K. Ruffing u.a. (Hrsg.): Kontaktzone Lahn

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Titel
Kontaktzone Lahn. Studien zum Kulturkontakt zwischen Römern und germanischen Stämmen


Herausgeber
Ruffing, Kai; Becker, Armin; Rasbach, Gabriele
Reihe
Philippika 38
Erschienen
Wiesbaden 2010: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
VI, 180 S.; 1 Faltkarte
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus-Peter Johne, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Nachricht des Historikers Cassius Dio (56,18,2), in der Regierungszeit des Kaisers Augustus seien von den Römern Städte in Germanien gegründet worden, hielt man lange für übertrieben, wenn nicht sogar für erfunden. Erst die seit 1993 durchgeführten Ausgrabungen im hessischen Lahnau-Waldgirmes haben diese Ansicht gründlich korrigiert. Sie erbrachten den Nachweis einer römischen Stadt östlich des Rheins in ihrer Gründungsphase in den Jahren um den Beginn der christlichen Zeitrechnung. Veranlasst durch diese Entdeckung, standen die Beziehungen zwischen Römern und Germanen an der Lahn, in der Wetterau und im Rhein-Main-Gebiet im Mittelpunkt einer 2006 von der Universität Marburg veranstalteten Tagung, deren Beiträge den Inhalt des Sammelbandes bilden. Überraschend ist allerdings seine inhaltliche Gewichtung: Nur sechs der zwölf Beiträge behandeln nämlich die „Kontaktzone Lahn“. Drei Aufsätze widmen sich religionsgeschichtlichen Themen außerhalb der Region, drei weitere allgemeinen Erörterungen zu Begriffen, Topik und Terminologie der römisch-germanischen Beziehungen, wobei kein Bezug zum Buchtitel erkennbar wird. Außerdem hat die angesichts anhaltender Grabungstätigkeit in Waldgirmes relativ lange Phase der Drucklegung dazu geführt, dass Ergebnisse der Untersuchungen aus den Jahren 2008 und 2009, verbunden mit neuen historischen Schlussfolgerungen, inzwischen bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden sind.

Zu Beginn stellt Armin Becker die Grabung von Waldgirmes vor (S. 5–19). Entscheidend sind dabei die Charakterisierung des Ortes als Zivilsiedlung und die dendrochronologische Datierung der Gründung auf 4/3 v.Chr. Als Ende der Anlage gilt die Zeit nach der römischen Niederlage im Teutoburger Wald 9 n.Chr. Nach neueren Befunden nimmt derselbe Autor inzwischen jedoch eine längere römische Präsenz eventuell sogar bis zum Jahre 16 an.1 Bei dem Untertitel des Aufsatzes „Praesidium, oppidum, colonia?“ wird man den letzten Terminus getrost streichen dürfen. Während der langen Römerherrschaft an Rhein, Mosel und oberer Donau sind nur drei Städte mit dem rechtlichen Status einer colonia ausgezeichnet worden, Trier, Köln und Xanten. Dies erfolgte aus noch heute erkennbaren Gründen, die man sich für Waldgirmes auch bei einer längeren Existenz kaum vorstellen kann. Thematisch eng verbunden mit Beckers Beitrag sind die beiden Aufsätze von Gabriele Rasbach über Verkehrswege im Barbaricum und über das kulturelle Umfeld von Waldgirmes (S. 77–94 u. 95–109). Der Kontaktzone Rhein – Main – Lahn in ihrem Verhältnis zur römischen Politik widmet sich der umfangreichste Beitrag von Peter Kehne (S. 31–65). Minutiös vergleicht er alle Nachrichten über diese Region aus den literarischen Quellen von Caesars Rheinübergängen 55 und 53 v.Chr. bis zum Feldzug des Tiberius 5 n.Chr. – und kursorisch bis zum Jahre 16 – mit den Befunden der Archäologie, um neben den historischen Vorgängen die ethnischen Verhältnisse weiter zu erhellen. Dabei liefert er beachtenswerte Interpretationen zur Deutung einzelner Ereignisse wie auch zum Gesamtverständnis der Thematik. Auf regionale Differenzierungen in den Feldzügen der augusteischen Zeit weist Torsten Mattern hin (S. 67–75). Er betont signifikante Unterschiede der römischen Präsenz in der Kontaktzone Lahn gegenüber den Stützpunkten an der Lippe und erklärt sie mit der Verschiedenartigkeit der rechtsrheinischen Stämme.

Die Inschrift eines Weihealtars aus Eisenberg in der Pfalz südwestlich von Worms interpretiert Sven Günther (S. 21–29). Der sehr fragmentarische Zustand des Zeugnisses aus dem 2. oder 3. Jahrhundert lässt die daran geknüpften Überlegungen zur Militär- und Wirtschaftsgeschichte der Provinz Germania superior allerdings hypothetisch bleiben. Um die religiösen Verhältnisse im mittleren Neckarraum geht es in dem Aufsatz von Leif Scheuermann (S. 111–125). Indigene Einflüsse auf die Religion in diesem Gebiet lassen sich kaum feststellen, fassbar werden vielmehr fast nur die Vorstellungen der Soldaten und eingewanderten Siedler. Seinen Beitrag versteht der Autor als einen Vergleich zu Untersuchungen im Lahngebiet, in dem die Römer auf eine Bevölkerung mit entwickelten eigenen Traditionen trafen. Ist hier also ein Bezug zur Thematik des Bandes hergestellt, so fehlt dieser völlig bei Wolfgang Spickermanns Behandlung der Göttin Nehalennia an der Nordseeküste (S. 127–138). Sie war die Schutzgöttin der Schelde in den heutigen Niederlanden und wurde besonders von Kaufleuten im Britannienhandel verehrt, ihre Monumente entstammen der Zeit zwischen 150 und 250 n.Chr.

Mit den Schwierigkeiten des bereits oft erörterten Germanienbegriffs beschäftigt sich Roland Steinacher (S. 139–152). Sein instruktiver Überblick über dessen historische Entwicklung legt den Schwerpunkt auf die Spätantike und das Frühmittelalter und entfernt sich damit noch weiter als andere Beiträge vom Ausgangspunkt der Tagung. Die spärlichen Nachrichten über die Essgewohnheiten der Germanen stellt Sarah Bäcker in das Spannungsfeld zwischen antiker Barbarentopik und modernem Kulturbegriff (S. 153–166). In einer wissenschaftsgeschichtlichen Studie behandelt Volker Losemann die Diskussionen, die in der NS-Zeit über die damals zeitgemäße Terminologie für die römisch-germanischen Auseinandersetzungen geführt wurden (S. 167–180). Sie beschließt den in allen seinen Teilen zweifellos interessanten, inhaltlich aber doch recht heterogenen Sammelband.

Anmerkung:
1 Vgl. Armin Becker, Lahnau-Waldgirmes und die Feldzüge des Germanicus, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 93 (2008), S. 83–89; ders., Germanicus und die Chatten. Waldgirmes und der Feldzug 15 n.Chr., in: Berichte der Kommission für Archäologische Landesforschung in Hessen 10 (2008/2009), S. 47–56.

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