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Titel
Vorbilder.


Autor(en)
Macho, Thomas
Erschienen
Paderborn 2011: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Merziger, Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik, Freie Universität Berlin

Kulturwissenschaftliche Bücher haben es nicht immer leicht, wenn sie sich der Kritik außerhalb des Faches stellen müssen. Anlässlich der Veröffentlichung der Gutachten zu Friedrich Kittlers „Aufschreibesysteme“ im letzten Jahr forderte etwa Jürgen Kaube von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass die Kulturwissenschaft sich nun endlich einer grundlegenden Frage zu stellen habe: „Stimmt das?“1 In derselben Woche rezensierte der Soziologe Detlev Claussen in der „Süddeutschen Zeitung“ Fritz Breithaupts Band zur „Kultur der Ausrede“. Er verzweifelte an der Collage von chronologisch und geografisch höchst diversen Beispielen und richtete, angesichts des „akademistischen Apfelmuses“ um Fassung bemüht, die Frage „Wozu?“ an die Kulturwissenschaft.2

Beide Autoren könnten ihre Fragen sicher auch Thomas Macho stellen. Denn der durchmisst in seinem voluminösen Essayband „Vorbilder“ die Jahrtausende von der „grauen Vorzeit“ bis zu Britney Spears mit einem Federstrich. Da auch Thomas Macho nicht Spezialist für Alles und Jeden sein kann, ist Einiges – wie er oft genug selbst betont – zumindest spekulativ. Wenn man aber mit solch grundlegenden Fragen ansetzte, liefe man Gefahr, die Beiträge eines ganzen Faches mit seiner spezifischen Vorgehens- und Darstellungsweise zu übersehen. Thomas Macho will seine Essays nun auch nicht als feuilletonistisches Glasperlenspiel verstanden wissen, sondern als Beitrag zu einer „historischen Bild-Anthropologie“ (S. 15), und daran sollte er gemessen werden.

Macho geht von der Diagnose aus, dass in den historischen Wissenschaften eine Dimension der Bilder fehle: die Zukunft. Gerade in den Kulturwissenschaften fixiere man sich auf die Vergangenheit und stelle Theorien des kulturellen Gedächtnisses in den Mittelpunkt, „als würden sich Kulturen bloß durch ihre Memorialisierungstechniken, Strategien der Erzeugung bleibender Erbschaften, unterscheiden“ (S. 21). Auch in der Gesellschaft insgesamt, so beklagt Macho, stehe allenfalls die nahe Zukunft zur Diskussion, die in Konjunkturprognosen und Trends beschrieben werde, und der Blick reiche oft „nicht weiter als eine Legislaturperiode oder eine Fußballweltmeisterschaft“ (ebd.).

Macho will nun den (vergangenen) Bildern diese Zeitdimension wiedergeben. Das soll mit einer lose gereihten Geschichte von Vorbildern gelingen, die unser alltägliches Verständnis des Mediums „Bild“ hinter sich lässt. Denn ursprünglich habe man in ihnen nicht nur rationale oder pädagogische Leitbilder gesehen, sondern wirkliche „Vor-Bilder“, erfahrbare und lebendige Bilder der Zukunft. Die Sage von Pygmalion, dessen Statue Galatea (mithilfe der Venus) zum Leben erwachte, berichte von diesem grundverschiedenen Bildverständnis. Marmor werde „in atmendes Fleisch“ verwandelt, „um fortan neu und ganz anders zu leben – begehrend, liebend, Leben schenkend“ (S. 448). Diese erstaunliche Macht der Bilder leitet Macho von der „Geburt der bildenden Künste aus dem Geiste des Totenkultes“ (S. 59) ab. Das erste Bild sei die Leiche gewesen, die für die Betrachter das vergangene Selbst festgehalten habe. Die frühen Kulturen hätten sich um die Konservierung dieses Bildes mit Wachsmasken oder Sarkophagen bemüht, auch um den Toten an dieser Stelle festzusetzen und seine unkontrollierte Wiederkehr zu verhindern. Als gebannter Wiedergänger im Bild sei der Tote dann Stütze der Erinnerung, Instanz des Trostes, aber mit seinem Rat auch eine verbindliche Orientierung für die Zukunft gewesen.

