P. v. Hintze: Marineoffizier, Diplomat, Staatssekretär

Titel
Marineoffizier, Diplomat, Staatssekretär. Dokumente einer Karriere zwischen Militär und Politik, 1903-1918


Autor(en)
von Hintze, Paul
Reihe
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 60
Erschienen
München 1998: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
754 S., 1 Abb.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bußmann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes (AA) im Wilhelminischen Kaiserreich sind selbst ein knappes Jahrhundert nach den historischen Ereignissen ein seltsam unbeschriebenes Blatt geblieben. Das ist erstaunlich, nicht zuletzt wenn man sich vor Augen führt, daß dieser Posten dem eines heutigen Außenministers entsprach. Trotz Abhängigkeit der Staatssekretäre vom Reichskanzler, propagiertem (jedoch wenig praktiziertem) "persönlichen Regiments" des Kaisers und starker Stellung der Militärs blieb eine einflußreiche Rolle der leitenden Außenpolitiker des Reiches, die noch keinen ausreichenden Niederschlag in biographischen Studien gefunden hat. Zwar ist in den unterschiedlichsten Arbeiten zu den verschiedensten außenpolitischen Entwicklungen dieser Zeit auch immer wieder der Handlungsspielraum der jeweils führenden deutschen Diplomaten vermessen, sind ihre Aktivitäten analysiert worden. Auch in den einschlägigen Überblicksdarstellungen findet sich hierzu manches. Häufig fehlt jedoch noch die Einordnung der Einzelschritte in den Gesamtzusammenhang der Person des jeweils Handelnden. Der Blick auf "den Staatssekretär" auch zu einer Zeit, in der er noch nicht oder nicht mehr Staatssekretär war, läßt aber manche Aktivitäten und Ansichten in einem umfassenderen Licht erscheinen und größere Zusammenhänge deutlich werden. 1

Diese relativ geringe Beachtung der Führungspersonen des AA gilt insbesondere für die Jahre des Ersten Weltkriegs, die nicht nur eine Periode der Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln waren (wo die Reichsleitung samt oberstem Diplomaten durch die immer dominierender werdende Machtposition der Obersten Heeresleitung in ein Schattendasein gedrängt wurde), sondern in der trotz Primat des Militärischem den Leitern der Außenpolitik eine Schlüsselposition zukam. Johannes Hürter nannte das Quartett der zwischen Julikrise 1914 und politischem Systemwechsel im Oktober 1918 amtierenden Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes - Gottlieb von Jagow, Arthur Zimmermann, Richard von Kühlmann und Paul von Hintze - in dem jüngsten Standardwerk treffend "vier ferne Namen, vier vernachlässigte Größen in der Geschichte des Ersten Weltkrieges". 2 Hürter ist es nun auch, der die beschriebene Forschungslücke im Falle Hintzes (1864-1941) weitgehend geschlossen hat; durch eine umfassende Edition der Dokumente, die auf dem im Freiburger Militärarchiv ruhenden Nachlaß des Marineoffiziers und Diplomaten fußt, aber auch andere Bestände extensiv einbezieht. 3

Die Edition in der von Klaus Hildebrand betreuten Reihe "Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts" der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ist vorbildlich gearbeitet 4 und fügt sich würdig ein in die Reihe teilweise schwergewichtiger Vorgänger: so die Weltkriegs-Tagebücher Theodor Wolffs (hg. v. Bernd Sösemann), John Röhls Bände mit der politischen Korrespondenz Philipp Eulenburgs oder die erst jüngst wieder heftig umstrittene Publikation der Riezler-Tagebücher durch Karl Dietrich Erdmann. 5 Auf den ersten Blick mag es verwundern, einem nicht einmal ein Vierteljahr amtierenden Leiter der deutschen Außenpolitik, der zudem mit der Reputation eines Reaktionären behaftet ist, eine umfassende Edition in einer renommierten Reihe zu widmen. Doch derartige Bedenken wären fehl am Platze. Hintze war - trotz der nur knapp 13 Wochen im Amt des Staatssekretärs - an wesentlichen Weichenstellungen des Jahres 1918 beteiligt. Die Rahmendaten der Berufung am 7.7. vor der letzten deutschen Offensive im Westen und dem Rücktritt am 4.10. nach Absendung des Waffenstillstandsgesuchs an US-Präsident Wilson, also "zwischen erhofftem Sieg und schnellem Niedergang, zwischen überzogenen Kriegszielen und verspäteten Friedensschritten" (11), verdeutlichen dies eindrucksvoll. Außerdem ist er als einer der wenigen Grenzgänger zwischen militärischer und diplomatischer Laufbahn, als seltener Seiteneinsteiger, der es bis in die Führungsposition der deutschen Außenpolitik brachte, als kaisertreuer, aus konservativer Grundüberzeugung behutsamen inneren Reformen aufgeschlossener Neuadeliger "im Spannungsfeld von Modernität und Tradition" (27) eine "Ausnahmeerscheinung" (50), die durchaus besondere Aufmerksamkeit verdient.

