Cover
Titel
Zurück ins Leben. Das internationale Kinderzentrum Kloster Indersdorf 1945-46


Autor(en)
Andlauer, Anna
Erschienen
Nürnberg 2011: Antogo Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Buser, Berlin

Der Zweite Weltkrieg war auch ein Krieg gegen die europäische Zivilbevölkerung. Niemals zuvor waren Kinder und Jugendliche gezielt verfolgt, ermordet und ihren Eltern entrissen worden. Angesichts dieser einmaligen Dimension der Verbrechen erstaunt es, dass bis heute nur wenige quellengestützte Arbeiten existieren, die sich mit der Geschichte der verfolgten Kinder im Nationalsozialismus auseinandersetzen.1 Weitgehend unbekannt ist daher auch, dass die westalliierten Streitkräfte, federführend durch die USA initiiert, 1946 mit dem „Child Search Branch“ innerhalb des Suchdienstes eine gesonderte Abteilung unterhielten, die sich der spezifischen Herausforderungen der überlebenden Kinder annahm. Sie war die zentrale Instanz im befreiten Europa, deren Mitarbeiter für die Erstversorgung und das Aufspüren der „Unaccompanied Children“, zu denen „germanisierte“ oder jüdische Kinder, zur Zwangsarbeit verschleppte sowjetische Minderjährige, aber auch im „Reich“ geborene Kinder von Angehörigen der Vereinten Nationen zählten. Auch für die weiteren Schritte im Leben dieser Kinder, insbesondere die Repatriierung und Emigration in Drittländer, hatten sie die Zuständigkeit. In sogenannten Children´s Centers, die durch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) (ab 1947: International Refugee Organization/IRO) unterhalten wurden, erfolgte die operative Arbeit „im Feld“ mit den Child Survivors, das heißt die Erfassung und Betreuung von Kindern aller Nationalitäten. Das erste wurde noch 1945 im Kloster in Indersdorf bei Dachau eingerichtet. Die Gymnasiallehrerin Anna Andlauer aus Markt Indersdorf ist nun die Erste, die die Geschichte dieser Einrichtung als Internationales Kinderzentrum nachgezeichnet hat.2 In erster Linie gestützt auf die Erinnerungen der US-Amerikanischen Sozialarbeiterin Greta Fischer (geboren in Budišov/Tschechien 1910, gestorben 1988 in Jerusalem), die sie im Archiv des United States Holocaust Memorial Museums aufgespürt hat3, zeichnet Andlauer ein dichtes Bild der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen im Kloster. Mehrheitlich handelte es sich bei ihnen um 12- bis 15-jährige ehemalige KZ-Häftlinge, die in Auschwitz oder anderen Konzentrationslagern Massenselektionen, Zwangsarbeit und den Verlust der Angehörigen erleben mussten und überlebt hatten. Das Kloster in Indersdorf fungierte als erste Auffangstation, wo sie eine physische und psychische Erstversorgung erhielten. Andlauer zeigt zum einen den Rahmen, in dem die Rehabilitationsmaßnahmen für die Kinder erfolgten, und zeichnet die heute minimal erscheinenden Schritte nach, die für die Kinder jedoch von großer Bedeutung waren. So erhielten sie regelmäßige Mahlzeiten, individuelle Kleidung, wurden regelmäßig durch Mediziner untersucht und konnten sich ihre Zimmergenossen selbst erwählen. Gerade die jüngsten unter den Indersdorfer Insassen benötigten persönliche Zuwendung. Insbesondere die ihren Familien geraubten und zur „Germanisierung“ verschleppten Kinder wiesen deutliche Entwicklungsdefizite auf und benötigten einen konstanten Kontakt zu ihren Bezugspersonen. Anhand der Aufzeichnungen von Greta Fischer wird an vielen Stellen deutlich, dass viel Geduld und Aufmerksamkeit der UNRRA-Mitarbeiter notwendig waren, die sich mit einer einzigartigen historischen Situation konfrontiert sahen und sich bei Durchführung ihrer anspruchsvollen Aufgaben auf kein Vorbild beziehen konnten. Konflikte waren daher vorgezeichnet. So mussten sie sich mit alltäglichen Fragen wie „Sollen sich die Überlebenden an der Hausarbeit beteiligen“ oder der Frage der Trennung von jüdischen und nicht-jüdischen Kindern auseinandersetzen.

