Rother, Bernd (Hrsg.): Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse. Bonn 2011 : Verlag J.H.W. Dietz Nachf., ISBN 978-3-8012-0414-3 335 S. € 32,00

: Willy Brandts Amerikabild und -politik 1933-1992. . Göttingen 2010 : V&R unipress, ISBN 978-3-89971-626-9 564 S. € 67,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Willy Brandt ist auch bald 20 Jahre nach seinem Tod eine Person der Zeitgeschichte, die nach wie vor auf allergrößtes Interesse in der Öffentlichkeit und der zeithistorischen Forschung stößt. Die Zeit für eine erste Zwischenbilanz der Willy-Brandt-Forschung ist also durchaus reif, zumal mit der zehnbändigen „Berliner Ausgabe“ ein grundlegendes Editionsprojekt zu Brandts politischem Leben und Wirken nach über zehnjähriger Arbeit zum Abschluss gekommen ist.1 Der nun von Bernd Rother herausgegebene Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung, zu der die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung aus diesem Anlass im März 2010 eine Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern eingeladen hatte.2

„Neue Fragen, neue Erkenntnisse“ – können Tagung und Sammelband dem im Titel formulierten Anspruch gerecht werden? Der Reiz der Aufsatzsammlung liegt zunächst einmal darin, dass es sich bei den Beiträgern nicht ausschließlich um ausgewiesene Willy-Brandt-Forscher handelt, so dass ein mitunter erfrischend neues Licht auf das Leben und Wirken Brandts geworfen wird sowie eine Verknüpfung von allgemeiner zeithistorischer Forschung mit der Willy-Brandt-Forschung stattfindet. Im Mittelpunkt stehen die Außen- und Innenpolitik seiner Regierungszeit als Außenminister und Bundeskanzler, seine Perzeption in der Öffentlichkeit sowie die lange Phase seiner ‚vierten‘ Karriere (Peter Merseburger) als „Staatsmann ohne Staatsamt“ nach 1974. Die Bandbreite der Beiträge reicht also von den klassischen Willy-Brandt-Themen – wie der mit seinem Namen verbundenen Ost- und Deutschlandpolitik – bis hin zu bislang vernachlässigten Aspekten seiner Biographie. Schließlich umfasste das Wirken des elder statesman in der Sozialistischen Internationale von 1976 bis 1992 eine fast ebenso lange Zeitspanne wie seine vorangegangenen Karrieren in politischen Ämtern als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Außenminister und Bundeskanzler.

Zunächst widmet sich der Sammelband dem „Wandel des Willy-Brandt-Bildes“ in der Öffentlichkeit. Norbert Frei macht den Auftakt mit einem thesengeleiteten Beitrag, der „neun Beobachtungen über Willy Brandt im Blick der [West-]Deutschen“ formuliert. In Umkehr des entspannungspolitischen Leitgedankens des „Wandels durch Annäherung“ spricht Frei von einer „Annäherung durch Wandel“ (S. 25), der aber weniger auf Seiten Brandts stattgefunden habe, sondern in erster Linie ein Wandel der westdeutschen Vergangenheitspolitik gewesen sei. Erst Ende der 1960er-Jahre war Emigration während der NS-Zeit für breite Teile der westdeutschen Bevölkerung kein Makel mehr. Die „Dignität der Emigration“ (S. 26) haben aber weder Brandt noch die SPD jemals aktiv herausgestrichen oder genutzt. Ob sie damit in den 1950er-Jahren einen „vergangenheitspolitischen Pragmatismus“ (S. 91) an den Tag legten, mit dem sie sich unnötigerweise in die Defensive begaben, wurde auf der Tagung durchaus kontrovers diskutiert (S. 90ff.). Zumindest kann Brandt, neutral formuliert, als „Seismograph“ (S. 25) des westdeutschen Umgangs mit der Vergangenheit charakterisiert werden. Dass die Wahrnehmung Brandts im westlichen Ausland genau gegenläufig war und seit den 1950er-Jahren ein positives Bild Brandts gerade wegen seiner Emigrationszeit überwog – wie der Beitrag von Andreas Wilkens aufzeigt –, bestätigt diese Beobachtung indirekt. Die Perzeption Brandts in der DDR, von Christoph Kleßmann mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht, ist hingegen weniger ein Spiegel vergangenheitspolitischer Diskurse als vielmehr ein Beleg für die Gefahr, die man in Brandts Entspannungspolitik als einer „Aggression auf Filzlatschen“ sah.

