K.Wilke: Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit

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Titel
Die "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit" (HIAG) 1950-1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik


Autor(en)
Wilke, Karsten
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
464 S., 12 SW-Abb.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wigbert Benz, Karlsruhe

Anfang der 1950er-Jahre gründeten ehemalige Angehörige der Waffen-SS in verschiedenen regionalen Gruppen die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG). Sie zählte zu den von Norbert Frei als „Kriegsverbrecherbewegung“ bezeichneten Interessengruppen.1 Diese einte das Ziel, als angebliche Opfer der alliierten Siegerjustiz erstens eine Freilassung und Amnestie zu erreichen sowie zweitens die volle politische, gesellschaftliche und auch materielle Reintegration durchzusetzen, zum Beispiel durch berufliche Wiederverwendung oder ungekürzte Renten- und Pensionsansprüche. Im Unterschied zu den Verbänden ehemaliger Wehrmachtssoldaten hatten die Angehörigen der Waffen-SS mit dem Problem zu kämpfen, dass die SS im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 als verbrecherische Organisation verurteilt worden war. Ihre Strategie bestand deshalb von Anfang darin, eine apologetische Deutung der Waffen-SS als Einheit ganz normaler Soldaten zu verbreiten, wie dies der ehemalige Inspekteur der SS-Verfügungstruppe, SS-Oberstgruppenführer und spätere Gründungsaktivist der HIAG 1951, Paul Hausser, seit dem Nürnberger Prozess 1946 praktizierte.

In seiner Bielefelder Dissertation untersucht Karsten Wilke die HIAG als bisher wissenschaftlich kaum beachteten Akteur dieses vergangenheitspolitischen Diskurses. Dabei knüpft er an eine Studie von 1967 an, in der die erfolgreiche Bündnispolitik der HIAG sowohl mit den Soldatenverbänden als auch mit Gewerkschaften und politischen Parteien im Ansatz schon herausgearbeitet wurde.2 Wilke konnte für seine Arbeit nun erstmals den kompletten, 650 Ordner umfassenden Aktenbestand des ehemaligen Bundesverbandes der HIAG auswerten, der seit 1983 sukzessive dem Bundesarchiv übereignet worden war. Diesen Bestand gleicht er quellenkritisch mit verschiedensten anderen Dokumenten ab, bis hin zu Unterlagen im Helmut-Schmidt-Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er will herausarbeiten, „ob und in welcher Weise gesellschaftliche Integration und Desintegration“ in Beziehung zueinander standen und „inwieweit es der HIAG gelang, nationalsozialistische Deutungsmuster in den demokratischen Staat zu überführen“ (S. 23).

Wilke formuliert vorsichtig und abwägend. Seinen Befunden zufolge lassen sich von den 1950er-Jahren bis 1980er-Jahre durchgängig erhebliche rechtsextreme, antisemitische und demokratiefeindliche Einstellungen innerhalb der HIAG belegen. Sehr erfolgreich agierte die Organisation unter ihrem Sprecher Kurt Meyer, einem ehemaligen SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS, der für seinen Befehl zur Erschießung kanadischer Kriegsgefangener (1944) unmittelbar nach Kriegsende zunächst zum Tode verurteilt worden war, ehe die Todesstrafe zu einer lebenslänglichen Haftstrafe umgewandelt wurde und er schließlich schon 1954 seine vorzeitige Haftentlassung erleben durfte. Bis zu seinem plötzlichen Unfalltod 1961 hatte die HIAG für die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS nicht nur materielle Verbesserungen wie massive Zugeständnisse bei der staatlichen Rentenbemessung durchsetzen können, sondern avancierte auch zum akzeptierten Gesprächspartner der großen Volksparteien CDU und SPD. Während sich die Lobbyarbeit der HIAG in materieller Hinsicht auszahlte, konnten die früheren Angehörigen der Waffen-SS jedoch keine einflussreichen Positionen in der Bundeswehr erringen. Diese politische Grenzziehung blieb bestehen.

Wie sehr Meyer, über dessen Schreibtisch nach Aussage seines Sohnes ein Foto des Vaters mit Hitler hing (S. 218), sich des Problems bewusst war, dass die von der HIAG behauptete totale Unterscheidung zwischen Waffen-SS und anderen Teilgliederungen der SS ein leicht zu widerlegendes Konstrukt war, zeigt seine von Wilke ausführlich wiedergegebene Rede anlässlich des zehnjährigen Bestehens der HIAG-Gruppe Bremen. Meyer sprach vage von einem „Dokumentenbeweis“, der aussage, „zur Waffen-SS gehören das Bewachungspersonal der Konzentrationslager [...], das Bewachungspersonal der Sicherheitslager, die Einsatzgruppen [...] und die Truppe [als] schwächste und kleinste Zahl in dieser Aufstellung“ (zit. auf S. 69). Der HIAG-Bundessprecher versuchte mit diesen Ausführungen bei seiner Klientel Verständnis für die Mühen der Politiker zu wecken, definieren zu sollen, wer denn von der Waffen-SS „Soldat, und wer nicht Soldat“ gewesen sei (ebd.).

