitel als indirekte Erwiderung auf dessen Polemik gegen die deutsche Justiz gelesen werden. Kurz nach Prozessbeginn hatte er gegenüber deutschen und österreichischen Journalisten die – substantiell kaum zu belegende – Behauptung aufgestellt, Demjanjuk sei vorwiegend aus politischen Gründen vor Gericht gestellt worden, um der Zentralen Stelle Ludwigsburg, die seit mehreren Jahrzehnten gegen NS-Verbrecher ermittelt, zu einem späten Anerkennungserfolg zu verhelfen.2 Im Gegensatz dazu bietet Wefing eine Erklärung an, die zwar angenehm unsensationalistisch daher kommt. Sie weist aber die kaum zu übersehende Schwäche auf, in fast allen wichtigen Punkten den Selbstauskünften des Ermittlers Thomas Walthers und dessen Kollegin Kirsten Goetze zu folgen. Seit 2008 hatte der nach Ludwigsburg versetzte Lindauer Amtsrichter das Verfahren unter seine Fittiche genommen und mit intensivsten Recherchen bis zur Anklageerhebung getrieben. Auch wenn es zweifellos richtig ist, dass es ohne den Faktor Walther/Goetze nie zu einer Hauptverhandlung gekommen wäre, hätte man sich an dieser Stelle des Buches dennoch einen schärferen Blick für diejenigen Strukturen und Mentalitäten gewünscht, die zumindest punktuell die Aufweichung einer ansonsten eher täterfreundlichen deutschen Rechtspraxis ermöglicht haben.

Im letzten Kapitel dieses durchweg hochspannenden Buches legt sich Wefing die Frage nach den bleibenden Wirkungen des Prozesses vor. Bis zum Schluss lässt ihn das Gefühl nicht los, dass es sich die deutsche Justiz mit dem Fall zu leicht gemacht habe. Angesichts der Tatsache, dass man nach 1945 im Umgang mit NS-Tätern fast komplett versagt habe, sei der Prozess allenfalls als „Epilog zu einer beschämenden Geschichte“ aufzufassen (S. 207). Dennoch fällt seine Bewertung letztlich positiv aus. Ausschlaggebend sind für ihn die Erfahrungen der Nebenkläger, die auf ihnen verständnisvoll gegenüberstehende Richter und Staatsanwälte gestoßen seien. Zum anderen ist er der Meinung, der Strafprozess habe dazu beigetragen, die lange vergessene Geschichte der nationalsozialistischen Vernichtungslager in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und das Rechtsprinzip, dem zufolge Völkermord auch im Zeitabstand von mehreren Jahrzehnten noch zu verfolgen ist, zu stärken. Doch diese Schlussbilanz klingt zu formelhaft, als dass sie wirklich überzeugen könnte. Zudem erneuert sie die falsche These, die bundesdeutsche NS-Strafverfolgung sei vor allem das Geschäft von Strafverfolgern und Rechtsphilosophen gewesen. In Wirklichkeit haben jedoch gerade die Medien an der Popularisierung bestimmter Täterbilder mitgewirkt und dadurch die Durchsetzung bzw. Nichtdurchsetzung von Rechtsgrundsätzen entscheidend beeinflusst. Auch im Fall Demjanjuk fand eine Vermischung juristischer und medialer Strategien statt, so beispielsweise, als die ARD im Juni 2009 in ihrer Sendung „Wie sicher ist die Beweislage gegen Demjanjuk?“ ehemalige BKA-Kriminalisten zu den Fälschungsvorwürfen gegen Quellen russischer Provenienz befragte. Kaum vorstellbar, dass einem erfahrenen, noch dazu juristisch geschulten Journalisten wie Wefing die Ambivalenzen dieser Art von Berichterstattung nicht aufgefallen sind.

Die Historikerin Angelika Benz, Expertin auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Lagerforschung, hat sich dem Prozess aus einer anderen Perspektive genähert. So versucht sie gar nicht erst, die vielen Ebenen und Erinnerungsschichten zu einem einheitlichen Narrativ zusammenzufügen. Vielmehr besteht ihr Konzept darin, dem Leser einerseits ein möglichst dichtes Bild einzelner Prozessszenen zu bieten, die andererseits immer wieder von historischen Reflexionen und kurzen Forschungsexkursen unterbrochen werden. Dieser montagehafte Aufbau ist gewöhnungsbedürftig, bietet aber nach einer gewissen Zeit des Einlesens den Vorteil, dass man vermehrt auf Konfliktlinien und Bruchstellen achtet, statt sich von der Dramatik des „Falls“ mitreißen zu lassen. Zudem ist Benz aufgrund ihrer fundierten Kenntnisse über die Realität in den Trawniki-Lagern in der Lage, die Diskrepanzen zwischen historischer und juristischer Wahrheitsfindung präzise herauszuarbeiten. Problematisch ist allerdings, dass sie in ihrer offensichtlichen Enttäuschung über die „Unzulänglichkeiten“ der Gerichtsverhandlung an diesem Punkt stehen bleibt. So fehlt dem Buch ein übergreifender Analyserahmen, der den Fall in die Forschungszusammenhänge der transnationalen Justiz einordnet oder der zumindest ansatzweise nach Antworten auf die Frage sucht, welchen Stellenwert der Demjanjuk-Prozess in der siebzigjährigen Nachgeschichte zum Holocaust einnimmt oder vermutlich eines Tages einnehmen wird.

Anmerkungen:
1 Obwohl sich die Strafverfolgung gegen Demjanjuk schon seit mehreren Jahrzehnten hinzieht, hatten sich bis zur Anklageerhebung weder Publizistik noch Wissenschaft für den Fall interessiert. Wichtige Publikationen, wie etwa der Bericht des New Yorker Anwalts Tom Teichholz, fanden zudem in Deutschland keinen Verlag: Tom Teichholz, The Trial of Ivan the Terrible. State of Israel vs. John Demjanjuk, New York 1990.
2 Christiaan Frederik Rüter, Demjanjuk-Prozess politischer Fehler erster Ordnung, in: Der Standard vom 23. Dezember 2009.

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