Titel
Kunst baut Stadt. Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York


Autor(en)
Nippe, Christine
Reihe
Image 20
Anzahl Seiten
377 S., zahlr. z.T. farb. Abb.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Judith Laister, Institut für Stadt- und Baugeschichte, Technische Universität Graz

Publikationen über das Verhältnis von Kunst und Stadt haben Konjunktur. Seit KünstlerInnen Stadt nicht nur als Standort und Bildmotiv, sondern zunehmend auch als künstlerischen Handlungsraum nutzen, mehren sich Forschungen über Akteure und Praktiken stadtbezogener Kunst. Christine Nippes Dissertation „Kunst baut Stadt. Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York“, die 2011 im transcript Verlag erschienen ist, bietet einen weiteren, beachtenswerten Beitrag in diesem aktuellen Diskursfeld. Gleichzeitig betritt sie mit ihrem Plädoyer für eine „Komplizenschaft zwischen Ethnologie, Kunstpraxis und -wissenschaft“ ein noch wenig beforschtes, viel versprechendes Terrain: „Insbesondere in der aktuellen gesellschaftlichen Umbruchssituation warten vielfältige Prozesse darauf, gemeinsam kritisch erfasst, erforscht und diskutiert zu werden.“ (S. 337)

Der Aufbau des Buches gestaltet sich klar und logisch kohärent. Auf einführende Worte zur Ausgangsbasis der Forschung, nämlich das „steigende Interesse am urbanen Raum in der Kunst“ (S. 10) seit Mitte der 1990er-Jahre, folgen theoretische und methodische „Perspektiven und Zugänge“. Dabei wird das Potential einer Kombination von soziologischen, anthropologischen, kunsthistorischen und urbanistischen Ansätzen sowohl theoretisch diskutiert als auch praktisch vorgeführt. Die Autorin streift durch so unterschiedliche Diskurslandschaften wie Kunst- und Stadtanthropologie, denkt über Raumproduktion mit Fokus auf Third-Space-Konzepte nach, lotet das Verhältnis zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft aus, beleuchtet die Diskussionen um Creative Classs bzw. Creative City und beschäftigt sich mit Fragen der Ortsspezifität in der Kunst und der Repräsentationskritik in der Kulturanthropologie. Als heuristischen Leitfaden stellt sie Henri Lefebvres Raumtriade bzw. sein Modell des sozialen Raums vor, um dem Verhältnis zwischen „gelebtem Raum“ der KünstlerInnen (Alltagswelt) und „konzipiertem Raum“ (Metropolenbilder) nachspüren zu können.

Der zweite Teil von Nippes Arbeit ist konkreten stadtbezogenen Kunstpraktiken in Berlin und New York gewidmet. Basierend auf grundlegenden Überlegungen zu einer Anthropologie der Nähe (Berlin) im Vergleich zu einer Anthropologie der Ferne (New York) führt die Autorin ihre LeserInnen an die Schauplätze ihrer Feldforschungen. Die beiden Kapitel „Mythos Berlin. Die eigene Stadt mit neuen Augen sehen“ und „Delirious New York – Feldforschung unter Zeitdruck“ lesen sich als dichte Beschreibungen der Kunstszenen in den beiden Metropolen. Deren unterschiedliche Produktionsbedingungen zeigt Nippe durch ein Changieren zwischen Strukturdaten, historischen Fakten, Auszügen aus „Kontextinterviews“ und eigenen Beobachtungen. Ihr Fazit: Berlin zeichnet sich durch eine starke künstlerische Produktion aus. Es bietet für KünstlerInnen zwar nur knappe finanzielle, dafür großzügige räumliche und soziale bzw. symbolische Ressourcen. Seine „hohe Imaginationskraft als Metropole der Alternativen“ (S. 92) hat zu dichten Szenezusammenhängen sowie einem multilokalen Distributionsnetz mit internationalen Galerien geführt, wobei der Zugang zu diesen Netzwerken als grundsätzlich offen dargestellt wird. New York erweist sich demgegenüber ökonomisch wie sozial als weit weniger durchlässig. Aufgrund entsprechender „Zugangsmythen“ geht man erst dann in die US-Metropole, wenn man sich dafür „‚bereit‘ fühlt“. Sowohl für jüngere als auch für etablierte ProduzentInnen besteht ein hoher Produktionsdruck zum existenziellen wie künstlerischen Überleben, der jedoch durch das hohe symbolische Kapital und die vielfältigen Szenezusammenhänge des Big Apple entschädigt wird.

