D. J. Rycroft u.a. (Hrsg.): The Politics of Belonging in India

Cover
Titel
The Politics of Belonging in India. Becoming Adivasi


Herausgeber
Rycroft, Daniel J.; Dasgupta, Sangeeta
Reihe
Routledge Contemporary South Asia
Erschienen
London 2011: Routledge
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 116,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Berkemer, Humboldt-Universität zu Berlin

Das hier zu besprechende Buch ist wohl die wichtigste neuere Publikation zur Debatte um die Selbst- und Fremdzuschreibung der Begriffe „indigen“, „tribal“ und „adivasi“ in der politischen und sozialen Praxis in Südasien. Die Beiträge des Sammelbandes liefern anschauliche Beispiele zum Verständnis neuer politischer Debatten im Bereich der Adivasi-Bewegungen in Indien, und speziell im Großraum Bengalen.

Die Herausgeber beginnen den Band mit einem sehr guten Essay zur Geschichte der Begriffe „tribe“ und „adivasi“ im historischen Kontext des 19. Jahrhunderts bzw. der indischen Nationalbewegung danach. In deren Umfeld ist der Begriff „adivasi“ 1938 als indigen klingende Alternative zu „tribe“ zu ersten Mal in der Öffentlichkeit erschienen, wobei letztgenannter schon als Terminus der kolonialen Administration im Kontext von Wissenschaftsmythen des 19. Jahrhunderts auftauchte, wie etwa „Rasse“ und „Orient“. Der Begriff „tribe“, so die Herausgeber und verschiedene Beitragende, sei ein Mittel, mit Hilfe von administrativer Logik Distanz zu schaffen zwischen den einheimischen wie kolonialen Herrschereliten einerseits und Gruppen mit abweichenden Lebensformen und Habitus andererseits. Die Fremdzuschreibung „tribe“ drücke aus, dass diese Gruppen als „primitiv“ und auf niederer Kulturstufe stehend betrachtet worden seien. Die Zuschreibung „tribe“ markierte die betroffenen Gruppen als isoliert und geschichtslos. Wie in dem Band an vielen Stellen aufgezeigt wird, verwenden lokale und regionale Bürokraten, Industrielle, Publizisten, Politiker Entwicklungshelfer und adivasi-Aktivisten, also praktisch die ganze postkoloniale Elite der „tribal areas“, diese Kategorisierung bis heute wenn es darum geht, die Anderen zu charakterisieren und aus der Distanzierung zu ihnen Legitimation zur Machtausübung zu gewinnen.

Auch die naive wissenschaftliche Verwendung der Begriffe wird von den Herausgebern kritisiert. Die unkritische Benutzung in der Wissenschaftssprache ergibt eine Tautologie: „tribe“ auf der Ebene der Quellenbegriffe wird versucht durch „tribe“ als vermeintlich analytisches Instrument zu erklären oder zu kritisieren. Doch auch der Begriff „adivasi“ trägt versteckte Annahmen in sich, die im Kontext Südasiens nicht einlösbar sind. „Adivasi“ ist Hindi bzw. Neo-Sanskrit für „Ureinwohner“ oder für den englischen Begriff „indigene“. „Adivasi“ impliziert, dass die so bezeichneten Gruppen „Überreste“ einer früheren Bevölkerung darstellen, die sich in unzugänglichen Gebieten nur wenig verändert erhalten haben. In anderen Gegenden seien die ersten Bewohner durch spätere Einwanderer verdrängt oder kulturell verändert worden. Historisch nachweisen lässt sich dieses einfache Bild jedoch nicht. Wieder läuft die wissenschaftliche Arbeit Gefahr, Behauptungen und Konflikte der sozialen Praxis im Gewand einer pseudo-historischen Erzählung unreflektiert weiter zu tragen.

In Erweiterung und Konkretisierung dieses grundlegenden Themas enthält das Buch fünf Teile, organisiert in je zwei oder drei Artikel und eine ausführliche Einleitung der Editoren. Der erste Teil beschäftigt sich mit den oft nicht eindeutigen oder willkürlichen Grenzen von Provinzen und Homelands. Die beiden zugehörigen Artikel von Willem v. Schendel und Roma Chatterji sind geographisch in Bengalen angesiedelt, reichen aber in ihrer Thematik weit darüber hinaus und zeigen, wie administrative und kulturelle Selbst- und Fremdzuschreibung in Südasien auf komplexeste Weise ineinandergreifen. Der folgende Teil geht wieder auf die ehemalige Bengal Province ein. Zwei historische Beispiele „tribaler“ Revolten, die Santal-Rebellion um 1932 (Tanika Sarkar) und die Beteiligung von „indigenes“ aus Singhbhum am Großen Aufstand von 1857-58 (Asoka K. Sen) sind hier Thema. Es zeigt sich, dass die Akteure in diesen politischen Aktivitäten nicht nach den traditionellen Kategorien wie tribal/adivasi/subaltern und kolonial/high caste/dominant etc. sortierbar sind. Während Sarkar neben der historischen Narrative vor allem die Dekonstruktion der Begrifflichkeiten bietet, zeigt Sen, dass 1857/58 eine Solidarisierung der Bauern (tribal oder nicht) mit ihren traditionellen „little kings“ zustande kam. Mitglieder beider sozialer Gruppen lehnten sich gegen von oben verordnete Steuer- und Landreformen auf. Dieser Befund ist für Ethnohistoriker gerade des „tribalen“ Mittelindiens nicht neu. Er muss aber für andere Fachrichtungen immer wieder mit neuen Daten explizit gemacht werden, da sich dort der dominante Diskurs immer noch mit der vermeintlichen Territorialität der Subalternen in tribal areas des Hinterlandes und mit vermeintlich dichotomen Strukturen der Machtverhältnisse beschäftigt.

Im zweiten Teil des Bandes warnt Vinita Damodaran davor, koloniale Quellen von vorn herein als ideologisch belastet und daher wertlos für ethnohistorische Forschung zu betrachten. Am Beispiel von Chota Nagpur wird gezeigt, dass die Materialien der kolonialen Administration oft wertvolle Hinweise auf traditionelle Landrechte und deren Veränderungen im letzten Jahrhundert geben. Anders das Vorgehen von Darley Jose Kjosavik: hier geht es um eine Umnutzung von black feminist concepts im Kontext der adivasi-Bewegung. „Indigenität“ soll emanzipatorisch gefasst und in der Praxis operationalisierbar gemacht werden. Der Ansatz lässt für Südasien neue Ergebnisse erwarten.

Der darauf folgende Teil beleuchtet kritisch die politischen Diskurse um Aspekte von Govermentalität, Souveränität, Partizipation, Hilfe und Entwicklung, usw. Dargestellt werden die Themen Neuerfindung politischer Traditionen im nachkolonialen Nordosten Indiens (Karlsson), die fundamentale Sprachlosigkeit zwischen Gebern und Empfängern in Entwicklungsprojekten (Mosse) und die Frage der Partizipation von Santals und der BJP bei der Entstehung des neuen Bundesstaates Jharkhand (Amit Prakash). Der fünfte und letzte Teil widmet sich der Umkehrung des Prinzips der Marginalität. Die beiden Autoren Abhijit Guha (Bengalen) und Alpa Shah (Jharkhand) erörtern Fälle der Aneignung der „adivasi“-Identität durch politisch dominierende Gruppen zweier Bundesstaaten. In beiden Fällen wird die Imaginierung, Konstruktion und Instrumentalisierung der marginalen Vergangenheiten durch politische Interessengruppen im indischen Parteienspektrum, in der linken Bildungselite und durch die naxalitische Opposition dargestellt.

Als Fazit sei gesagt, dass sie die Lektüre dieses Sammelbandes durchweg lohnt. Seien die Einleitungen noch so theorielastig, werden sie doch nie unlesbar. Die Qualität der Beiträge, bei aller Schwankung zwischen eher erzählenden und eher analytischen Ansätzen, ist durchweg gut bis sehr gut. Man merkt insgesamt die Sorgfalt, welche die Herausgegeber ihrem Thema angedeihen lassen. Dass der Band sogar mit einem Index versehen ist, sei bei der Seltenheit dieses Hilfsmittels in Sammelwerken extra betont.

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