: Über Grenzen. Lebenserinnerungen. München 2003 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-49338-6 190 S. € 19,90

: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito. München 2002 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-48750-5 116 S. € 12,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael von Prollius, Berlin

Ralf Dahrendorf ist ein Grenzgänger. Als Soziologe und Politiker, Deutscher und Engländer, Mitglied der SPD (1947-1960), der FDP (1968-1988) und des britischen Oberhauses (seit 1993), als Leiter bzw. Rektor der London School of Economics und des Saint Anthony's College in Oxford hat der am 1. Mai 1929 in Hamburg geborene Liberale konventionelle Grenzen überschritten. So balanciert Dahrendorf mit Vergnügen auf der Grenzlinie zwischen „politischem Intellektuellen“ und „intellektuellem Politiker“ (Grenzen, S. 182), in selbstbewusster Zurückhaltung als zeitkritischer Journalist, Sozialwissenschaftler und liberaler Politiker. Ergebnis seiner Lebenserfahrungen sind seine Prognosen und Diagnosen zu den „Krisen der Demokratie“, die er im Gespräch mit dem italienischen Korrespondenten Antonio Polito entwickelt. Einblicke in Dahrendorfs Lebenserfahrungen und Prägungen bieten seine autobiografischen Lebenserinnerungen „Über Grenzen“. Beides sind schmale Bände, die ein unterhaltsames Lesevergnügen bieten, ob der klugen, knappen Analysen, der klaren Sprache, dem Hang zu Understatement und Ironie.

1. Krisenanalyse

Das gleichermaßen kurzweilige wie kluge Gespräch Ralf Dahrendorfs mit Antonio Polito, Korrespondent der römischen Tageszeitung „La Repubblica“, die für Dahrendorf das intellektuelle Rom verkörpert (Grenzen, S. 151), hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Der Leser, der gleichsam als Zuschauer dem Gespräch beiwohnt, nimmt auf weniger als 120 Seiten, gegliedert in zehn Abschnitte, Teil an einer differenzierten und pointierten Bestandsaufnahme aktueller Gefährdungen und Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Europa und Amerika. Die Überlegungen des bedeutenden Vertreters der liberalen Gesellschafts- und Staatsidee kreisen um seine eingangs formulierte Definition der Demokratie, als ein „Ensemble von Institutionen“, die politische Machtausübung in dreierlei Hinsicht legitimieren: 1. Ermöglichung gewaltloser Veränderungen, 2. Kontrolle und Balance der Machtausübenden, 3. Partizipation der Bürger an der Machtausübung. (Krisen, S. 9)

In dieser Sicht erscheint die aktuelle Krise der Demokratie als eine Krise ihrer Institutionen. In einer globalisierten Welt wirken ihre alten Funktionsmuster nur noch unzureichend: „die gegenwärtige Krise der Demokratie [ist] [...] eine Krise der Kontrolle und der Legitimität angesichts der neuen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen“, so jedenfalls lautet die Diagnose des britischen Lords (Krisen, S. 10). Das post-demokratische Zeitalter hat begonnen. Es ist gekennzeichnet durch eine Krise der Nationalstaaten, dem existenziellen aber überkommenen Bedingungsraum der Demokratie, durch eine „grundsätzlich desinteressierte und apathische Bevölkerung“ (Krisen, S. 91), durch einen Bedeutungs-, d.h. Kontrollverlust der Parlamente, hervorgerufen durch die aufkommende Konkurrenz von Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Unternehmen und Einzelpersonen respektive einer entstehenden globalen Klasse. Mit ihnen ist ein Verlust an Transparenz beim Fällen von Entscheidungen verbunden, der zu einem „schleichenden Autoritarismus“ (Krisen, S. 91) etwa in England, Italien und den USA führt. Umso dringlicher werde eine effiziente Beteiligung von Bürgern und Völkern an politischen Entscheidungen. In der „romantischen Sehnsucht nach einer untergegangen Welt, in der die nationale Politik noch die Wirtschaft kontrollierte“, wie die destruktive Polemik einer Vivianne Forrester suggeriert, sieht Dahrendorf eine Gefahr, die in ähnlicher Form (Modernisierungskritik) bereits dem Nationalsozialismus den Boden bereitet habe (Krisen, 26).

