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Titel
Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926-1933)


Autor(en)
Breuer, Stefan; Schmidt, Ina
Reihe
Edition Archiv der Jugendbewegung, Bd. 15
Erschienen
Schwalbach im Taunus 2009: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Ahrens, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Bis in die 1980er-Jahre hinein ist die Auseinandersetzung um die Geschichte der deutschen Jugendbewegung und vor allem um die Frage nach einer möglichen Vorläuferfunktion der Bewegung für den Nationalsozialismus in scharfem Ton geführt worden.1 Seitdem ist es still geworden um Wandervögel, Pfadfinder und bündische Jugend, obwohl die hochidealistischen und meinungsfreudigen Protagonisten der Bewegung ein interessantes Studienobjekt für die Etablierung politischer Denkmuster darstellen. Da sie sich überwiegend dem rechten Spektrum zuordnen lassen, ist der Vorschlag grundsätzlich plausibel, den Zusammenhang zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus mit dem Begriff der „Schnittmengen“ zu fassen.2 Diese Abstraktion ist aber bislang nicht inhaltlich gefüllt worden und konnte daher nur geringe Erklärungskraft entfalten. Es fehlen vor allem gründliche Analysen der Jugendbewegung, ihrer Organisationen und Publikationen, um hier zu einem schärferen Bild zu kommen.

Mit ihrer Studie über die bündische Zeitschrift „Die Kommenden“ stoßen die Hamburger Soziologen Stefan Breuer und Ina Schmidt in diese Lücke vor. Sie konterkarieren die auffällige Quellenferne der älteren Forschung durch die minutiöse Analyse einer wichtigen bündischen Publikation und erschließen so die Gedankenwelt eines Teils der Jugendbewegung. Explizit knüpfen Breuer und Schmidt an die Diskussion um Jugendbewegung und Nationalsozialismus an. Sie verweisen im Anschluss an Woodruff D. Smith auf den Aggregatcharakter der alles andere als monolithisch-kompakten „NS-Ideologie“ 3 und stellen sich die Aufgabe, nun „auch die Ideenwelt der Bündischen in dieser Weise zu dekonstruieren, in der Erwartung, auf ähnliche oder wenigstens vergleichbare Strömungen zu stoßen, die es ihren Trägern ermöglicht haben, sich in deren Entsprechungen innerhalb wie außerhalb der NSDAP wiederzuerkennen“ (S. 10).

Die Arbeit ist von ungewöhnlichem Format, denn Breuer und Schmidt kombinieren drei unterschiedliche Zugänge zum Material. Am Anfang steht eine chronologisch erzählte Redaktionsgeschichte, die nicht nur die Diskussionen um die Ausrichtung des Blattes und die taktischen Erwägungen von Herausgebern und Schriftleitern nachvollzieht, sondern auch die finanziellen Zwänge und die zum Teil sehr persönlich gefärbten Loyalitäten und Animositäten innerhalb der Redaktion in den Blick nimmt.

Es folgt eine detaillierte Analyse von 38 gut ausgewählten Schlüsselbegriffen, die aus dem Arsenal des Rechtsnationalismus der Weimarer Zeit stammen und in den „Kommenden“ eine umfangreiche Deutung erfahren. Die Autoren halten sich dabei unter Bezug auf Breuers frühere Arbeiten zur Politischen Rechten 4 an die Methode einer „Differentialanalyse“ (S. 11), mit der sie die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Zeitschrift kontrastierend herausarbeiten. Durch dieses Verfahren geraten die von den verschiedenen Autoren der „Kommenden“ nicht hinterfragten Grundlagen der Diskussion etwas in den Hintergrund. Fasst man sie zusammen, ergibt sich folgendes Weltbild: Im Zentrum steht ein stets holistisch und essentialistisch gedachtes Nationskonzept („Volk/Nation“, „Nationalismus“). Untergeordnet und integriert sind bisweilen rassistische und antisemitische Ideen („Rasse“, „Norden“, „Antisemitismus“) und ursprünglich linke, jetzt von ihrem internationalen Bezug gelöste und auf den Rahmen des Volkes zugeschnittene Konzepte („Sozialismus“, „Kommunismus/Bolschewismus“). Politische Vorstellungen, die das Individuum gegenüber dem Kollektiv begünstigen, fungieren als Gegenentwurf und werden entsprechend heftig bekämpft („Liberalismus“, „Westen“, „Bürger“). Überhaupt sind die Methoden, die die „Kommenden“ zur Umsetzung ihrer Ideen in Betracht ziehen, von erstaunlicher Militanz geprägt („Krieg/Kriegertum“, „Osten“). Angesichts dieses Programms ist es kaum überraschend, dass viele der „Kommenden“ im Nationalsozialismus verwandte Züge entdecken. Das schließt aber scharfe Kritik nicht aus. Sie richtet sich vor allem gegen die als „liberal“ und kompromisslerisch eingeschätzte Legalitätsstrategie der NSDAP und gegen ihre ganz unbündisch-unelitären Versuche, „Masse“ zu gewinnen („NSDAP“, „Hitlerjugend“).