Die Außen- und Deutschlandpolitik Willy Brandts wird in dem Tagungsband nicht auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition (Eckart Conze) sowie deren Einbettung in die internationale Entspannungspolitik (Wilfried von Bredow) beschränkt, sondern umfasst darüber hinaus die von Brandt als ebenso wichtig erachtete Europapolitik (Wilfried Loth). Dadurch wird die Ostpolitik, auf die sich die Forschung lange Zeit sehr einseitig bezogen hat, im Vergleich zur Westintegration überhaupt erst ins rechte Verhältnis gerückt. Überdies wird deutlich, dass die Ostpolitik nicht ohne die Europapolitik Brandts zu verstehen ist – und sein Konzept von Nation und Nationalstaat nur im europäischen Zusammenhang. So mutierte Brandt im Prozess der deutschen Einigung 1989/90 auch nicht etwa zum eingefleischten Nationalisten. Vielmehr begriff er (wie Bernd Faulenbach zeigt) die deutsche Frage hier wie bereits zuvor immer als Teil der europäischen Frage. So mied er den Begriff der „Wieder“-Vereinigung, da er keine Revitalisierung des alten Nationalstaats anstrebte und sich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur als festen Bestandteil der europäischen Einigung vorstellen konnte. Die Ostpolitik sollte daher auch nicht als Vorgeschichte der deutschen Vereinigung interpretiert werden, wie Conze in seinem Beitrag zu Recht betont. Eine Interpretation aus dem Zeitkontext heraus zeigt, dass für Brandt Entspannung ein Mittel der Außen- und Innenpolitik war und er beides auf diese Weise miteinander verzahnte: Entspannung nach innen durch den Abbau sozialer Spannungen sollte Gesellschaften ermöglichen, die auch nach außen friedlich und kooperativ seien. Wie man Brandts europäische Politik für Deutschland nun charakterisieren soll – als postnationale Politik für nationale Interessen (von Bredow, S. 154), als Europäisierung der Nationalstaaten (Wilfried Loth, S. 134) oder als Ausdruck eines postklassischen Nationalstaats (Heinrich August Winkler, S. 163) –, wird auch weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten sein.

Während die Ost- und Deutschlandpolitik mit der Person Willy Brandts untrennbar verbunden sind, ordnen die Beiträge zur Innen- und Gesellschaftspolitik der Regierungszeit Brandts diese eher als Reflex auf den Zeitgeist und allgemeine Trends gesellschaftlicher Entwicklungen ein, die bereits lange vor 1969 begonnen haben. Axel Schildt setzt die Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse der 1960er-Jahre in Beziehung zu Brandt; Gabriele Metzler betrachtet die Planungseuphorie dieser Dekade und schließlich Winfried Süß den expansiven Sozialstaat, der gewissermaßen die innenpolitische Basis für die außenpolitische Entspannungspolitik bildete. Im ‚Alltag‘ des Regierens machte sich dieser konstitutive Charakter aber nicht unbedingt bemerkbar. Am „operativen Detail“ war Brandt nicht sonderlich interessiert, wie Hans Günter Hockerts in seinem Kommentar betont (S. 223).

Deutlich geringer ist unser Wissen über Brandt in seiner Funktion als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale (SI). Bernd Rother zeigt einen – im Vergleich zum letzten Kanzlerjahr – frischen und durchsetzungsstarken Brandt, dem es gelang, die SI neu zu orientieren, Netzwerke auszubilden und das Modell des demokratischen Sozialismus für die „Dritte Welt“ zu popularisieren. Damit machte er sich nicht überall beliebt – ebenso wenig wie mit seiner Arbeit als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission (auch als Willy-Brandt-Kommission bekannt geworden), die in zwei Berichten 1980 und 1983 kontrovers diskutierte Vorschläge für eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik lieferte. Wolfgang Schmidt diskutiert die Tätigkeit und die Zielsetzungen der Kommission unter dem Begriff „Global Governance“. Beinahe könnte man den Eindruck gewinnen, Brandt sei hier wieder „links und frei“ geworden.3 Doch handelte es sich wiederum wohl eher um die ihm eigentümliche Mischung von Visionärem und Pragmatismus. Seine Offenheit für neue Denk- und Handlungsansätze, die ja bereits seine Ostpolitik auszeichnete, war im Grunde eine Konstante seines Handelns. Klaus Schönhoven bringt das in einer Diskussionsbemerkung auf den Punkt, indem er von „Kontinuität im Grundsätzlichen“ bei „Beweglichkeit im Operativen“ spricht (S. 291).