Der ehemalige Europakommissar sieht Europa mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Da ist einerseits die Schwäche der EU, die ohne Volk und ohne politische Klasse bleibt, und andererseits die „Globalisierung“ (Krisen, S. 27), die Gleichzeitigkeit internationaler Entgrenzung und regionaler Abgrenzung mit ihren aggressiven und intoleranten Tendenzen. Dahrendorf, der dem Niedergang der alten Ordnung, in deren Zentrum die Parlamente standen, offen nachtrauert, fordert zur Wachsamkeit auf. Die Aufrechterhaltung der bewährten liberalen Ordnung müsse sich stärker an der Durchsetzung liberaler Prinzipien, weniger an liberalen Institutionen, orientieren (Krise, S. 113). Unerlässlich bleibe die Aufgabe, dem Rechtsstaat weltweit zur Geltung zu verhelfen. Darüber hinaus sieht Dahrendorf die Stärke der Demokratie in fundierten Debatten, bei denen gewissermaßen der zwanglose Zwang des besseren Arguments die Entscheidung bringt. Diese grundsätzliche Stärke ist derzeit eine zentrale Schwäche der Demokratie.

Eine besondere Herausforderung ist die Überbrückung der zunehmenden Distanz von Machtausübenden und Bevölkerung. Wie lassen sich die Bürger beteiligen? So lautet eine Frage, auf die das Gespräch keine befriedigende Antwort zu geben vermag, wie überhaupt die Visionen hinter der Krisenanalyse zurücktreten. Dennoch findet sich der Leser und Betrachter des Gesprächs nicht zwischen den Stühlen wieder. Eine gleichermaßen schlichte wie wichtige Botschaft hebt Dahrendorf zum Schluss hervor: In einer komplexen, schwierigen Welt gibt es keine einfachen Antworten. Die politische Führung ist daher verpflichtet zu führen und nicht ihr Fähnlein in den wechselnd böigen Wind der Unzufriedenheit der Wähler zu hängen. Gleichzeitig bestehe die Stärke der liberalen Ordnung in der Möglichkeit, „zu einer Vielzahl von Fragen eine Vielfalt von Positionen auf vielfältige Art und Weise zu äußern“ (Krisen, S. 116). Gesucht wird also letztlich ein Ersatz für den Funktionsverlust der Parlamente. So bleibt der Eindruck haften, dass diese komplexe Suche nach Antworten einer existenziellen Aufgabe nahe kommt, bei der liberale Prinzipien Mittel und Ziel zugleich sein können.

2. Lebenserinnerungen

Wie ernst zu nehmen diese Aufgabe ist, da „die Freiheit die Voraussetzung alles anderen [ist]“ (Grenzen, S. 121), wird aus den Lebenserinnerungen von Ralf Dahrendorf ersichtlich, vor allem aus der zuweilen bedrückenden ersten Hälfte seines autobiografischen „Patchworks“ (Grenzen, S. 9). „Über Grenzen“ ist eine Auswahl, ein Ausschnitt von Dahrendorfs unveröffentlichter Autobiografie. Eine Auswahl, weil es sich um eine in über 20 Kapitel gegliederte Sammlung von Geschichten handelt, ein Ausschnitt, weil diese chronologisch geordneten Erzählungen nur bis zum „bestimmten Alter“ (Grenzen, S. 35) von 28 Jahren reichen. Das ist Dahrendorfs persönliche „Achsenzeit“ 1. In diesem Zeitraum wurde der Mensch Dahrendorf geprägt, kristallisierten sich seine Grundkategorien, Interessen, Motivstrukturen heraus, die das weitere Leben als „Extrapolation“ des heute 73jährigen erscheinen lassen: „Achtundzwanzig ist gleichsam meine Entelechie, die Form in der meine Lebenskraft ihren reinsten Ausdruck fand.“ (Grenzen, S. 8) Dazu passend ist der mit Hilfe dieser „Theorie“ gewobene bunte Teppich von Lebenserinnerungen keineswegs auf die Zeit bis zum 29. Geburtstag beschränkt, sondern immer wieder mit Ausblicken auf spätere Lebensstationen und den damit verbundenen Tätigkeiten und Persönlichkeiten durchzogen.