Kernstück der Edition ist eine klug abwägenden Einführung, die nicht nur dem eiligen Leser auf gut 100 Seiten Politik und Person Hintzes näherbringt, sondern auch für den Kundigen einen wichtigen Wegweiser durch den anschließenden umfangreichen Dokumententeil bietet mit Erläuterungen des jeweiligen Kontextes. Hürter weist auf den bisher wenig beachteten Umstand hin, daß sich für Hintze durch seine vielen Überseereisen als Seeoffizier vor der und um die Jahrhundertwende ein weltläufiger Horizont eröffnete, der späteren, auf den Kampf in Nord- und Ostsee gedrillten Marineoffizieren verschlossen blieb, und der ihm nach seinem Eintritt in den politischen Wirkkreis zugute kam. Notwendig und verdienstvoll ist vor allem die Einbeziehung der "prägenden Erfahrungen" (12) Hintzes als Marineattache und Militärbevollmächtigter in St. Petersburg 1903-11, als Gesandter bis 1914 in Mexiko, bis 1917 in China, schließlich in Norwegen. Sie ermöglicht nicht nur einen breiten Zugang zur Gedankenwelt und zum Hintergrund der späteren Entscheidungen Hintzes an oberster Stelle, sondern gibt auch hochinteressante Innenansichten eines deutschen Auslandsvertreters auf die russische Revolution von 1905 und den verlorenen Krieg mit Japan, auf den Beginn der Revolution in Mexiko und auf zwei neutrale Länder im Weltkrieg.

Die acht "russischen Jahre" Hintzes umspannen wesentliche Weichenstellungen der Weltpolitik: die mißglückte Annäherung der Monarchenzusammenkunft von Björkö, an der der Marineattache im Gefolge des Zaren teilnahm, die englisch-russische Annäherung mit dem Resultat der Entente und die russisch-österreichischen Balkan-Auseinandersetzungen kulminierend in der Bosnischen Annexionskrise von 1908. Zu all dem findet sich wichtiges Material in der Edition.

Seit Hintze - fußend auf exzellente Verbindungen am Zarenhof - sich mit seinen Berichten aus Petersburg auszeichnen konnte und zu einem der "kompetentesten deutschen Rußlandexperten ... nicht nur auf militärischem, sondern auch auf politischem Gebiet" (38) wurde, war ihm das besondere Wohlwollen sowohl von Marinestaatssekretär von Tirpitz wie des Monarchen sicher. Nach der außergewöhnlichen Ernennung zum Flügeladjutanten 1906 (der zwei Jahre später die Nobilitierung folgte) verfügte Hintze durch diese Immediatstellung über einen direkten, von AA und Reichskanzler nicht kontrollierbaren Kanal zum Kaiser und wurde von Wilhelm II. "zu einer Art Sondergesandten in Marineuniform" und "persönliche[m] Verbindungsmann" (31 und 33) zum Zaren gemacht. Als Militärbevollmächtigter war Hintze ab 1908 dann noch unabhängiger, geriet jedoch zunehmend in politische Widersprüche mit der offiziellen Diplomatie des Kaiserreichs. Während der Marineoffizier aus dem Scheitern der von ihm nachhaltig unterstützten deutsch-russischen Ausgleichsbemühungen und der früh erkannten Rückwendung Rußlands nach Europa für ein hartes Auftreten gegenüber dem Zarenreich und eine geschlossene Front mit Österreich plädierte, suchte das AA nach der Bosnischen Krise erneut die Annäherung. Hintze fürchtete, daß Rußland deutsches Entgegenkommen nur als Zeichen der Schwäche interpretieren würde, während er die von ihm auch aus innenpolitischen Gründen gewünschte Wiederbelebung der "traditionellen freundschaftlichen Beziehungen" nur "durch die [russische] Furcht vor einem Hieb" (291) gewährleistet sah.

