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Titel
Ammianus Marcellinus. Studien zum Geschichtsdenken im vierten Jahrhundert n. Chr.


Autor(en)
Brodka, Dariusz
Reihe
Electrum 17
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
zł 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Nobody can resist Ammianus Marcellinus“, wusste bereits Ronald Syme.1 Angesichts der zahlreichen Publikationen des letzten Jahrzehntes2 hat diese Aussage auch heute noch Gültigkeit. Das Hauptinteresse der neuesten Forschung richtet sich auf Erzählkunst und Geisteswelt des Ammianus. Diesem Thema wendet sich auch das neue Buch von Dariusz Brodka zu, eine „Untersuchung des Geschichtsdenkens des Ammianus Marcellinus“ (S. 12). Als Geschichtsdenken definiert er – wie bereits Alonso-Nuñez, dessen Arbeit zu Ammianus er aber nicht verwendet3 – „die Überlegung über den historischen Vorgang“ und somit „die Probleme und Faktoren, welche Ammian für historisch relevant hielt“ (S. 12).

Nach der Einleitung (S. 11–13), in der Brodka die für seine Thematik zentralen Forschungen präsentiert, folgt das einführende Kapitel „Miles quondam et Graecus“ (S. 15–31) mit einem Überblick zum Leben des Ammianus4 sowie einer Analyse der Aussagen über seine Geschichtskonzeption im Vergleich mit denen seiner Zeitgenossen. In dem Kapitel „Der Mensch und die metaphysischen Kräfte: Die teleologische Konzeption der römischen Geschichte“ (S. 32–40) werden die für das Verständnis des Ammianus zentralen Begriffe virtus und fortuna erläutert: Virtus verwendet Ammianus, um menschlichen Einfluss auf den Geschichtsverlauf zu verdeutlichen, während der heterogenere Begriff der fortuna (14,6,3–6) mit dem göttlichen Willen gleichgesetzt wird. Der ewige Bund von virtus und fortuna begründet für Ammianus Ewigkeit und Größe des Reiches, schließt allerdings einzelne Rückschläge wie den römisch-persischen Friedensvertrag von 363 oder die Niederlage von Adrianopel nicht aus. Ebenfalls häufig von Ammianus verwendet sind die Begriffe numen und deus. Mit ihnen beschreibt er den die Ewigkeit Roms garantierenden göttlichen Schutz, der von Ammianus – im Gegensatz zur als wankelmütig angesehenen fortuna – an keiner Stelle für Niederlagen verantwortlich gemacht wird. Ammians Eigenheit zeigt sich in einem Vergleich mit dem Lebensalterbild des Florus und den Interpretationen von virtus und fortuna bei Aurelius Victor und in der Historia Augusta.

Im Kapitel „Gallus – strafende Gerechtigkeit oder wankelmütige Fortuna?“ (S. 41–53) behandelt Brodka die Frage, ob das Ende des Gallus als Strafe der höheren Gerechtigkeit (14,11,24–26) oder als Folge der Wankelmütigkeit der fortuna (14,11,29) anzusehen sei. Nach Brodka konstruiert Ammianus ein Modell, in dem die Menschen stets über völlige Willens- und Entscheidungsfreiheit verfügen, deren Folgen aber dem Einfluss höherer Mächte unterliegen. Die zahlreichen Vorzeichen sind nur Demonstrationen des göttlichen Willens ohne Eigenaktivität. Die fortuna dagegen bildet keine Untereinheit der höheren Gerechtigkeit, sondern handelt unabhängig von moralischen Kategorien auch gegen „gute“ Menschen. Bei Ammianus liegt somit ein „Konglomerat verschiedener gedanklicher Konzepte“ vor, „die je nach Bedarf benutzt werden“ (S. 53) und die kein einheitliches Bild höherer Gerechtigkeit bilden.