Welche Faktoren, Ereignisse, Persönlichkeiten haben Ralf Dahrendorf bis zu diesem Lebensjahr geprägt? Geboren in der weltoffenen Hansestadt Hamburg mit ihrem ausgeprägten Bürgersinn, dem „Wurzelgrund der Dahrendorfs“, aufgewachsen im sozialdemokratischen Elternhaus, sein Vater Gustav Dahrendorf war mit der Familie als Reichstagsabgeordneter 1932 nach Berlin gezogen, blieb für den Sohn Ralf „die Welt meines Vaters der Inbegriff des Guten in der deutschen Tradition“ (Grenzen, S. 68). Dazu gehörte - wie für Willy Brandt, den der FDP Bundestagsabgeordnete Dahrendorf 1969 bewunderte, - vor allem die Freiheit als gesellschaftliche und persönliche Existenzbedingung. Ausdruck dieser Geisteshaltung war der Widerstand des Anstandes gegen das NS-Regime, in dem Gustav Dahrendorf in enger Freundschaft mit dem nach dem 20. Juli hingerichteten Julius Leber aus tiefer Überzeugung aktiv war, und der Vater und Sohn Gestapo- und Lagerhaft einbrachte. Zehn Tage Einzelhaft im Dezember 1944 immunisierten Ralf Dahrendorf gegen jedwede totalitäre Versuchung und erweckten in ihm einen "fast klaustrophobischen Drang zur Freiheit" (Grenzen, S. 72). Die vom britischen Militär unterstützte Flucht vor der neuen totalitären Bedrohung im Vorfeld der SED-Gründung führte 1946 zurück nach Hamburg und zur Entdeckung der Diskussion und der englischen Lebensart. Freiheit, Diskussion und englische Art verbanden sich zu einer Lebensleitlinie für Ralf Dahrendorf, der seit 1993 Mitglied des britischen Oberhauses ist und als Intellektueller zweier Vaterländer, England und Deutschland, hohes Ansehen genießt. Seine Leidenschaft für den Journalismus, unter anderem in der Nachkriegszeit beim „NWDR“, der Kulturzeitschrift „Hamburger Akademische Rundschau“ und ein halbes Jahrhundert später als Aufsichtsratsvorsitzender der Zeitung „The Independent“, sollte sich damit verbinden.

Vielseitig, außerordentlich schnell und erfolgreich, aber keineswegs simpel geradlinig verlief bereits sein früher akademischer Werdegang. Dahrendorf schildert seine mangelhaften Abiturleistungen in Englisch, die Konvertierung vom Sozialisten zum Liberalen durch die Begegnung mit Karl Popper, dessen Seminare er in London als Postgraduate an der London School of Economics besuchte und deren Direktor er später selbst einmal werden sollte. Das Intermezzo bei Horckheimer und Adorno am Institut für Sozialforschung in Frankfurt stand als eine Art geschlossene Gesellschaft im scharfen Kontrast zur offenen Gesellschaft des englischen Wissenschaftstheoretikers Karl Popper, den Dahrendorf als die bedeutendste Persönlichkeit seines Lebens würdigt (Grenzen, S. 165). Schließlich begleitet der Leser noch den Soziologen Dahrendorf, zunächst als Assistent an der jungen Universität des Saarlandes, dann mit dem 29. Geburtstag als Professor in Hamburg.

Leider enden hier konzeptionsbedingt die Lebenserinnerungen. So gelungen der Verzicht auf einen langen, geradlinigen Text ist, so bedauerlich ist für den Leser das Aussparen des aufregenden Jahrzehnts der 60er Jahre, zu dem der Wissenschaftler und die Persönlichkeit Ralf Dahrendorf beigetragen haben. 2 Überhaupt gilt für die Lebenserinnerungen, dass hinter der Person der Wissenschaftler, der Politiker und der Intellektuelle zurücktreten. Es überwiegen die persönlichen Erinnerungen, dezent und humorvoll, gleichsam englisch vorgetragen. Deutsche Begeisterung brandet auf bei der Schilderung der vielen Persönlichkeiten, die wie ein Who is Who? der europäischen Intellektuellen seinen Lebensweg kreuzen.

Das selbstbestimmte Individuum steht für das liberale Prinzip. Das gilt in besonderem Maße für Ralf Dahrendorf. Ihm ist es vergönnt gewesen, besser er ist stets bestrebt gewesen, sich nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu beschränken, sondern auf der Grundlage seiner Theorie des sozialen Konflikts und sozialen Wandels diese Grenze zu überschreiten und auch praktisch gesellschaftspolitischen Einfluss zu nehmen, ob in der Politik als Lord im britischen Oberhaus oder im Bundesvorstand der FDP, ob wissenschaftlich gestaltend als Direktor der London School of Economics, als Rektor des Saint Anthony's College in Oxford oder als Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, ob als Gesprächspartner in zahlreichen Diskussionen.

Zusammen mit dem ökonomischen Freiheitsvermächtnis von Friedrich August von Hayek 3 sind Dahrendorfs sozialliberale Erfahrungen und Erkenntnisse für den Aufbau der Demokratie nach dem Ende der Demokratie (Krisen, S. 116) eine unverzichtbare Orientierungshilfe, um Vielfalt und Freiheit auch in Zukunft zu ermöglichen. Ein Urteil, das trotz eines nicht zu leugnenden Respekts des Rezensenten keiner Milderung bedarf.

Anmerkungen:
1 Zum Begriff der „Achsenzeit“ siehe Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, besonders 19f.
2 Dahrendorf, Ralf, Demokratie und Gesellschaft in Deutschland, München 1965.
3 Zur Entwicklung des Denkens von Friedrich August von Hayek siehe zuletzt Hennecke, Hans Jörg, Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000.