Cover
Titel
Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung


Herausgeber
Henke, Klaus-Dietmar
Reihe
dtv premium 24877
Erschienen
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Bonwetsch, Deutsches Historisches Institut Moskau

Das Jubiläumsjahr des Mauerbaus hat eine umfangreiche Literatur hervorgebracht, darunter auch das von Klaus-Dietmar Henke, dem Dresdner Zeithistoriker, herausgegebene Kompendium „Die Mauer“. Daran sind einschließlich des Herausgebers insgesamt 28 Autoren mit historisch-systematischen Artikeln zu Fragen der Geschichte und Nachgeschichte „der Mauer“ beteiligt. Entstehungsgeschichtlich könnte man den Band als „Begleitbuch“ zur Errichtung der Gedenkstätte bzw. Stiftung Berliner Mauer bezeichnen. Viele der Autoren, angefangen vom Herausgeber Henke, der Vorsitzender des Beirats ist, haben mit der Gedenkstätte zu tun oder sind an ihrer Entstehung beteiligt gewesen. Insofern ist die Summe der Beiträge auch als Programm zu verstehen.

Es beginnt logischerweise mit der politischen Geschichte der Mauer. Nach der zusammenfassenden Einleitung Klaus-Dietmar Henkes berichten Spezialisten in Einzelbeiträgen zu verschiedenen ihrer Aspekte. Es sind keine neuen Forschungen, sondern Forschungsergebnisse, die hier in knapper und doch hinlänglich ausführlicher Form vorgestellt werden. Michael Lemke stellt die von Chruschtschow 1958 ausgelöste Berlin-Krise dar, die nach hochtrabenden weltpolitischen Expansionsplänen mit der Grenzsperrung in Berlin als Notoperation für den Patienten DDR endete. Manfred Wilke ergänzt das mit einem Beitrag, der die Berlin-Krise aus dem Blickwinkel Ulbrichts behandelt. Dessen Vorstellungen waren naturgemäß bescheidener, dafür aber angesichts der Fluchtbewegung aus der DDR sehr viel konkreter als die Chruschtschows. Erstaunlicherweise wird die zwar zweifelhafte, aber verbreitete These von Hope Harrison, dass Ulbricht insgesamt eine treibende Rolle gespielt und Chruschtschow zu einer Berlin-Politik getrieben habe, die dieser nicht wollte (der „Schwanz hat mit dem Hund gewedelt“), sowohl von Herausgeber Henke als auch von Lemke und Wilke so wenig ernst genommen, dass sie nur in einer Fußnote Lemkes erwähnt wird. Dabei ist Harrisons Buch gerade erst zum Mauerbau-Jubiläum auf Deutsch erschienen und wohl nicht nur von den Rezensenten Greiner und Wentker als Nachweis der maßgeblichen Einflussnahme Ulbrichts begrüßt worden.1

Die SED hat sich jedenfalls nie eines solchen „Erfolges“ – der entscheidenden Einflussnahme auf die sowjetische Politik – gerühmt, weder innerhalb der Partei noch gegenüber der Bevölkerung. Trotz allen Aushorch-Bedürfnisses hat sie sich auch nur anfänglich, später aber nie mehr um die Wirkung der Mauer auf ihre eigene Bevölkerung gekümmert. Interessiert hat sie allerdings der Image-Schaden im westlichen Ausland als Folge des Mauerbaus, wie Michael Kubina darlegt. Offenbar hat sie darauf gesetzt, dass es im Innern genügt, dem westlichen „KZ-Mauer“-Bild das positive Bild eines von der Bevölkerung gewollten „antifaschistischen Schutzwalls“ entgegenzusetzen. Elena Demke beschreibt das in einem vergleichenden Beitrag zum „Kalten Krieg der Mauer-Bilder“. Dass dieses positive Bild Propaganda wider besseres Wissen war und nur eine nicht eingestandene Niederlage verdecken sollte, bezweifelt Thomas Lindenberger. Er meint, dass die SED nicht nur ohne Grenzabriegelung nicht leben konnte, sondern auch nicht wollte, weil sie sich am sowjetischen Modell vom „Sozialismus in einem Land“ orientierte. Der Trugschluss sei nur gewesen, zu glauben, sich mit Hilfe der Mauer wie die Sowjetunion von der Außenwelt isolieren zu können. Das hat etwas für sich und erinnert uns daran, dass wir als Zeitgenossen den Mauerbau lange Zeit als „zweite Gründung der DDR“ und den Beginn innerer Konsolidierung und nicht in erster Linie als Niederlage betrachtet haben. Sebastian Richter weist in seinem Beitrag zur Mauer in der deutschen Erinnerungskultur mit Recht darauf hin.

