N. Klopfer: Die Ordnung der Stadt

Cover
Titel
Die Ordnung der Stadt. Raum und Gesellschaft in Montreal (1880 bis 1930)


Autor(en)
Klopfer, Nadine
Reihe
Industrielle Welt 79
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XII, 324 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Fischer, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Im Zuge des „spatial turns“, der mittlerweile auch in der deutschen Geschichtsschreibung seinen Platz gefunden hat, werden in der vorliegenden Dissertation „Die Ordnung der Stadt – Raum und Gesellschaft in Montreal (1880-1930)“ von Nadine Klopfer die Einwohner der Stadt Montreal in ihrer besonderen ethno-kulturellen Zusammensetzung vom Raum her gedacht. Im Zentrum der Untersuchung steht das natürliche Wahrzeichen der Stadt – der knapp über 200m hohe Mont Royal –, anhand dessen die Machtkonstellationen über Konfliktsituationen innerhalb der Stadt analysiert werden.

Montreal bietet sich in mehrfacher Hinsicht als interessantes Untersuchungsfeld an. Mitte des 17. Jahrhunderts als französische Kolonie gegründet wurde die heute zweitgrößte kanadische Metropole 1760 de facto dem britischen Herrschaftsbereich einverleibt. In der Folge führte die Zuwanderung britischer Siedler zu einer Zweiteilung mit einem englischsprachigen Teil im Westen und einem französischsprachigen Teil im Osten der Stadt. Damit ging die religiöse Verschiedenheit der katholischen Frankokanadiern und der protestantischen Anglokanadier einher; wobei Klopfer stets betont, dass jene ethnischen Brüche in der Bevölkerung durch religiöse oder soziale Verschiedenheiten nicht deckungsgleich überlagert wurden. So arbeiteten beispielsweise Gewerkschaften der beiden Ethnien durchaus zusammen. In der Analyse der Konflikte um den Berg zwischen 1880 und 1930 sollen dabei zwei Elemente aneinander gekoppelt werden: die Betrachtung Montreals als Formation nordamerikanischen Stadtraums sowie die „Identitätskonstruktionen in Montreal und die kulturelle Rivalität in Kanada“ (S. 12).

Anhand der Analysekategorien Klasse, Ethnizität und Religion in Bezug auf Raumwahrnehmung und -aneignung wertet Klopfer eine Vielzahl von Quellen detailliert und kompetent für ihre Studie aus. Dabei stützt sie sich zur Darstellung der allgemeinen Diskurse um den Mont Royal auf Reiseführer und Werbepamphlete ebenso wie Reiseberichte. Für die Betrachtungen der einzelnen Konflikte zieht sie zum einen neben anglophonen und frankophonen Zeitungen auch die Archivbestände der an den Debatten beteiligten Organisationen in Form von Sitzungsprotokollen, Korrespondenz und Jahresberichten heran. Zum anderen konsultiert sie auch die Bestände der Stadtverwaltung in Form von Sitzungsprotokollen, Petitionen, Gutachten und der Korrespondenz der einzelnen Komitees. Ergänzt wird dieser Quellenfundus durch bildliche Überlieferungen wie Postkarten, die Sehgewohnheiten aufdecken sollen.

Als Basis für ihren raumtheoretischen Zugang greift Klopfer auf die anglo-amerikanische Raumforschung der „human geography“ zurück, die die „Interdependenz von Raum mit gesellschaftlichen Prozessen“ (S. 14) hervorhebt. Dabei geht es Klopfer in Verbindung zur Stadtforschung vor allem darum, sowohl die Form der Stadt als auch ihre Akteure und deren Wahrnehmung der „imagination urbaine“ einzufangen. Besonderer Bedeutung misst Klopfer dem kanadischen Soziologen Robert Shields und der US-amerikanischen Anthropologin Setha Low zu. Während Erster zwischen materiellem und mentalem Raum unterscheidet und die Dialektik von Raum und Gesellschaft hervorhebt, konzentriert sich Zweitere auf eine akteurszentrierte Alltagsperspektive nach Michel de Certeau. Damit liegt der Arbeit eine Trialektik zugrunde wie sie bereits bei Lefebvre konzipiert wurde und von Soja, wenn auch in fragwürdiger Art und Weise1, übernommen wurde.

Der Raum wird mit Rückgriff auf de Certeau zu einem dynamischen, gelebten Raum. Als Gegenstück dazu steht der stabile und statische de-Certeausche Ort. Der Geograph Robert D. Sack wiederum liefert Klopfer das passende Zwischenstück des territorialen Begriffes, der zwar Bewegung zulässt, diese allerdings räumlich begrenzt, und mit Machtkonzepten verschränkt. Bezüglich des Machtbegriffes greift Klopfer auf Antonio Gramsci und Michel Foucault zurück und vereint so Konzepte der Aushandlung der Hegemonie in der Gesellschaft und der Durchdringung dieser auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Problematisch erscheint der Umgang mit Foucaults Diskursbegriff: Zum einen reiht sich Klopfer in die Kritik zur akteurslosen Geschichtsschreibung nach Foucault ein ohne dabei sein späteres Werk in Bezug auf die Subjektivierungsprozesse zu beachten.2 Zum anderen wird eine Trennung zwischen Text und Handlung vollzogen, die zwar pragmatisch in Bezug auf die Analyse der Elitendiskurse gerechtfertigt sein mag, allerdings theoretisch auf Grundlage der späteren Werke Foucaults wenig fundiert ist. Genauer müsste Klopfer folglich nicht von einem „Foucault light“ sprechen, sondern von einem „early Foucault“, den sie zu Rate zieht.

Inhaltlich betrachtet Klopfer in drei verschiedenen Kapiteln vier verschiedene Konfliktfälle an drei verschiedenen Orten und geht dabei räumlich und nicht chronologisch vor. Den Anfangspunkt setzt die Kontroverse um den Bau des neuen Campus der Université de Montréal am Fuße des Berges zu Beginn der 1920er-Jahre. Darin eingebettet werden im ersten Kapitel grundlegende Diskurse der Identitätskonstruktion in Bezug zur Wahrnehmung des Berges und hinsichtlich seiner Bedeutung für die Geschichte der Stadt. Aufgrund der diskursiven Besetzung des Mont Royal und den Debatten um die Errichtung des Campus, in denen der Berg im Sinne eines Parks als gesunder und damit ordnender Stadtraum (besonders für die armen Bevölkerungsschichten) dargestellt wurde, entschied sich die katholisch-frankophone Universität 1924 schließlich den neuen Campus als „city upon the hill“ an die damals abseits gelegenen Nordseite zu verlagern. Insgesamt agierten die Akteure nach Klopfers Untersuchungen wenig pragmatisch, sondern ließen sich von den Zuschreibungen des Berges leiten.

Im zweiten Kapitel wird der Bau des Royal Victoria Hospitals, welches im Jahr 1893 eingeweiht wurde, dargestellt. Anders als im Falle des Universitätscampus bewegten sich die Akteure in einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Errichtung eines Krankenhauses am Mont Royal bediente offensichtlich die vorherrschenden Diskurse zu Hygiene, Gesundheit, Ordnung und Moral zu einem idealisierten Stadtbild am anglophonen Oberschichtenviertel Golden Square Mile. Anders als im Fall der Université de Montréal überwogen bei den öffentlichen Debatten und bei den Sitzungen im Stadtrat pragmatische Überlegungen. Entscheidend war dabei, so Klopfer, wohl die ausdrückliche Öffnung des Krankenhauses für alle „races“ und „creeds“ durch seine Stifter – ein Novum in der Stadt.

Das letzte Kapitel, welches zwei Konfliktfälle behandelt, beschäftigt sich mit dem Berggipfel und (dem Versuch) der Errichtung zweier Monumente auf der Spitze. Mit dem Ende des Rundgangs auf dem prestigeträchtigen Gipfel verschieben sich die Diskurse um die zwei Projekte vom Pragmatischen ins Symbolische. Konkret behandelt Klopfer die versuchte Errichtung einer kontroversen Marienstatue in den 1880er-Jahren und den vollzogenen Bau eines christlichen Kreuzes 1924, welches noch heute zu sehen ist. Obschon die geplante Marienstatue diskursiv an den Gründungsmythos der Stadt anknüpfte, sahen sich die protestantischen Bewohner der Stadt durch die katholische Symbolik angegriffen, sodass der katholische Klerus das Projekt zurückzog. Erst das konsensfähige Symbol des Kreuzes, von frankokanadischer Seite her initiiert, konnte aufgrund seiner konfessionslosen Symbolik, die „Montrálité“ der Stadt und den Siegeszug aller Weißen in Nordamerika wiederspiegeln.

Klopfer stößt mit ihrer raumgebundenen Analyse und der Einbettung der Konflikte in die ethnoreligiösen Beziehungen in der Stadt um den Mont Royal in ein Forschungsdesiderat. Ihre Darstellungen begrenzen sich – dem Quellenkorpus geschuldet – hauptsächlich auf die Elite und die Mittelschicht, obschon sie mit Gramsci und Low ein Instrumentarium zur Analyse auch der unteren Gesellschaftsschichten bereitgestellt hat. Die Arbeit überzeugt nicht nur aufgrund des theoretischen Zugriffs, sondern auch in Bezug auf die Darstellung der Machtverschiebungen zwischen den zwei vermeintlich kohärenten ethnischen Stadteilen, die durchaus in der Lage waren, pragmatische Allianzen zu schließen. So zeigt die Analyse der Aushandlungen in den einzelnen Konflikten, dass das vorherrschende Narrativ bezüglich eines konfliktreichen Prozesses des schwindenden englischen Einflusses gegenüber den Frankokanadiern zu kurz greift, jedoch nicht gänzlich verworfen werden muss. Somit liefert Klopfer einen wichtigen wissenschaftlichen Betrag im Sinne einer Differenzierung der Geschichte des nordamerikanischen Stadtraums und der englisch-französischen Rivalität in Montreal.

Anmerkungen:
1 Christian Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart, 2005.
2 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main, 1977.

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