In der Untersuchung zur Darstellung der „Schlacht bei Straßburg“ (S. 54–65) verdeutlicht Brodka Ammians Mittel zur Überhöhung der Leistungen Julians. Brodka zeigt auf, dass Ammianus in seinem Bericht Elemente des Panegyricus wie die amplificatio durch die einleitende Einordnung der Taten Julians unter die größten römischen Erfolge (16,1,2) verwendet. In der persönlichen Aktivität Julians manifestiert sich dessen durch die fortuna begünstigte virtus. Die Passivität der Generäle des Constantius bildet eine Zwangslage, auf die Julian reagieren muss. In „Julians Aufstand zwischen Zwangsläufigkeit und Willensfreiheit“ (S. 66–75) behandelt Brodka die Formen der Verzerrung bei der Darstellung der Erhebung. Ammians Ziel sei es nicht nur, Julian von der Verantwortung für die Usurpation freizusprechen, sondern diese als notwendiges Ergebnis des entstehenden Loyalitätskonfliktes darzustellen. Ammianus konstruiere eine Situation, die von Julian die Entscheidung zwischen Gehorsam gegenüber dem Kaiser und Schutz der ihm anvertrauten Gebiete vor der fortbestehenden Bedrohung durch die (nach Ammianus jedoch bereits durch Julian befriedeten) Barbaren erfordere. Der ihm im Traum erscheinende genius publicus hat den Charakter eines göttlichen Ratschlages, schränkt aber seine Entscheidungsfreiheit nicht ein. Wenngleich Brodkas Ergebnissen durchaus zuzustimmen ist, so bleibt doch zu bemerken, dass einige wichtige Forschungsarbeiten zur Usurpation Julians hier nicht herangezogen werden.5

Im umfangreichsten Kapitel „Plures consumptae sunt maioribus nostris aetates, ut interirent radicitus quae uexabant – Julians Perserfeldzug“ (S. 76–105) demonstriert Brodka, dass Ammianus, dessen Sichtweise von Wunschdenken geprägt sei, den Perserzug als gerechten Krieg und somit als notwendig darstellt, während er gleichzeitig Vorwürfe des Größenwahns gegen Julian entkräften will. In der Darstellung von Julians Tod zeigt sich Ammians deterministische Perspektive, aus der heraus er die Todesstunde als vorgegeben betrachtet, womit Brodka die These Wittchows, Julians Scheitern führe Ammianus auf den fehlerhaften Umgang mit den omina zurück, und die Rikes, sein Scheitern sei in der Abwendung von den Göttern begründet, widerlegt.6 Als einzigen Fehler Julians wertet Ammianus die Flottenverbrennung, doch sieht er selbst nach dem Tod Julians noch immer die Möglichkeit eines Erfolges, die erst mit der Politik Jovians endet. Die Betonung eines möglichen alternativen Geschichtsverlaufes – ein Rückzug in die Corduene (25,7,8) – dient laut Brodka dazu, von Julians Fehlern abzulenken.

Ob „Der Gotenkrieg und die Schlacht bei Adrianopel“ (S. 106–126) eine göttliche Bestrafung für Valens darstellen und welche Gründe zu dieser Niederlage führten, sind die beiden zentralen Fragestellungen des nächsten Kapitels. Ammianus betrachte Adrianopel trotz seiner Kritik an Valens nicht als göttliche Strafe; die hier erwähnten Furien seien im Kontext seiner umfangreichen Verwendung mythologischer Gestalten zu sehen. Auch stehe dem die Darstellung des Gotenkrieges als gerechtem Krieg (31,7,9) entgegen. Als Ursache der Völkerbewegungen nennt Ammianus nicht die Leitung der Hunnen durch eine göttliche Macht7, sondern deren Lebensart. Der auf die Darlegung des Furchtbaren angelegte Schlachtbericht stellt Valens als negatives Gegenbild zu Julian vor; Valens’ Unfähigkeit, als Einzelperson der Menge die notwendige Effizienz für den Erfolg zu verleihen, bildet für Ammianus den Hauptgrund für die Niederlage. Trotz des Abschlusses des Werkes mit Adrianopel ist Ammianus kein Pessimist, da er den Fortbestand Roms auch in Ermangelung menschlicher virtus durch die höchste Gottheit als garantiert betrachtet.

