M. Steinseifer: „Terrorismus“ zwischen Ereignis und Diskurs

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Titel
„Terrorismus“ zwischen Ereignis und Diskurs. Zur Pragmatik von Text-Bild-Zusammenstellungen in Printmedien der 1970er Jahre


Autor(en)
Steinseifer, Martin
Reihe
Reihe Germanistische Linguistik 290
Erschienen
Berlin 2011: de Gruyter
Anzahl Seiten
435 S., 62 SW-Abb.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Svea Bräunert, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

„Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht“, so Susan Sontag.1 Bildlegenden schreiben fest und schreiben vor, obwohl sie dem Bild als solches lediglich zugeordnet sind. Damit erwächst ihnen die eigentümliche Macht, Betrachter/innen zu Leser/innen zu machen und ihr Sehen und Wissen zu lenken. Zugleich geben Bilder den Texten eine Anschaulichkeit und Präsenz, die Worte nur selten erlangen können. Das ist nicht zuletzt bei journalistischen Fotografien der Fall, die schon lange wichtiger Bestandteil der massenmedialen Berichterstattung sind. Was eine solche Interaktion von Text und Bild für die Wahrnehmung des Linksterrorismus der 1970er-Jahre bedeutet, hat Martin Steinseifer in seiner jetzt als Buch vorliegenden Dissertation untersucht. Gegenstand der Arbeit ist die Berichterstattung über die Rote Armee Fraktion (RAF) in den bundesrepublikanischen Printmedien der 1970er-Jahre, wobei sich Steinseifer insbesondere auf die Illustrierten „stern“ und „Quick“ sowie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ konzentriert. Die Berichterstattungen ausgewählter Tageszeitungen („Bild“, „Welt“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“) ergänzen das Spektrum.

Das Buch fügt sich in eine Reihe von Veröffentlichungen ein, die sich mit dem Zusammenhang von RAF und Massenmedien beschäftigen.2 Steinseifer folgt diesen Analysen und hebt sich zugleich deutlich von ihnen ab. Sein Interesse gilt nicht der Medienberichterstattung und Medienereignisgeschichte allgemein, sondern dem ganz konkreten Zusammenspiel von Text und Bild. Es geht ihm um die Frage, „welche Rolle Bilder in der Zusammenstellung mit Texten bei der ereignisbezogenen Konstitution von Bedeutungen und Evidenzen im Diskursverlauf spielen“ (S. 5). Steinseifers Ziel ist es, das Format Printmedium systematisch als Gegenstand von Text-Bild-Zusammenstellungen zu ergründen und im Zuge dessen einen theoretischen Apparat zu entwickeln, der auch über den konkreten Gegenstand RAF hinaus Gültigkeit beanspruchen kann.

Methodisch stützt sich Steinseifer auf Ansätze aus der Linguistik, insbesondere aus dem Bereich des amerikanischen Pragmatismus. Wichtigste Bezugspunkte sind für ihn die Zeichentheorien von Charles Sanders Peirce und George Herbert Mead. Gerade Peirces Dreischritt von Ikon, Index und Symbol hat auch außerhalb der Linguistik Karriere gemacht. Die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss hat mit ihrem zweiteiligen Essay „Notes on the Index“ die Fundamente für jene enge Verknüpfung von Fotografie und Index gelegt, die das Sprechen über Fotografie bis heute bestimmt (während Peirce selbst diesen Punkt nur am Rande erwähnte).3 Steinseifer kommt auf solche kunsthistorischen Tradierungen der Peirce’schen Zeichenphilosophie kaum zu sprechen; nur kurz verweist er auf Roland Barthes’ Diktum von der Fotografie als Botschaft ohne Code, auf das sich auch Krauss bezieht. Dennoch folgt er durchaus einem Verständnis von Fotografie als Index, wenn er beispielsweise von einem „mit der Technik der Fotografie verbundenen indexikalischen Evidenzeffekt“ spricht (S. 145). Und er leistet das, was in der bildwissenschaftlichen Adaption von Ikon, Index und Symbol manchmal verloren zu gehen droht, nämlich eine sorgfältige Lektüre von Peirces Schriften (und einer ganzen Reihe weiterer Ansätze), die deren Komplexität gerecht wird. Das Ergebnis ist ein theoretischer Apparat, der die Differenzen von Bild und Text wahrt und zugleich anerkennt, dass ihr Zusammenwirken essentiell ist für das, was sich in und mit den Printmedien als Vorstellung vom Terrorismus konstituiert.

Zeitlich beschränkt sich Steinseifer in seinen Analysen auf zwei Zeiträume, die im Hinblick auf die Geschichte der RAF besondere Relevanz besitzen. Dabei handelt es sich erstens um jene Wochen im Mai und Juni 1972, in denen die RAF ihre erste Anschlagsserie verübte und die meisten ihrer Mitglieder verhaftet wurden, sowie zweitens um die Ereignisse im so genannten Deutschen Herbst 1977. Während es bei der Lektüre der Medienberichte im ersten Fall um die Frage geht, wie Terrorismus als Ereigniszusammenhang in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert wurde, steht im zweiten Fall „die Konstitution eines Höhepunktes durch die Einordnung aktueller Ereignisse in einen bereits etablierten Zusammenhang und dessen weitere Entgrenzung“ (S. 267) im Mittelpunkt. In beiden Fällen verbindet Steinseifer detaillierte Einzelanalysen mit der Weiterentwicklung theoretischer Konzepte zum Verhältnis von Text und Bild. Hierzu bezieht er sich sowohl auf bereits bekannte und in der Forschung diskutierte Beispiele, wie die Gefangenenbilder von Hanns Martin Schleyer oder das Format des Fahndungsplakats, als auch auf Bildtypen, denen bisher nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, obwohl sie für die öffentliche Wahrnehmung der RAF mindestens ebenso aufschlussreich sind; hierzu zählen etwa Tatortdarstellungen und Waffenbilder.4