Insgesamt sieben Beiträge gehen konkreter an die Mauer als Hindernis bei Flucht und legaler Aus- und Einreise heran: Der Auf- und Ausbau der Grenzanlage bis zu ihrem Fall (Gerhard Sälter), die Maßnahmen im Kontrollstreifen bis hin zur Zwangsaussiedlung vermeintlich unzuverlässiger Bewohner im „Unternehmen ‚Ungeziefer‘“ und der Aufbau der für Berlin zuständigen Truppen des „Grenzkommandos Mitte“ (Winfried Heinemann), die Maßnahmen zur Fluchtverhinderung nicht nur an der Mauer (Gerhard Sälter), die geglückten und gescheiterten Fluchten an der Grenze in und um Westberlin mit insgesamt 136 umgekommenen Flüchtlingen (Maria Nooke), der Alliierten-Kontrollpunkt „Checkpoint Charlie“, der sehr viel bekannter war, als ihm seiner realen Bedeutung nach zukam (Konrad Jarausch), die Wahrnehmung der Mauer durch „den Westen“ im Wandel vom brutalen Grenzbauwerk zum Symbol der deutschen Teilung (Hermann Wentker), die Bemühungen zur Maueröffnung durch die Politik der „kleinen Schritte“ und die Dialektik von Anerkennungsgewinn nach außen und Legitimitätsverlust nach innen (Roger Engelmann) und schließlich der Mauerfall des 9. November 1989 (Walter Süss) – darüber kann sich der Interessierte relativ schnell und handbuchartig informieren.

Die Nachgeschichte der Mauer wird mit einem Beitrag von Clemens Vollnhals zur strafrechtlichen Ahndung von Gewalttaten an der Mauer eingeleitet. Er informiert kurz und sachlich über die drei Kategorien der Angeklagten – „Mauerschützen“, Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats und Politbüromitglieder – und summiert das Ergebnis. Für den Krenz-Vorwurf der reinen „Siegerjustiz“ gibt es zweifellos keinen Anlass. Die deutsche Justiz hat durchaus Recht mit Augenmaß gesprochen und das Grenzgesetz der DDR bei den „Mauerschützen“ angemessen berücksichtigt. Vielleicht hätte man allerdings die Differenz zwischen den Bestimmungen des Grenzgesetzes und dem allgemeinen, von ganz oben kommenden Druck auf die Grenzer zum „rücksichtslosen Gebrauch“ der Schusswaffe bei „Grenzdurchbruchversuchen“2 und die Kontrolle durch die Kameraden im Hinblick auf die strafrechtliche Ahndung stärker reflektieren können.

Die kulturgeschichtlichen Beiträge gelten der Mauer in der deutschen Erinnerungskultur (Sebastian Richter), in der Literatur (Doris Liebermann), im Spielfilm (Annette Dorgerloh), der darstellenden Kunst (Anke Kuhrmann) und der „Mauerkunst“ (Lutz Henke). Insgesamt ergibt sich angesichts der informierenden und stark referierenden Beiträge die Frage, ob und wie der Fall der Mauer die Behandlung des Themas nicht nur um das Ende erweitert, sondern grundsätzlich verändert hat. Für eine Antwort darauf ist es wohl noch zu früh. Das gleiche gilt übrigens für die sich wandelnde Verwendung der „Mauer als politische Metapher“ (Marion Detjen).

Im erinnerungsgeschichtlichen Teil des Bandes, dem auch der Beitrag zum „Checkpoint Charlie“ zuzurechnen ist, berichten insgesamt zehn Autoren über die „Rettung“ der Mauer als Überrest und Anschauungsobjekt für das Gedächtnis der Nachwelt. Denn mit der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 begann ihr unglaublich schnelles und radikales Verschwinden und eine Aufgabe für die Stadtentwicklung, die sich schon vor dem Mauerbau aus politischen, dann aber auch aus technischen Gründen, auf die Teilung eingestellt hatte (Günter Schlusche). Während es jahrzehntelang geheißen hatte „Die Mauer muß weg!“, kam es schon am 30. Oktober 1989 zu dem nach Kunzelmann, Langhans & Co. klingenden, tatsächlich aber ahnungsvoll weitsichtigen Aufruf der Berliner „Geschichtswerkstatt“: „Die Mauer muß bleiben!“ Und es bedurfte vieler Mühen, Mauerreste selbst zu bewahren (Axel Klausmeier / Leo Schmidt), ein erinnerungspolitisches „Gesamtkonzept Berliner Mauer“ zu erarbeiten – sinnigerweise unter einem PDS-Kultursenator (Rainer Klemke) – und die Gedenkstätte an der Bernauer Straße zu errichten (Gabriele Camphausen / Manfred Fischer und Axel Klausmeier).

Den Abschluss des erinnerungsgeschichtlichen Teils bilden zwei Beiträge (Ronny Heidenreich, Leo Schmidt), die die Verbreitung von Mauerteilen als Denkmäler und Ikonen über die Welt beschreiben und ernüchternd deutlich machen, dass die in einem regelrechten Hype in alle Welt verfrachteten Mauerteile bis auf wenige Ausnahmen (Seoul!) binnen kurzem zu einem Mauerblümchen-Dasein verurteilt waren. Ohne konkreten Bezug zum authentischen historischen Ort werden aus Mauerteilen nun einmal keine „Erinnerungsorte“.

Insgesamt handelt es sich um recht heterogene Beiträge, die allerdings durch den Bezug zur Mauer einen thematischen Roten Faden haben. Indirekt zusammengehalten werden sie aber auch durch den Umstand, dass viele der Autoren über die Tatsache ihrer altersmäßigen Zeitgenossenschaft hinaus als „Mauer-Betroffene“ bezeichnet werden können. Dieses persönliche Verhältnis zum Gegenstand gilt übrigens auch für den Rezensenten, der nicht nur als Kind nahe der Bernauer Straße gelebt hat, sondern am 13. August 1961 in einer Kaserne der Bundeswehr in Hamburg-Wandsbek als Wachhabender Dienst tat und sich nach der Entlassung Ende 1961 – nach Absolvierung einer mauerbedingten dreimonatigen „Pflichtwehrübung“ im Anschluss an den Wehrdienst – um Zulassung zu Studium an der Freien Universität Berlin bewarb. Er studierte dann auch dort für ein Jahr, um seine private Auseinandersetzung mit der Mauer zu führen. Als Bundesbürger hatte er das Privileg, fast jedes Wochenende Verwandte und Bekannte in und um Ostberlin herum mit Konterbande im Gepäck (Spiegel, ZEIT, Biermann usw.) – unter Verstoß gegen die Bestimmungen – besuchen zu können. Die stundenlange Warterei auf den Treppen des Bahnhofs Friedrichstraße, die schäbige Förmlichkeit der – teils unsichtbaren – Kontrolleure, die seltene, aber immer erwartete Leibesvisitation, die Sorge vor der Verspätung bei der abendlichen „Ausreise“, das Abholen der ob der Kontrollen fürs Leben schockierten ausländischen Freundin am Ausländer-Übergang Friedrichstraße, die vorläufige Festnahme wegen eines lächerlichen Verstoßes gegen das Grenzregime: Diese Dinge kommen einem bei der Lektüre in den Sinn – eine paradoxe Nostalgie. Vielleicht ging es einigen Autoren beim Schreiben ebenso.

Anmerkungen:
1 Hope Harrison, Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach, Berlin 2011.
2 So Honecker auf der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats vom 4.5.1974, zit. im Beitrag Kubina, S. 93.