Im Kapitel „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“ (S. 127–134) untersucht Brodka das Element der Zufälligkeit bei Ammianus. Obwohl Ammianus menschliche Tätigkeit als unverzichtbar für jede historische Aktivität betrachtet, ermöglichen bei aller virtus erst die göttlichen Mächte den Erfolg. Die Relevanz der Momente Gelegenheit und Zufälligkeit stehen hierbei nicht zwingend im Widerspruch, wenngleich sich die Frage nach dem Bewusstsein dieser Problematik nicht abschließend beantworten lässt. Die oft genannte fortuna bildet gleichermaßen ein Stilmittel und eine Erklärung der Veränderlichkeit der Geschichte. Als Musterbeispiel für die Kategorie der Zufälligkeit zeigt Brodka die Erhebung des Prokop auf, dessen gesamte Usurpation von Ammianus als Kette von Zufällen dargestellt wird. Auch zu Prokop wären noch einige relevante Forschungen hinzuzufügen gewesen.8

Das Kapitel „Kaiser und Fatum“ (S. 135–141) untersucht das Verhältnis zwischen Herrscher und Wahrsagerei. Wenngleich Ammianus göttlichen Einfluss bei der Kaiserwahl postuliert, betrachtet er den Kaiser jedoch nicht als entrückt, sondern als – wie jeder Mensch – dem fatum unterworfen. Im Fazit (S. 142–148) betont Brodka, dass Ammianus seine Gegenwart als Krise werte, deren Bewältigung eine Rückkehr zum alten Zustand erfordere, da die mores die Grundlage für die Wirksamkeit menschlicher Aktivität bildeten. Das Hauptproblem des Reiches seien die moralischen Defizite des Kaisers, die sich auf das Gesamtreich übertragen. Im Gegensatz zu den meisten Autoren sei für Ammianus die pietas des Herrschers jedoch kein geschichtswirksamer Faktor.

Bei der Lektüre fielen dem Rezensenten kleinere Ungenauigkeiten auf: Dass Ammianus gegen den Bericht des Aurelius Victor, dem er immerhin die Bezeichnung scriptor historicus zugesteht (21,10,6), polemisiert (S. 54), erscheint wenig plausibel. Auch ist eine Lektüre Victors durch Ammianus bislang nicht bewiesen und erscheint dem Rezensenten insgesamt als unwahrscheinlich.9 Brodkas Annahme einer Benutzung des Eutropius durch Ammianus (S. 103, Anm. 397) ist die These einer gemeinsamen Quelle beider Historiker vorzuziehen.10 Dass Brodka kein Muttersprachler ist, wird aus einigen unkonventionellen Satzkonstruktionen deutlich11, die aber die Verständlichkeit des Textes nicht negativ beeinflussen.12 Alles in allem finden sich in Brodkas Arbeit zum Ammianus zahlreiche interessante Gedanken; das Buch erfordert allerdings einen aufmerksamen Leser, um diese nachvollziehen zu können. Mehrere wichtige Forschungen finden hier zwar keine Beachtung13, doch schadet dies der Substanz des Werkes nicht unbedingt.