Wie die Lektüren zu diesen Fallbeispielen verdeutlichen, wurden im Zusammenspiel von Text und Bild Bedeutungen und Evidenzeffekte konstituiert, die sich im Lauf der Zeit zu Schlüsselbildern der RAF-Geschichte verdichteten. Steinseifer arbeitet einerseits wiederkehrende Muster heraus, die sich inzwischen als massenmedial gestütztes Wissen über die RAF etabliert haben. Andererseits ruft seine Durchsicht von Printmedien der 1970er-Jahre auch in Erinnerung, dass neben den Schlüsselbildern anfangs noch eine ganze Reihe weiterer Bilder existierte, die mittlerweile weitestgehend vergessen sind. Indem Steinseifer sie als Reproduktionen zugänglich macht, werden Alternativen sichtbar. Damit wird Steinseifer seinem eigenen Anspruch gerecht, einen „Beitrag zu einer wissenschaftlichen Historisierung des ‚linken Terrorismus’ in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 16) aus der Perspektive einer Medienereignisgeschichte zu leisten, die sich nicht darauf beschränkt, „Nacherzählung des bereits in den Medien Erzählten zu sein, sondern [...] sich um die systematische Rekonstruktion von Formen und Prozessen des Bekannt- und Evidentmachens“ bemüht (S. 20).

Zusammen mit der ausführlichen, in die Bereiche „Theorie“ bzw. „Terrorismus und Geschichte“ unterteilten Bibliographie sowie den zahlreichen Abbildungen und Querverweisen präsentiert sich Steinseifers Buch als materialreiche Publikation, die Leser/innen aus unterschiedlichen Disziplinen interessieren dürfte. Zwar mag der methodische Zugang über Ansätze aus dem Bereich des amerikanischen Pragmatismus gerade für jene Leser/innen fremd sein, die Bild und Text eher aus kunst- und mediengeschichtlicher Perspektive zu betrachten gewohnt sind. Doch macht es die Gliederung des Texts möglich, sich je nach Interesse auf ausgewählte Aspekte zu konzentrieren. Inwiefern der theoretische Apparat, den Steinseifer unter Rückgriff auf Linguistik, Medien- und Bildwissenschaft entwickelt, auch auf andere Ereigniszusammenhänge angewendet werden kann, wird die Zukunft zeigen. Für den engeren Zusammenhang von RAF und Printmedien hat Steinseifer auf jeden Fall einen wichtigen Beitrag geleistet, der auf komplexe Weise sichtbar macht, wie sich das Phänomen RAF als Produkt von Text-Bild-Zusammenstellungen konstituiert hat und sich in Prozessen des steten Wiederholens als Serie von Schlüsselbildern des Terrorismus fortschreibt.

Anmerkungen:
1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003, Tb.-Ausg. Frankfurt am Main 2005, S. 17.
2 Klaus Weinhauer / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt am Main 2006 (rezensiert von Sonja Glaab, 27.2.2007: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-136> [3.12.2011]); Hanno Balz, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt am Main 2008 (rezensiert von Jörg Requate, 30.4.2009: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-077> [3.12.2011]); Andreas Elter, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt am Main 2008 (rezensiert von Cordia Baumann, 1.8.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-075> [3.12.2011]).
3 Rosalind Krauss, Notes on the Index. Seventies Art in America. Part 1, in: October 3 (1977), S. 68-81; dies., Notes on the Index. Seventies Art in America. Part 2, in: October 4 (1977), S. 58-67. Mit „Index“ ist ein unmittelbares Verweissystem bzw. eine körperliche Anwesenheit gemeint, die als direkte materielle Verbindung zwischen Bild und Objekt besteht. Steinseifer selbst bezeichnet Indizes mit Rekurs auf Peirce als „Zeichen, die ‚in einem Folge-Verhältnis zum Bezeichneten oder Gemeinten’ stehen“ (S. 76) und die auf Objekte verweisen, „ohne sie selbst näher zu bestimmen“ (S. 80). Die Nähe von Fotografie und Index geht maßgeblich auf die analoge Fotografietechnik zurück, deren wesentliches Merkmal es ist, Objekte per Licht direkt in die fotosensitive Oberfläche einzuschreiben. Peirce kommt auf diesen Zusammenhang zu sprechen, wenn er schreibt: „So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird.“ (Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main 1983, S. 65.)
4 Als bisherige Publikationen zu diesen Bildtypen vgl. u.a. Susanne Regener, ‚Anarchistische Gewalttäter’. Zur Mediengeschichte der RAF-Plakate, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 402-409; Rolf Sachsse, Die Entführung. Die RAF als Bildermaschine, in: ebd., S. 466-473; Petra Terhoeven, Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 380-399.

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