Die von Wilke dargelegte weitgehende Akzeptanz der HIAG bei Vertretern der großen Volksparteien hat, bei Dissertationen gewiss nicht der Normalfall, sogar das Interesse des „Spiegels“ gefunden, der zu diesem Interaktionsprozess der HIAG mit Vertretern der CDU und SPD im Oktober 2011 einen Artikel brachte.3 In der Tat kann Wilke zeigen, wie die Volksparteien aus Sorge um die Wählerstimmen des laut HIAG zwei Millionen Menschen umfassenden Spektrums deren Vertretern und Wünschen entgegenkamen – obwohl tatsächlich nur rund 250.000 Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik Deutschland lebten, von denen wiederum weniger als jeder Zehnte in der HIAG organisiert war (so dass man mit Recht von „Bluff“ und „maßloser Übertreibung“ sprechen kann4). Als Beispiel für dieses Entgegenkommen führt Wilke in einem eigenen Unterkapitel Helmut Schmidt an, der in den 1950er-Jahren des Öfteren als Referent an Veranstaltungen der HIAG teilnahm. Es war wohl nicht bloß ein situatives Kalkül, wenn Schmidt meinte, „die Waffen-SS werde zu Unrecht mit der Schuld anderer ‚Runenträger’ belastet“ (S. 338f.), und den HIAG-Vertretern zusagte, „bei seiner künftigen Arbeit im Bundestag auf eine gleichmäßige Gerechtigkeit zugunsten aller ehemaligen Soldaten hinzuwirken“ (S. 340).

Während CDU und SPD bis in die 1970er-Jahre – erstaunlich lange – die gemeinsame Linie verfolgten, die organisierten Ehemaligen der Waffen-SS durch Zugeständnisse und regelmäßigen Austausch in das demokratische System einzubinden, gingen die Sozialdemokraten zuerst ab Anfang der 1980er-Jahre auf Distanz. Wilke sieht darin den Anfang vom Ende der Organisation, die sich 1992 auflöste, denn durch den Positionswandel der SPD „besaß die HIAG-Führung keine Handhabe mehr, um radikale Kräfte an der Basis zur Mäßigung zu bewegen“ (S. 421). Die eingangs der Studie gestellte Frage, wie das Verhältnis von Integration und Desintegration der HIAG im demokratischen Staat zu gewichten ist und inwieweit es der Organisation gelang, die bundesdeutsche Gesellschaft mit ihren Wertemustern zu beeinflussen, kann der Autor jedoch nur partiell beantworten. Um die Wirkungsgeschichte umfassender zu ergründen, hätte er die Interaktion der HIAG mit den gesellschaftlichen Kräften auf regionaler und lokaler Ebene stärker in den Blick nehmen müssen. Deutlich wird auf jeden Fall, dass die in der Bundesrepublik lange vorherrschende vergangenheitspolitische Milde nicht allein mit pragmatischen Integrationserwägungen oder gar -zwängen erklärt werden kann, sondern auch stark mit Vorannahmen und autobiographischen Erfahrungen des politischen Führungspersonals zusammenhing, dessen eigene Vergangenheit (etwa in der Wehrmacht, wie im Falle Helmut Schmidts) ja ebenfalls kaum zur Sprache kam – oder falls doch, dann in sehr verklausulierter und verschobener Weise. Alles in allem hat Karsten Wilke ein gut belegtes und quellenkritisch fundiertes Buch geschrieben, das unser Wissen über das Wirken der ehemaligen SS-Angehörigen und ihres Interessenverbandes in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich erweitert.

Anmerkungen:
1 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 133-306.
2 Kurt Philipp Tauber, Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism Since 1945, 2 Bde., Middletown 1967, hier Bd. 1, S. 359ff.
3 Rafael Binkowski / Klaus Wiegrefe, Brauner Bluff. Auf der Jagd nach Wählerstimmen warben CDU und SPD in der Nachkriegszeit um die Veteranen der Waffen-SS. Eine Studie beschreibt, wie die Volksparteien dabei ausgenutzt wurden, in: Spiegel, 17.10.2011, S. 44f.; auch online unter <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81015408.html> (17.1.2012).
4 Ebd. Die Sicht der „Spiegel“-Autoren, SPD und CDU seien von der HIAG „ausgenutzt“ worden, erscheint allerdings etwas undifferenziert.