Entscheidenden Einfluß auf die deutsche Rußlandpolitik konnte Hintze nicht gewinnen. Die deutsche diplomatische Führung war vielmehr von seinen pointierten, die Politik des AA implizit kritisierenden, dem Ohr des Monarchen jedoch (auch aus diesem Grund) wohlgefälligen Meinungen alarmiert. So machten dann die Widerstände der eigenen Diplomaten, in Zusammenspiel mit einem Vertrauensverlust Hintzes beim Zaren, die Stellung des Marineoffiziers in Petersburg unhaltbar; jedoch um den Preis, daß der Kapitän zur See selbst in den Diplomatischen Dienst überwechselte und als Gesandter nach Mexiko geschickt wurde.

Auch auf diesem Posten vertrat Hintze eine eigenständige außenpolitische Linie. Er setzte nicht auf die herkömmlichen Mittel und Ziele Bülow-Holsteinscher Prägung, wollte nicht die Position des tertium gaudens, der die Rivalität anderer Mächte schürte und sich davon Profit versprach. Vielmehr begriff Hintze das Scheitern dieses Ansatzes, der in die Selbstauskreisung geführt hatte, und setzte statt dessen verstärkt auf Kooperation mit anderen Großmächten zur Sicherung der eigenen Interessen. Dies empfahl sich insbesondere in einem entfernten Land, wo die Vorherrschaft der USA in Hintzes Augen ohnehin unvermeidbar war. Diese Grundhaltung entsprach durchaus der unter Bethmann Hollweg befolgten Außenpolitik, weniger hingegen den kaiserlichen Vorstellungen eines angeblichen anglo-amerikanischen Antagonismus' gerade in Mexiko.

Seiner Position als besonderer Günstling Wilhelms II., der ihn schon Ende 1909 "gleich als Botschafter" (37) in den diplomatischen Dienst übernommen sehen wollte, tat dies jedoch keinerlei Abbruch. Nur mit Mühe gelang es dem AA zu verhindern, daß Hintzes nächster Posten auf Anhieb der des Staatssekretärs war, als welchen Tirpitz ihn bei Kriegsbeginn favorisierte, oder daß er eine Verwendung im neutralen Europa erhielt. Statt dessen wurde Hintze nach Peking entsandt. Dort verfolgte er eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite suchte er China gegen Japan mit diplomatischen und ökonomischen Mitteln zu stützen, sondierte gleichzeitig aber auch für eine deutsch-japanische Verständigung auf Kosten Chinas. Beide Vorhaben mißlangen - weniger aufgrund von Fehlern Hintzes, sondern wegen fehlender Rahmenbedingungen. Deutschland war weder selbst zu einer nachhaltigen Unterstützung Pekings in der Lage, noch besaß es für dieses Vorhaben den nötigen Rückhalt bei anderen Mächten; etwa den USA. Schließlich dienten Japan die Sondierungen lediglich zur Aufwertung der eigenen Stellung unter seinen Alliierten.

Im Gefolge des Bruchs mit den USA kappte auch China im März 1917 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland; Hintzes neuer Posten wurde Kristiania (heute: Oslo). Dort war der Konteradmiral a.D. erneut vom AA "kaltgestellt" (67). Hintze gelang es nichtsdestoweniger, die strategisch und ökonomisch sehr wichtige Neutralität Norwegens zu erhalten - trotz der großen Spannungen aufgrund des deutschen U-Boot-Kriegs, der den Skandinaviern hohe Verluste an Schiffen und Menschen zufügte. Hierzu setzte er bewußt und erfolgreich auf "offenbaren Großmut und Versöhnlichkeit" (396); im Gegensatz zur von Staatssekretär Zimmermann bevorzugten Droh-Strategie. Nachgiebigkeit zeigte der Gesandte auch, als Norwegen aufgrund von amerikanischem Druck seine Importe nach Deutschland drosselte; diesmal allerdings ohne auf fühlbaren Widerstand des Zimmermann-Nachfolgers von Kühlmann zu stoßen, der selbst während seiner Zeit in den Niederlanden 1915/16 aus wohlverstandenem deutschen Eigeninteresse eine ähnlich verständnisvolle Haltung einem kleinen und weitgehend von der Entente abhängigen neutralen Nachbarstaat gegenüber eingenommen hatte.