Anmerkungen:
1 In seiner Rezension zu Alexander Demandt, Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, in: Journal of Roman Studies 58 (1968), S. 215–218, hier S. 215 (= Roman Papers 2, Oxford 1979, S. 724–731, hier S. 724).
2 Stellvertretend für die neueren Forschungen zu Ammianus seien nur die Kommentare der „Quadriga Batavorum“ genannt, die mittlerweile bis zu Buch 27 reichen.
3 Der Ort der Definition: José Miguel Alonso-Nuñez, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Geschichtsbild und Geschichtsdenken im Altertum, Darmstadt 1991, S. 1. Sein Ammianbuch: José Miguel Alonso-Nuñez, La vision historiografica de Ammiano Marcelino, Valladolid 1975.
4 Hinzufügen ließen sich noch die Überlegungen Glen W. Bowersocks über eine alexandrinische Herkunft des Ammianus (Rezension von Matthews, The Roman empire of Ammianus, in: Journal of Roman Studies 80, 1990, S. 244–250) und den Widerlegungsversuch Pedro A. Barcelós, Überlegungen zur Herkunft des Ammianus Marcellinus, in: Vogel-Weidemann, Ursula (Hrsg.), Charistion C. P. T. Naudé, Pretoria 1993, S. 17–23.
5 Hier sind insbesondere zu nennen: Joachim Szidat, Die Usurpation Iulians. Ein Sonderfall?, in: François Paschoud / Joachim Szidat (Hrsg.), Usurpationen in der Spätantike, Stuttgart 1997, S. 63–70; Sandra Seibel, Typologische Untersuchungen zu den Usurpationen der Spätantike, Diss. Duisburg-Essen 2004, S. 79–86.
6 Frank Wittchow, Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus, München u.a. 2001, S. 214; R. L. Rike, Apex omnium. Religion in the Res gestae of Ammianus, Berkeley 1987, S. 62.
7 Brodka deutet auf Basis des Berichtes des Zosimos an, dass wohl auch Eunapios die Wanderungen der Hunnen nicht mit göttlichen Ursachen erklärte (S. 112, Anm. 426), lässt diese Frage aber unbeantwortet. Allerdings ist davon auszugehen, dass an dieser Stelle der Bericht des Eunapios deutliche Überschneidungen mit dem des Zosimos aufweist, wie ein neu entdecktes Eunapiosfragment aus der Suda belegt, vgl. Thomas M. Banchich, An identification in the Suda. Eunapius on the Huns, in: Classical Philology 83 (1988), S. 53. Brodkas These, dass erst Priskos von göttlichen Ursachen der Hunnenwanderung ausgegangen sei (S. 111), erhält somit eine zusätzliche Stütze.
8 Zu Prokop vgl. zuletzt Konstantin Olbrich, Wahrer Kaiser und Kaiserling. Herrschaftsprogrammatik des Kaisers Procopius im Spiegel seiner Münzprägung (365–366 n. Chr.), in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 58 (2008), S. 89–100. Speziell zu Prokop bei Ammianus Rudolf Till, Die Kaiserproklamation des Usurpators Procopius (Ein Beitrag zu Ammian 26,6,15), in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 75–83 und jetzt auch Bruno Bleckmann, Einige Vergleiche zwischen Ammian und Philostorg: Gallus, die imitatio Alexandri Julians und die Usurpation Prokops, in: Doris Meyer (Hrsg.), Philostorge et l'historiographie de l'Antiquité tardive, Stuttgart 2011, S. 79–92 sowie Joachim Szidat, Usurpator tanti nominis, Stuttgart 2010, insbesondere S. 401f.
9 Es ist auffällig, dass Victor den jüdischen Aufstand unter Gallus sowie den Namen des Anführers Patricius kennt (Caes. 42,11), während der die Regierung des Gallus ausführlich behandelnde Ammianus, der den Juden keineswegs extrem freundlich gegenübersteht (vgl. 22,5,5), diese Ereignisse vollkommen übergeht.
10 Unterschiede bei Klaus Rosen, Ammianus Marcellinus, Darmstadt 1982, S. 169–172, Gemeinsamkeiten bei Richard W. Burgess, A common source for Jerome, Eutropius, Festus, Ammianus, and the Epitome de Caesaribus between 358 and 378, along with further thoughts on the date and nature of the Kaisergeschichte, in: Classical Philology 100 (2005), S. 166–192.
11 Als Beispiele seien genannt: „Abzulehnen ist auch die Hypothese von Barnes […], dass Ammian ein Christ ursprünglich gewesen sei, der sich zum Heidentum bekehrt habe“ (S. 15, Anm. 7). „Ammian bewertet nicht besonders hoch das Niveau des historischen Wissens seiner Zeitgenossen.“ (S. 27). „Ammian ist nicht ein Pessimist“ (S. 29).
12 In der Zitation fanden sich nur drei Mängel: Eine antiochenische Herkunft bestreitet nicht Fornara 1991 (S. 15, Anm. 4), sondern 1992a; Liebeschuetz 1979 (S. 98, Anm. 378) und Burns 1973 (S. 117, Anm. 445) werden im Literaturverzeichnis nicht aufgelöst; gemeint sind: John H. W. G. Liebeschuetz, Continuity and change in Roman religion, Oxford 1979 und Thomas S. Burns, The battle of Adrianople. A reconsideration, in: Historia 22 (1973), S. 336–345.
13 Als Beispiel sei noch genannt: Narcisco Santos Yanguas, Fortuna y fatum. La contingencia en el desarrollo de la historia según Amiano Marcelino, in: Cuadernos de filologia clásica, estudios latinos 27 (2007), S. 93–105.

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