Greta Fischer, die als „Principal Welfare Officer“ im Kloster Indersdorf tätig war, hatte sich bei Kriegsende freiwillig bei der UNRRA für die Arbeit in Europa beworben und zeichnete ihre Erinnerungen noch in Indersdorf auf. Als das Kinderzentrum 1948 nach Prien am Chiemsee umzog, wurde sie dort dessen Leiterin. Die Zahl der Kinder schwankte im ersten Jahr erheblich: bis zu 200 Jugendliche und junge Erwachsene sowie bis zu 76 Kleinkinder wurden durch das UNRRA-Team und die Nonnen des Klosters betreut.

Eine Stärke des Buches ist es, dass die Geschichte der durch den Nationalsozialismus verfolgten Kinder nicht auf ihre Gewalterfahrungen reduziert bleibt, sondern sie auch als eigenständige Persönlichkeiten mit ihrer individuellen Geschichte dargestellt werden. Zudem zeigt die Lokalstudie eindrucksvoll und anhand empirischer Erfahrungen, welche Auswirkungen Verfolgung, KZ-Haft oder die gewaltsame Trennung von Kindern und Jugendlichen auf die Minderjährigen haben konnten. Dadurch werden abstrakte Diskussionen über traumatisierte Kinder auf eine konkrete Ebene gebracht. Es ist auch kein Nachteil, dass die Grundlage des Buches nur eine Quelle ist. Fischers Aufzeichnungen sind zwar nur ein Beispiel dafür, wie die Helfer internationaler Organisationen ihre eigenen Definitionen von Kindeswohl und ihre individuellen Vorstellungen für die Zukunft der Kinder in ihre Arbeit einbrachten, aber durch die emotionale subjektive Erzählung werden die Schicksale der Kinder anschaulich.4

Abschließend stellt Andlauer einige Biographien der ehemaligen Insassen vor, zu denen sie einen regen Kontakt pflegt. Ihr ist es auch zu verdanken, dass die ehemaligen Indersdorfer seit 2008 alljährlich zu den durch die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg initiierten Treffen von Überlebenden zurückkehren, eine Gelegenheit, bei der Anna Andlauer Interviews durchführen konnte und in deren Kontext 2009 ein Dokumentarfilm entstanden ist. 5 Mittlerweile wurde auch das Interesse des United States Holocaust Memorial Museum in Washington geweckt. Mit dem Projekt „Remember Me: Displaced Children of the Holocaust“ startete es 2011 eine Kampagne zur Identifizierung von Kindern, deren bislang namenlosen Bildern eine Geschichte zugeordnet werden soll. Im Juli 2011 fand nun auch zum ersten Mal ein Symposium unter dem Titel „Was hilft Kindern, ihr späteres Leben zu meistern?“ statt. Die Workshops fanden unter Leitung der ehemaligen Indersdorfer Kinder statt, die eigens aus Großbritannien, USA oder Israel angereist waren. Ein weiterer Beweis dafür, dass das Interesse an der Nachkriegsgeschichte von Kindern und Jugendlichen derzeit Konjunktur hat.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel: Debórah Dwork, Kinder mit dem gelben Stern. Europa 1933-1945, München 1994, S. 215-253 (das Original erschien 1991 in New Haven/USA unter dem Titel „Children with a Star“); Birgit Schreiber, Versteckt. Jüdische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und ihr Leben danach, Frankfurt am Main 2005; Verena Buser, Überleben von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen, Berlin 2011.
2 Ab 1946 erfolgte im Zuge des Harrison-Berichtes die Trennung von jüdischen und nicht-jüdischen DPs. Auch in den Kinderzentren und in Indersdorf lebten nun ausschließlich jüdische Kinder und Jugendliche.
3 Archiv des USHMM, Greta Fischer Papers 1945-1985, Call Number: RG-19.034; Acc. 1993.A.0031.
4 Ausführlich dazu: Tara Zahra, The Lost Children. Reconstructing Europe’s Families after World War II, Cambridge 2011.
5 Bettina Witte/Anna Andlauer, Aus der Hölle ins Leben, ZDF 2009.

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