Nach Kühlmanns Sturz Anfang Juli 1918 war Hintze bereits zum dritten Mal nach September 1914 und Juli 1917 als Staatssekretär im Gespräch. Ein Jahr zuvor hatte der öffentliche Protest der die Reichstagsmehrheit und ihre Resolution tragenden Kreise 6 trotz kaiserlichem Wohlwollen diese Ernennung noch verhindert. In veränderter außen- wie innenpolitischer Lage beförderte nun der Rückenwind rechter Kreise und des Militärs Hintze zum obersten Diplomaten. Die außergewöhnlichen Umstände und überraschenden Entscheidungswege bei der Ernennung Hintzes zum Staatssekretär werfen ein grelles Schlaglicht auf die (auch nach dem Chaos der Kanzlerwechsel vom Sommer und Herbst 1917 fortdauernde) Unkoordiniertheit und Ziellosigkeit, sowie auf die sich darin spiegelnden großen innenpolitischen Spannungen am Ende des Kaiserreichs, die durch die Führungsschwäche, Reformrenitenz und -resistenz Wilhelms II. noch verschärft wurden.

Nicht nur - wie Hürter nachweist - der reaktionäre Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts, Friedrich von Berg, der Hintzes Ernennung letztendlich beim Kaiser bewirkte, kannte den kommenden Staatssekretär "so gut wie gar nicht" 7 und protegierte einen Unbekannten lediglich aufgrund seines ihm vorauseilenden Rufs: Auch Kanzler Georg Graf von Hertling, der Hintze dem Kaiser gegenüber zunächst abgelehnt hatte, sich jedoch nicht durchzusetzen vermochte, hatte keine genauen Vorstellungen von seinem künftig wichtigsten Mitarbeiter. Der senile Reichskanzler hielt gar Hintzes bisherigen Arbeitsplatz offenbar zunächst für Stockholm anstatt Kristiania. Da der "Fremdkörper im diplomatischen Dienst" aber "den Eindruck eines ernsten und fähigen Mannes gemacht" habe, "als erstklassiger Kenner russischer Verhältnisse" gelte und Hertling zudem "bestimmt zugesagt[e] ..., in loyaler und offener Weise" mit dem Kanzler zusammenzuarbeiten, warb dieser nachdrücklich für Hintze. 8 Ganz offenbar machte Hertling aus eigener Schwäche gute Miene zum "bösen Spiel". Es gelang so, den Widerstand der Sozialdemokraten zu überwinden, die mit Blockade der Kriegskredite gedroht hatten. Was blieb, war jedoch das Faktum der Ernennung des Staatssekretärs ohne jede Konsultation oder gar Rücksichtnahme auf den Reichstag - ein empfindlicher Rückschritt nach der, wesentlich durch Kühlmanns persönlichen Einsatz herbeigeführten, leichten Öffnung hin zu parlamentarischeren Verfahren bei der Lösung der Kanzlerkrise im Herbst 1917.

Aufgrund der Protegierung durch das Reichsmarineamt, infolge des Einverständnisses von Ludendorff und Hindenburg, dank der entsprechenden publizistischen Unterstützung etwa des ihm schon 1912 massiv beistehenden konservativen Publizisten Ernst Graf zu Reventlow und wegen der Umstände seiner Ernennung galt damals und gilt Hintze teilweise bis in die heutige Forschung hinein als alldeutsch angehaucht - was "auf einer Fehleinschätzung beruhte" (75), wie Hürter durch differenzierte Quellenpräsentation zu belegen weiß. Hintze war bei seiner Ernennung der Mann der Obersten Heeresleitung (OHL), doch gründete sich diese Unterstützung weniger auf seine bisherige Politik (die, wie auch die Person, kaum jemand in Avesnes oder Berlin kannte), sondern allein auf die Herkunft als herausragender Seeoffizier und auf seinen Ruf als militärisch zupackender Diplomat: Sympathie aufgrund von Hörensagen und äußerem Schein. Die Widerstände der Gegenseite waren da schon eher fundiert, wenngleich nicht immer sachlich. Das Mißtrauen des AA gegen Hintze war langgehegt: eine sich an der Sonderstellung des politisch tätigen (Noch-)Nicht-Diplomaten in Petersburg entzündende Mischung aus inhaltlichen Differenzen, Standesdünkel, Eifersüchteleien und erklärlichen Ressentiments gegen einen Marineoffizier, einen Außenseiter. Hintze galt als Tirpitz-Mann, und war damit vielen alteingesessenen Diplomaten als "falscher Hund und Intrigant ..., als Marinier verdächtig", der "charakterlos jede Politik mitmachen" werde, die die OHL vorgebe - so die Befürchtungen nicht nur Wilhelm von Radowitz', des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei. Sich selbst empfand Hintze als den "bestgehasste[n] Mann im Auswärtigen Amt" (613) 9; ein Umstand, bei dem sein auf allen Posten zutagetretendes fehlendes Händchen im Umgang mit Untergebenen nicht gerade hilfreich war.