Der Band schließt mit Überlegungen Martin Sabrows zum Verhältnis von Biographie und Zeitgeschichte, in denen er die Fallstricke biographischer Forschung aufzeigt, die sich ja trotz anhaltenden Naserümpfens der Fachwissenschaft einer enormen Beliebtheit erfreut. Gerade eine Brandt-Biographie bietet viele Ansatzpunkte für einen innovativen Umgang mit dem Genre, eben weil Brandts Leben als Spiegel des 20. Jahrhunderts und seiner vielfältigen Brüche interpretiert werden kann. Allerdings wären von einer weiteren klassischen Biographie Willy Brandts im Moment sicher keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Vielmehr sollten struktur- und kollektivbiographische Ansätze zukünftig eine wichtigere Rolle spielen.

Einen biographischen Ansatz hat auch Judith Michel mit ihrer in Bonn entstandenen Dissertation gewählt. Sie hat eine Teilbiographie Willy Brandts verfasst, die einen bislang nicht systematisch beleuchteten Aspekt untersucht: das Amerikabild Brandts und seine Politik gegenüber den USA. Für die Brandt-Forschung hat Michel eine wichtige Arbeit geschrieben, die die Grundlagen herausarbeitet, auf denen Brandts Perzeption der USA beruhte. Gleichzeitig setzt die Fokussierung auf Brandt auch die Grenzen der Studie, da andere Faktoren außen vor bleiben, die die politischen Entscheidungsprozesse beeinflussten – wie die gesellschaftlichen oder innerparteilichen Debatten, weitere Regierungsakteure etc. Methodisch-theoretische Probleme ergeben sich auch daraus, dass die meisten Äußerungen Brandts für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Es lässt sich also schwer unterscheiden, wo politisches Kalkül anfängt und wo „echte“ Überzeugungen aufhören. Zudem hat Brandt ganz offensichtlich schon zu Lebzeiten an seinem historischen Bild gearbeitet und beispielsweise frühere Ambivalenzen seines Amerikabildes glattgestrichen (S. 68). Den theoretischen Rahmen steckt Michel mit einem „kognitionsgeleitete[n] Ansatz“ (S. 21) ab. Ihr geht es darum, die Perzeptionsstrukturen Brandts als individueller Entscheidungsträger herauszuarbeiten (S. 23). Angesichts des Konstruktionscharakters von Perzeptionen negiert sie – zu Recht – die Existenz objektiver nationaler Interessen und stellt mit ihrem biographischen Ansatz „das Individuum als die Schnittstelle zwischen Denken und politischem Handeln“ in den Mittelpunkt, da sich nur so „Nationalbilder und die daraus resultierenden Handlungen nachvollziehbar analysieren“ lassen (S. 22).

Willy Brandt galt als der ‚amerikanischste‘ aller damaligen Politiker– bezogen vor allem auf seinen Wahlkampfstil, aber auch (wie Michel zeigen kann) in den politischen Inhalten. Er imitierte sein Vorbild John F. Kennedy und arbeitete fleißig an seinem Image als ‚deutscher Kennedy‘. Auf der anderen Seite trat Brandt als Kritiker des NATO-Doppelbeschlusses und der Lateinamerika-Politik der Reagan-Regierung auf, wodurch er vielen als antiamerikanisch galt. Der Autorin gelingt es, diese disparaten Perspektiven auf Brandt miteinander zu kombinieren und daraus ein stimmiges Bild zu machen. In einer akribischen Auswertung deutscher und amerikanischer Archivquellen analysiert sie systematisch Brandts Bild der USA von seinen politischen Anfängen zu Beginn der 1930er-Jahre bis zu seinem Tod 1992 und setzt es in Beziehung zu seiner Politik gegenüber den USA. Brandts politische Haltung zu den USA hat sich im Laufe der Jahre demnach mehrmals geändert, sein Amerikabild weniger. So bewegte er sich immer in einem Spannungsverhältnis zwischen einer tief verwurzelten Bewunderung für die USA als Hort freiheitlich-demokratischer Werte und einem Unbehagen, mitunter auch einer Dissonanz, gegenüber der Politik bestimmter US-Regierungen.

Brandts positives Amerikabild hatte sich schon sehr früh im Exil gebildet; es entsprang in dieser Phase vor allem einer Bewunderung für Roosevelt und die Politik des New Deal, die Brandt für eine sozialdemokratische Politik hielt (S. 39). Der Ausgangspunkt einer eindeutigen außenpolitischen Parteinahme für die USA und den Westen war die erste Berlinkrise 1948 (S. 102). Dennoch hingen die Beziehungen zu den USA für Brandt immer auch von der jeweiligen politischen Konstellation ab. 1973, im konfliktreichen „Year of Europe“, in dem er mit der Nixon-Administration haderte, mochte Brandt nicht mehr von „unseren amerikanischen Freunden“ sprechen. Dennoch stellte er die Bündnistreue nie in Frage. Für neutralistische Tendenzen war Brandt nicht anfällig, was ihn bei aller Sympathie, die er für die Friedensbewegung der 1980er-Jahre empfand, fundamental von dieser unterschied. Eine Friedens- und Sicherheitspolitik für Europa konnte Brandt sich nur mit den USA vorstellen (S. 503). Er war daher „kein Wanderer zwischen den Welten“ (S. 517), sondern stand konsequent auf der Seite des Westens. So richtig und wichtig die Befunde sind, so lässt sich doch kritisch anmerken, dass die insgesamt (zu) voluminöse Darstellung mit vermeintlich neuen Methoden zu erwartbaren Einsichten gelangt, mitunter gar selbst in konventionelle Interpretationsmuster zurückfällt – wenn etwa zwischen den Interessen von Weltmächten und Mittelmächten unterschieden wird (S. 226). Neue Ansätze der Internationalen Geschichte, mit denen die Autorin sich durchaus beschäftigt hat, werden für diese Studie nicht fruchtbar gemacht.4

Biographische Zugänge – das zeigen beide Neuerscheinungen – werden in der zeitgeschichtlichen Forschung auch künftig ihre Berechtigung haben, sofern sie sich methodisch-theoretisch auf die aktuellen Diskussionen einlassen. Insbesondere Brandts internationale Karriere nach 1974 sollte in Zukunft stärker in den Fokus der Willy-Brandt-Forschung rücken, und zwar nicht nur deshalb, weil darüber vergleichsweise wenig bekannt ist, sondern weil damit auch ein Beitrag zur aktuell stattfindenden ,Erweiterung‘ der Internationalen Geschichte geleistet werden kann. Denkbar wäre eine Erforschung der transnationalen Netzwerke, in die Brandt eingebunden war, der Perzeption Brandts in Afrika und Lateinamerika, der Rezeption und des Ideentransfers seines entwicklungspolitischen Konzepts. Damit würde die Brandt-Forschung die internationale Dimension seines Wirkens in den Blick nehmen und zugleich ihre eigene Internationalisierung vorantreiben.

Anmerkungen:
1 Helga Grebing / Gregor Schöllgen / Heinrich August Winkler (Hrsg.), Willy Brandt. Berliner Ausgabe, im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, 10 Bde., Bonn 2000–2009; siehe <http://www.bwbs.de/Projekte/13.html> (13.01.2012).
2 Siehe auch den Tagungsbericht von Arno Helwig Tagungsbericht Persönlichkeit und Politik: Deutungsmuster und Befunde der Willy-Brandt-Forschung. 18.03.2010-19.03.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 17.06.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3152> (13.01.2012).
3 Dies in Anspielung auf Willy Brandt, Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982.
4 So der emotionshistorische Ansatz in Patrick Bormann / Thomas Freiberger / Judith Michel (Hrsg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Göttingen 2010 (vgl. Frank Biess: Rezension zu: Bormann, Patrick; Freiberger, Thomas; Michel, Judith (Hrsg.): Angst in den Internationalen Beziehungen. Göttingen 2010, in: H-Soz-u-Kult, 05.10.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-006> [13.1.2012]).

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