Macho belässt es nicht bei der Beschreibung vergangener Bildverwendungen und -konzepte, sondern es geht ihm immer auch um die Frage, was aus den bildmagischen Auffassungen geworden ist. Zu diesem Zweck verfolgt er deren Entwicklung durch die Jahrhunderte. Er beschreibt unsere Beziehung zu Statuen und Puppen, die ausgehend von dem Pygmalion-Mythos über die pädagogische Version George Bernard Shaws und das medizinische Experiment von Mary Shelleys „Frankenstein“ bei den mechanischen Puppen in Steven Spielbergs „Artifical Intelligence“ angekommen sei. Das Vorbild der göttlichen Mütter, die Fruchtbarkeit angeregt hätten, gehe in den magisch aufgeladenen Marienkult über, der in Frauenorden Emanzipationsprozesse angestoßen habe. Es lasse sich in der nationalen Jungfrau Jeanne d’Arc wiederfinden, für die die jungen Männer gestorben seien, und ende schließlich bei der französischen Marianne, deren Büste inzwischen periodisch neu gestaltet wird – 2003 war eine Fernsehmoderatorin das Vorbild. Überhaupt hätten Porträts heute ihre Wirkung eingebüßt: Das „zweite Gesicht“ sei aus diesen Bildern verschwunden und nur die „Visage“ übrig geblieben. Die Wendung „ein Gesicht haben“ bezeichne nicht mehr die Fähigkeit, Geistererscheinungen und andere Visionen wahrzunehmen, sondern diene allein als Beschreibung eines normgerechten Aussehens, das zur Abbildung in Magazinen tauge. Schließlich verliere auch der Tod, der die Macht der Bilder begründet habe, an Bedeutung. Von der antiken melete thanatou, der meditativen Vorwegnahme des eigenen Todes, die gelassen durch die Welt geleitet habe, sei nichts geblieben. Spätestens mit Goethes „Werther“ entwickelte sich die Imagination des eigenen Todes zur folgenreichen Mode, und inzwischen sei sie in der Kunst gar zu einem deathstyle, zu einem eitlen, wirkungslosen Umkreisen des Themas verkommen.

An Machos Reihungen wird offensichtlich, dass seinen Essays eine Verfallsgeschichte zugrunde liegt. Bereits Platons Höhlengleichnis stellt für ihn den Wendepunkt in der Geschichte der Vorbilder dar. Von der Idee, bei Bildern handele es sich nur um Schattenspiele an einer Höhlenwand, rühre das inzwischen allgegenwärtige „Misstrauen gegen den Verkörperungsanspruch der Bildwerke“ (S. 60) her. Von nun an habe man zwischen Urbild und Trugbild, der Sache selbst und dem Abbild unterschieden. Platons Bildkonzept sei aber noch weiter beschnitten worden, indem Vorbilder nur noch als bloße Modelle verstanden würden, an deren Normen sich der Mensch selbst ausrichte und das Vorgegebene bloß reproduziere. So sei das unkontrollierbare bildmagische Verständnis, das die Bilder eines Zeitenbruchs präsent gehalten habe, mit dem beschnittenen Neoplatonismus unserer Tage in eine faschistische Biopolitik gemündet, die anhand der Vorbilder das Unreine vom Reinen trenne, selektiere und züchte. Das Bild „zwingt dem Betrachter seinen eigenen Formwillen auf“, es „befiehlt ihm gleichsam, sich selbst in Form zu bringen“, „nicht der Stein muss Fleisch werden, sondern das eigene Fleisch muss versteinern“ (S. 448).

Erklärungen für diesen Wandel sind in den Essays nicht leicht auszumachen. Macho bettet den Prozess des Zukunftsverlustes der Bilder in eine voraussetzungsreiche, aber nicht diskutierte Geschichte der Rationalisierung im Zuge der Aufklärung ein. Wichtiger aber ist ihm immer wieder das geläufige Narrativ der Medialisierung: Die technische Reproduzierbarkeit habe die Bilder entwertet, ihre weite Verbreitung und Marktförmigkeit einen Verlust von Seltenheit, Besonderheit und Aura bewirkt. Dadurch hätten die Bilder ihr Potenzial verloren, Bedeutendes, nicht Normgerechtes und Undenkbares darzustellen.

Dieser Abgesang auf Rationalität und Aufklärung, Demokratie und Massenmedien erscheint im Tonfall und in seiner Sehnsucht nach nebulösen Ursprüngen dann doch bekannt. So kann Macho einen Artikel aus der „gleichgeschalteten“ „Berliner Illustrirten Zeitung“ von 1933 nahtlos in seine Geschichte einfügen. Die Illustrierte prangerte damals die Seelenlosigkeit US-amerikanischer Schönheitswettbewerbe an. Die auftretenden Models seien „aus den Zirkeln eines großstädtischen Vergnügungsbetriebes“ erwachsen, der „zur Entpersönlichung und Gleichmacherei der Menschen geführt“ habe. Deshalb könne man diesen Mädchengesichtern „ihre Herkunft, ihre Heimat, ihr Volkstum“ nicht mehr ablesen (zitiert nach S. 194). Macho selbst sieht diese Stufe mit den Supermodels seit den 1980er-Jahren erreicht. Diese könnten endgültig nicht mehr „als nationaler Körper figurieren“, da „die Modewaren und Markenprodukte, die das Model trägt und personifiziert“, international zirkulierten (S. 196). Supermodels seien zu Markenzeichen „jenseits von Lebensalter, Geschlecht oder nationaler Zugehörigkeit“ (S. 204) geworden.