Einmal im Amt, verfolgte Hintze jedoch - trotz dieser Befürchtungen und Erwartungen - eher, mit leichten Modifikationen, die außenpolitische Linie Kühlmanns, als daß er einen Schwenk zu Ludendorff vollzog. Vielmehr stellte sich der neue Staatssekretär mehrfach und erfolgreich der OHL in den Weg. Hintze war kein politisch überragender Kopf, zeigte sich aber flexibel, trug den militärischen und außenpolitischen Realitäten durchaus Rechnung und suchte die OHL entsprechend zu beeinflussen. Im Umgang mit der Heeresleitung, ebenso wie bei der Beeinflussung des Kaisers, hatte Hintze als ehemaliger Militär und besonderer Vertrauensmann Wilhelms II. bessere Karten als sein Vorgänger Kühlmann, der als langjähriger Gegner von Flottenrüstung, U-Boot-Krieg und weitgreifenden territorialen Kriegszielen bekannt war. Der neue Staatssekretär konnte Ludendorff als respektierter Gleichberechtiger und Gleichrangiger ansprechen, der in Details nachgab, um in Kernpunkten seinen Widerspruch "offen und mit einer klaren, militärisch knappen Sprache" vorzubringen, dabei aber "stets den Schein kameradschaftlichen Zusammenwirkens" (85) pflegte. Ohne diese von Hürter zurecht betonten Punkte beiseitewischen zu wollen, muß dennoch hinzugefügt werden, daß auch Kühlmann in den ersten Monaten seines Staatssekretariats - sogar noch bei weit aussichtsreicherer militärischer Lage - tatkräftig die Annexionsabsichten der Militärs, Alldeutschen, Konservativen und Rechtsliberalen zurückdrängte. Betrachtet man etwa die von ihm beim "Kronrat" vom 11.9.1917 erreichte, nur noch mit überwindbaren Bedingungen versehene Freigabe Belgiens, die unzweifelhafte Meinungs- und Politikführerschaft über die Kanzler Michaelis und Hertling, sowie den bereits erwähnten innenpolitischen Einsatz in Richtung Parlamentarisierung, so relativiert sich Hürters Aussage, Hintze habe "sich besser als alle seine Vorgänger während des Krieges innerhalb der Reichsleitung durchzusetzen" vermocht (106).

Die drei zentralen Politikfelder des Herbstes 1918 waren das Verhältnis zu Rußland, Anknüpfungsmöglichkeiten nach Westen, sowie die innere Reform. Im ersten Punkt gelang es Hintze, sich schnell und dauerhaft durchzusetzen. Er bekämpfte wie Kühlmann die Angliederung des gesamten Baltikums an das Kaiserreich und verhinderte Ludendorffs langgehegten Plan, bis Petersburg zu marschieren und die Bolschewiki-Herrschaft militärisch zu zerschlagen - eine Entscheidung von (erst im Rückblick erkennbarer) welthistorischer Tragweite. Hintzes Konzept unterschied sich dabei wenig von der Linie seines Vorgängers, daß Lenin "am besten seinem eigenen Schicksal zu überlassen sei, um ... in seinem eigenen Fett weiterzuschmoren." 10 Der neue Staatssekretär ging nur graduell dahingehend darüber hinaus, als er eine faktische "Partnerschaft mit den Bolschewiki" (96) etablierte und die bestehende Stützung des Regimes noch ausbaute. Bei der Durchsetzung dieser Politik halfen Hintze die gänzlich veränderten Rahmenbedingungen einer ständig bedrohlicher werdenden Kriegslage, die die OHL zwar verschleierte, die ihr aber zunehmend die Mittel zu weiterer Ostexpansion raubte.