Wie KünstlerInnen vor dem Hintergrund dieser je spezifischen städtischen Kunstkontexte agieren, legt Nippe im Hauptteil mit dem Titel „Kunst baut Stadt – baut Kunst“ dar. Am Beispiel von insgesamt 11 Kunstschaffenden (sieben in Berlin: Nevin Aladag, Christine Schulz, Jan Brokofs, Wiebke Loepers, Dellbrügge & de Molls, Anri Sala und Rikrit Tiravanija; vier in New York: Dan Graham, Matthew Barney, Ellen Harvey und Dulce Pinzón) geht sie dem Zusammenhang zwischen Stadtspezifik, Künstleralltag und künstlerischer Ortsproduktion in Berlin und New York nach. Die Auswahl der KünstlerInnen zielt dabei auf ein möglichst breites Spektrum an Generationen, Nationalitäten, Bekanntheitsgraden und Medien bzw. Praktiken, deren kleinster gemeinsamer Nenner in der „Reflektion urbaner Veränderungen im Zeitraum von 1989 bis 2009“ (S. 11) liegt. Ihre Annäherung an die jeweiligen stadtbezogenen Arbeiten basiert auf dem Anspruch einer transdisziplinären Überschneidung ihres kunsthistorischen und anthropologischen Blicks. Neben der präzisen Beschreibung eines bzw. mehrerer ausgewählter Werke erfolgt anhand biographischer Details eine Annäherung an Habitus und Positionierung der jeweiligen KünstlerInnen im sozialen Raum (Bildungsweg, soziale Situierung, ökonomische Stellung) bei gleichzeitiger Erhebung ihrer Raumorientierungen im physisch-städtischen Kontext. Empirie (vor allem Interviews, Beobachtungen, Mental Mappings), Theorie (vor allem Stadt-, und Kunsttheorie) und Selbstreflexion (zum Beispiel Eintragungen in ihr Feldtagebuch) werden zu einem dichten Interpretationsgewebe verknüpft.

So vielfältig die vorgestellten Positionen auch sind, als kleinsten gemeinsamen Nenner arbeitet Nippe deutlich heraus, dass das Alltagsleben der KünstlerInnen („gelebter Raum“) mit den von ihnen produzierten Stadtbildern („konzipierter Raum“) korrespondiert. So steht etwa – um hier nur einige Beispiele zu nennen – ein transnationaler Künstleralltag wie der von Nevin Aladag, Anri Sala, Rikrit Tiravanija oder Dulce Pinzónin in Beziehung zu Themen wie Nomadismus, Dislokation, Transnationalität oder Mobilität. Historische Brüche – zum Beispiel der Fall der Berliner Mauer – zeigen sich in einer intensiven Auseinandersetzung mit Erinnerung, wie bei Jan Brokofs und Wiebke Loepers deutlich wird. Oder irritierende Veränderungen des persönlichen städtischen Wohnumfeldes (zum Beispiel der Einsturz des World Trade Centers oder radikale stadträumliche Aufwertungsprozesse) bedingen künstlerische Auseinandersetzungen mit Gentrifizierung, sozialer Ausgrenzung oder urbanen Machtverhältnissen wie etwa bei Ellen Harvey. Nippe geht es dabei nicht darum eine einfache kausale Beziehung zwischen künstlerischer Praxis und spezifischem städtischen Alltag nachzuzeichnen. Vielmehr zeigt sie durch Verweise auf die herrschenden Produktionsbedingungen, wie KünstlerInnen „gemacht“ werden bzw. wie KünstlerInnen biographische Spezifika gezielt im Gesellschaftsspiel „Kunst“ einsetzen – zum Beispiel als gegenwärtig gewinnbringendes transnationales Kapital. Darüber hinaus spürt Nippe wissenschaftlichen Einflüssen auf künstlerische Metropolenbilder nach – so prägte etwa Bourdieu das Werk von Dellbrügge & de Molls oder Sartre bzw. Lacan die Arbeiten Dan Grahams.

Gerade weil die anthropologische Frage nach den Parametern künstlerischer Produktion abseits ihrer formal-ästhetischen Aspekte so spannend ist, vermisst man an mancher Stelle des Buches eine klare Grenze zwischen dem, was Interpretation der Autorin bzw. der Kunstkritik und dem, was konkrete Bezugsquelle der KünstlerInnen ist. Die oft recht verkürzt in Werk- oder Akteursbeschreibungen eingeflochtenen Theorie-Passagen bzw. Fachtermini zeugen zwar von Nippes umfassendem interdisziplinärem Wissen. Gleichzeitig werden die komplexen Diskurse teils recht kursorisch abgehandelt. Neben den marginalen Ausführungen zum wichtigen Kapitel der Stadtanthropologie hätte vor allem dem viel versprechenden Kapitel „Writing Art“ mehr Aufmerksamkeit gebührt, zum Beispiel durch eine detaillierte Verschränkung zwischen Theorie und eigener Forschungspraxis. Das tatsächliche Verhältnis zwischen Künstlerin und Anthropologin im Prozess der Feldforschung bleibt weitgehend unbesprochen: Wie dialogisch hat Nippe im Feld gearbeitet? Haben die KünstlerInnen ihre Texte gelesen, die Interviews autorisiert? Gab es – in diesem relativ homologen Forschungskontext – Unterschiede im Schreiben „über“ prominente und unbekannte KünstlerInnen? Gerade weil Nippes Buch aufgrund eines innovativen Zugangs an so vielen Stellen neugierig macht, würde man in so manchen Bereich gerne tiefer vordringen und in vollen Dimensionen das erfahren, was Christine Nippe zu Recht als Stärke ihres Ansatzes hervorhebt: „Ethnographie kann ‚unter‘ die Oberfläche des Kunstwerks gelangen, um es in seiner alltäglichen Kontextualität von Raumpraxen, -erfahrungen und -wahrnehmungen zu erfassen.“ (S. 142)

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/