Eine Sammlung von über 150 Kurzbiographien wichtiger Mitarbeiter bildet den dritten Teil. Die beeindruckende Liste der Archive, Nachlässe und Behörden, aus denen die meist über 1945 hinausreichenden Informationen zu den einzelnen Lebensläufen stammen, sowie die umfangreiche Danksagung zeugen vom Aufwand dieser Spurensuche. Neben so bekannten Namen wie Hans F. K. Günther, Ernst Jünger oder Ernst Niekisch enthält die Zusammenstellung vor allem Einträge zu Autoren, die außerhalb des Jugendbewegungskontextes heute vergessen sind, deren Engagement aber für die Ausrichtung der Zeitschrift unentbehrlich war. An den Einzelschicksalen lässt sich studieren, welche unterschiedlichen Lebenswege mit dem Einsatz für das skizzierte Weltbild verbunden sein konnten. Es ist jedoch frappierend zu sehen, wie viele der Autoren sich schon früh, zum Teil vor deren großen Wahlerfolgen, der NSDAP als Mitglied angeschlossen haben. Ihr Engagement war teils vorübergehend, teils war es mit der Aussicht auf Karriere in den NS-Organisationen verbunden. So wurde etwa Gottfried Krummacher vom Deutschen Pfadfinderbund Westmark im Jahr 1933 Reichstagsabgeordneter, Führer der NS-Frauenschaft und Leiter der Deutschen Christen in Westdeutschland, und Friedrich Schmidt vom Bund Artam stieg in der Verwaltung von NSDAP, SS und Deutscher Arbeitsfront auf, bevor er 1942 in Konflikt mit übergeordneten Stellen geriet und zurückgestuft wurde.

Breuer und Schmidt legen eine akribisch gearbeitete und elegant geschriebene, in der Analyse souveräne Untersuchung eines bislang unbeachteten, aufschlussreichen Quellenbestands vor, die als Mikrostudie uneingeschränkt empfohlen werden kann. Offen bleiben nach der Lektüre jedoch Fragen der Einordnung, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird deutlich, dass die Zeitschrift die äußere Rechte der bündischen Jugend vertrat. Welche Stellung aber hatte sie innerhalb der Bewegung? Wie weit reichte ihr Einfluss? Angehörige der großen Bünde, namentlich der Deutschen Freischar, des Großdeutschen Jugendbundes, des Jungnationalen Bundes oder des Deutschen Pfadfinderbundes tauchen nur sehr vereinzelt als Mitarbeiter auf. Von den Organisationen, deren Mitglieder die Redaktion tragen, gehören lediglich die Adler und Falken nach Größe und Einfluss in die Liga der großen Bünde. Eine Einschätzung, in welchem Maße die Positionen der „Kommenden“ als repräsentativ verstanden werden können, oder ob wir es mit einer lautstark vorgetragenen Minderheitenposition zu tun haben, wäre vor diesem Hintergrund hilfreich gewesen.

Die zweite Frage betrifft die Einordnung der Ergebnisse. Zweifelsohne lösen Breuer und Schmidt ihr Versprechen ein, das Weltbild der „Kommenden“ in seine Einzelteile zu zerlegen. Am Ende bleibt aber offen, welche Schlüsse für die Geschichte der Jugendbewegung – und für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert – aus dieser Analyse gezogen werden können. Das ist auch ein Darstellungsproblem: Ein zusammenfassendes Kapitel hätte der Ort sein können, die entscheidenden Erkenntnisse der auf über 500 Seiten ausgebreiteten Detailfülle abschließend zu diskutieren. So fehlt am Ende eine Einschätzung, in welchem Maße die Ideologieaggregate des Nationalsozialismus und der „Kommenden“ denn nun kompatibel waren. Die oben referierten Einwände der „Kommenden“ lagen wohl eher auf der Ebene der Strategie, nicht der Ziele – grundsätzliche Ablehnung würde auch die im biographischen Teil präsentierten NSDAP-Mitgliedschaften als Widerspruch erscheinen lassen.

Es ist lohnend, die Studie als Kommentar zu begreifen und sich auch der Zeitschrift selbst zuzuwenden. Ausgesprochen hilfreich ist dafür eine digitalisierte Version, die im Zusammenhang mit Breuers und Schmidts Projekt in der Staatsbibliothek Berlin erstellt wurde und sich über das dem Kommentar beigegebene Inhaltsverzeichnis leicht erschließen lässt. Leider ist die Edition im Zuge eines Serverumzugs vorübergehend nicht erreichbar, auch spielen juristische Probleme eine Rolle.5 Angesichts des Quellenwertes, gerade in Verbindung mit der detaillierten Analyse Breuers und Schmidts, ist nur zu wünschen, dass bald wieder ungehinderter Zugang eingerichtet werden kann.

Anmerkungen:
1 Den Stil der Kontroverse illustrieren: Karl Seidelmann, War die deutsche Jugendbewegung präfaschistisch?, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 7 (1975), S. 66-74; Michael H. Kater, Die unbewältigte Jugendbewegung. Zu neuen Büchern von Rudolf Kneip, Werner Kindt und Hansjoachim W. Koch, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), S. 559-566. Zusammenfassend zur Debatte Jürgen Reulecke, „Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?“ Zum Umgang mit einer falschen Frage, in: Wolfgang R. Krabbe (Hrsg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 222-243.
2 Heinrich Steinbrinker, Schnittmengen. Eine Einführung in das Thema: Jugendbewegung und Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 12 (1980), S. 11-22.
3 Vgl. Woodruff D. Smith, The Ideological Origins of Nazi Imperialism, Oxford 1986. Ähnlich bereits Martin Broszat, Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 53-68.
4 Vgl. v.a. Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten (1871-1945), Tübingen 1999, jetzt überarbeitet u.d.T. Die radikale Rechte in Deutschland 1871-1945. Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010.
5 Vgl. <http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/>, telefonische Auskunft der Staatsbibliothek Berlin, Zeitungsabteilung, vom 30. August 2011.

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