Schwieriger und weniger erfolgreich war die versuchte Überwindung der wahnwitzigen militärischen Forderungen im Westen. Obwohl Ludendorff ihn Mitte August nur halb und beschönigend über den Ernst der Lage aufklärte, stand für den Staatssekretär fest, daß "alles auf dem Spiele stünde, alles" (521), wenn es nicht gelinge, nach Innen hin einen status quo ante Frieden durchzusetzen und den ausgreifenden Annexionismus der OHL zu brechen. Die völlige Preisgabe Belgiens konnte aber auch er nicht erreichen, seine Forderung nach Aufnahme von Friedensverhandlungen wurde abgelehnt, ebenso wie der bereits von Kühlmann erfolglos angestrebten Weg einer geheimdiplomatischen "Aussprache between gentlemen" (551) mit der Entente keine Resultate brachte. Ludendorff blieb hart, die Alliierten konnten ihres Sieges sicher sein: die Rahmenbedingungen zur Herbeiführung des von Hintze angestrebten "Frieden[s] mit Ehren" (412) waren nicht vorhanden. Aber auch er selbst verfolgte die Verständigungspolitik ohne echten Nachdruck, glaubte bis Ende September, noch Zeit zu haben, einen militärischen Erfolg als Auftakt für echte Friedensschritte abwarten zu können und zu müssen, war "zu sehr ... Diplomat alter Schule und zu wenig ... Politiker am Ende eines Weltkrieges" (106).

Auf innenpolitischem Gebiet schließlich zeigte Hintze Mitte September mit seiner Forderung nach einem neuen Kabinett unter Einbeziehung der SPD zur Stabilisierung der inneren Situation ungewöhnliche Reformwilligkeit. Kanzler Hertling lehnte diesen Weg jedoch glatt ab. Zehn Tage später forderte Ludendorff überstürzt ein sofortiges Waffenstillstandsangebot. Erst im Gefolge dieses Panikschritts gelang es Hintze, sein Konzept der "Revolution von oben" parallel zu dem Waffenstillstandsangebot an Wilson durchzusetzen. Die Genesis dieser Entwicklung ist bereits seit langem erforscht und bekannt; Hürters Edition kann hier wenig Neues bringen, wohl aber den Ablauf aus der subjektiven Sicht eines der Hauptbeteiligten minutiös und zusammengefaßt darstellen. Bisher weitgehend unbekannt ist die lange Tradition, in der sich Hintzes ungewöhnlich pessimistische Einschätzung der Aussichten Deutschlands im Krieg ebenso wie sein Plädoyer für die Hinzuziehung von Sozialdemokraten in die Regierung und eine Wahlrechtsreform in Preußen befindet. Reform nach innen und Zurückhaltung in den Kriegszielen nach außen waren offenbar schon im Herbst 1914 feste Bestandteile von Hintzes politischem Denken (vgl. S. 361f).

Fazit: In Hürters umfangreicher, sorgsam aufbereiteter und klug eingeleiteter Edition findet sich einiges Bekanntes zum Zerfallsprozeß des Kaiserreichs im Herbst 1918 (hier unter einem biographischen Aspekt ansprechend vereint), darüber hinaus eine wichtige teilweise Neubewertung Hintzes als Staatssekretär, vor allem aber viel Unbekanntes zu dieser interessanten Person aus den Jahren und Jahrzehnten zuvor, die das Buch zu einer wichtigen Quelle des Wilhelminischen Zeitalters machen.