Problematischer als solch irritierende Verwandtschaft ist jedoch, dass die Erzählung vom Verfall der Bildwelten und vom Verlust der Aura prominent im Vorwort und in programmatischen Essays präsentiert wird. Dadurch treten die wichtigen Hinweise auf eine aktuelle alternative Bildbedeutung und -nutzung in den Hintergrund. Macho hintertreibt damit ein Stück weit sein eigenes Projekt, die Bildwissenschaft für die Dimension der Zukunft zu sensibilisieren. Hier aber liegt der eigentlich Beitrag des Buches und man hätte sich gewünscht, dass die verstreuten Andeutungen auch zu einer These gebündelt worden wären, etwa dass bildmagische Auffassungen – vielleicht nur in Residuen, vielleicht aber auch parallel – überleben und für unseren Umgang mit Bilder eben doch nicht bedeutungslos sind.

Denn Macho selbst stößt in seinen Essays immer wieder darauf, dass die Erzählung vom Zukunftsverlust und der Entwertung von Bildern in einer entzauberten Welt zumindest löchrig ist, sogar in der Massenkultur. Ein Werk wie „Carmen“, das, würde es heute uraufgeführt, eher im Friedrichstadtpalast als in der Staatsoper seinen Platz hätte, kann Macho aufgrund des Reichtums an Bezügen zu einem wirkmächtigen Mythos aufladen. Die Filme Alfred Hitchcocks liest er als „ernüchternden Kommentar zur Bildmagie“ (S. 257), da Hitchcock in „Psycho“ und „Vertigo“ die Nachbilder der Toten als Vorbilder (für einen Mord) beschwört. „Neue Medien“ tauchen in seinen Essays immer wieder als halluzinatorische Medien auf; die Fotografie macht Geister sichtbar, Tonbänder und Radio empfangen die Stimmen aus dem Jenseits und dem All, das Kino beschreibt er „als magisches Medium einer Wiederkehr der Toten“ (S. 340), der Film sei das Medium der Doppelgänger schlechthin, da die Rezeption auf einer Projektion des Bewusstseins auf die Leinwand beruhe. In der Kunst findet Macho dann auch alternative Wege der Bildproduktion. Anselm Kiefers Bildreihe „Heroische Sinnbilder“, auf denen sich der Künstler mit erhobener Rechter neben schwebenden Denkmälern zeichnet, liest er als Opposition gegen die Heldenbilder, die das Fleisch am Stein ausrichten wollten. Stephan Balkenhols irritierende Holzfiguren beschreibt er als „Volksheilige“, die nicht für etwas stehen, sondern wieder die Sache selbst verkörpern. Nicht zuletzt scheint auch den Rezipienten die Magie der Bilder noch sehr präsent zu sein. Davon zeugen die Aggressionen, die Wahlpalakte und Werbeposter in Schmierereien auf sich ziehen, die offenbar ganz direkt auf das Bild als mächtiges Idol zielen.

Die Leser sollten also trotz des raunenden Kulturpessimismus aufmerksam bleiben, und das fällt angesichts der eleganten Sprache, der anregenden Exkurse und der hervorragenden Abbildungen nicht schwer. Dann nämlich rückt „Vorbilder“ nach und nach eine durchaus politische Dimension der Bilder in den Blick, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eher am Rand steht. Bilder erscheinen nun nicht mehr als bloße Abbilder sondern auch wieder als „Vor-Bild“, als folgenreiche Verkörperung von Zukunft. Damit ist der Band in der Tat ein bedeutender und origineller Beitrag zu einer historischen Bild-Anthropologie, weniger eine methodische Anleitung zur Analyse denn Hinweis auf einen spezifischen Verwendungszusammenhang der Bilder.

Anmerkungen:
1 Jürgen Kaube, Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren. Spucken hilft nicht, Herr Kollege!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2012.
2 Detlev Claussen, Eva, Adam, Apfelmus. Ach, Kulturwissenschaft. Fritz Breithaupts „Theorie“ der Ausrede, in: Süddeutsche Zeitung, 24.04.2012.

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