Anmerkungen:
1 Die wenigen Gegenbeispiele sind FORSBACH, Ralf: Alfred von Kiderlen-Wächter (1852-1912), Ein Diplomatenleben im Kaiserreich, 2 Bde., Göttingen 1997. HATZFELDT, Friedrich Graf von: Heinrich von Tschirschky im Spiegel der Archive und der Geschichtsliteratur, Köln 1996 (Privatdruck). Zur Institution vgl. vor allem SCHWABE, Klaus (Hg.): Das diplomatische Korps 1871-1945, Boppard/Rhein 1985.
2 HÜRTER, Johannes: Die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg, Wirkung - Wahrnehmung - Analyse, hg. v. Wolfgang Michalka, München/Zürich 1994, S. 216-251, hier S. 216.
3 Der Rezensent arbeitet an einer Biographie über Richard von Kühlmann; vgl. Der vergessene Außenminister, Das diplomatische Duell zwischen Kühlmann und Trotzkij, in: Die Zeit, 5.3.1998, S. 92; Richard von Kühlmann und die Niederlande, in: Zentrum für Niederlande-Studien Jahrbuch 9 (1998), S. 139-173. Zu Zimmermann und Jagow liegen weder Arbeiten vor, noch scheinen sie nach Auskunft des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Planung zu sein.
4 An der soliden Bearbeitung und hilfreichen Annotation ändert auch ein kleiner Flüchtigkeitsfehler nichts: Die Memoiren von Hintzes Amtsvorgänger wurden zwar abgekürzt in den Fußnoten benutzt (vgl. S. 76), im Literaturverzeichnis aber vergessen. Die bibliographische Angabe lautet: KÜHLMANN, Richard von: Erinnerungen, Heidelberg 1948.
5 WOLFF, Theodor: Tagebücher 1914-1919. Der erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am "Berliner Tageblatt" und Mitbegründer der "Deutschen Demokratischen Partei", 2 Bde., hg. v. Bernd Sösemann, Boppard 1984; EULENBURG, Philipp: Politische Korrespondenz, hg. v. John C. G. Röhl, 3 Bde., Boppard 1976/79/83; RIEZLER, Kurt: Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hg. v. Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972. Zur Authentizität von Riezlers Einträgen in der Julikrise 1914 vgl. zuletzt die an Gerd Krumeichs Artikel "Das Erbe der Wilhelminer" (FAZ, 4.11.1999) anknüpfende Leserbriefdiskussion mit Beiträgen von Bernd Sösemann ("Wie Kurt Riezler seine Tagebücher verfälschte", FAZ 12.11.), Agnes Blänsdorf ("Nicht erwiesene Fälschung der Tagebücher Kurt Riezlers", FAZ 19.11.) und Wolfgang J. Mommsen ("Kurt Riezler datierte Tagebuch-Eintragungen um", FAZ 29.11.1999).
6 Vgl. etwa Theodor Wolffs Artikel "Der Protest gegen die Kandidatur des Herrn v. Hintze", in: Berliner Tageblatt, 16.7.1917, Teilabdruck in: Wolff, Tagebuch, S. 520.
7 POTTHOFF, Heinrich (Hg.): Friedrich von Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, Erinnerungen aus seinem Nachlass, Düsseldorf 1971, S. 147.
8 Hertling an Vizekanzler Payer, 8.7.1918, abgedruckt bei HERTLING, Karl Graf von: Ein Jahr in der Reichskanzlei, Erinnerungen an die Kanzlerschaft meines Vaters, Freiburg 1919, S. 131-134. Das Original ist in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Hertling (N/1036), Bd. 41, Bl. 98-101. Nur dort die entlarvende Änderung, mit der Hertling aus dem "bisherigen Gesandten in Stockholm" den aus Kristiania machte, und die Hürter offenbar entgangen ist.
9 Vgl. auch das Urteil seines Vorgängers, Hintze habe weder auf ihn, Kühlmann, noch auf die Mitarbeiter des AA "irgendwelchen Eindruck zu machen vermocht"; Kühlmann, Erinnerungen, S. 581.
10 So Kühlmann am 12.2.1918 gegenüber dem Kanzler laut Hertling, Reichskanzlei, S. 72. Überhaupt sind die vielen Übereinstimmungen in den Grundüberzeugungen und der Politik Hintzes mit denen seines Vorgängers überraschend. Sie zeigen sich auch in der jeweils kooperativ angelegten Vorkriegsdiplomatie, in der Ablehnung des Krieges, in den sehr pessimistischen Einschätzungen über die deutschen Chancen nach Ausbruch des Waffengangs, in der sensiblen, entgegenkommenden und konstruktiven Herangehensweise an das neutrale Europa - Parallelen, auf die Hürter noch detaillierter hätte eingehen können.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension