K. Marxen; G. Werle (Hgg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht

Cover
Titel
Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 3: Amtsmißbrauch und Korruption


Herausgeber
Marxen, Klaus; Werle, Gerhard
Erschienen
Berlin 2002: de Gruyter
Anzahl Seiten
547 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann Wentker, Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Berlin

Im Zuge der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 kam unter anderem ans Tageslicht, daß zahlreiche höhere DDR-Funktionäre ihre Macht zur persönlichen Bereicherung genutzt hatten. So steigerte etwa das Bekanntwerden der privilegierten Wohn- und Lebensbedingungen in der bis dahin streng von der Öffentlichkeit abgeschirmten Waldsiedlung Wandlitz den Unmut der Demonstranten und trieb die revolutionären Veränderungen voran. Unter dem Druck der Straße sahen sich die noch amtierenden Justizorgane der DDR genötigt, Strafverfahren einzuleiten. Die gerieten jedoch angesichts der sich weiter überstürzenden Ereignisse und anderer aufsehenerregender Prozesse - wie etwa der wegen Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze - in den Hintergrund des öffentlichen Interesses. Dennoch verfolgte die Justiz sie weiter. Was DDR-Gerichte eingeleitet hatten, wurde von den gesamtdeutschen Gerichten nach dem 3. Oktober 1990 weiter verfolgt; außerdem leiteten die Staatsanwaltschaften auch danach weitere Verfahren in gleicher Sache ein.

Die vorliegende Dokumentation zum Thema "Amtsmißbrauch und Korruption" in der DDR ist Teil eines auf zehn Bände angelegten Unternehmens, mit dem die beiden Herausgeber Klaus Marxen und Gerhard Werle ein umfassendes Bild der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht präsentieren wollen. Damit wird unter anderem das Ziel verfolgt, einer selektiven Wahrnehmung entgegenzuwirken. Diese schwankt zwischen den gegen die Justiz gerichteten Vorwürfen, mit den Verfahren eine verkappte politische Abrechnung durchgeführt zu haben ("Siegerjustiz") oder viel zu milde gegen die Täter des Regimes vorgegangen zu sein und dadurch den Opfern Genugtuung verweigert zu haben.

Dem umfangreichen Band wird eine knappe, auf die Tathandlungen und die juristischen Aspekte eingehende Einleitung in den Themenkomplex vorangestellt. Insgesamt wurden 39 Verfahren wegen Amtsmißbrauchs und Korruption vor und nach der staatlichen Vereinigung eingeleitet, unter anderem gegen prominente DDR-Funktionäre wie Erich Honecker, Erich Mielke, Günter Mittag, Alexander Schalck-Golodkowski und den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch. Neben der privilegierten Versorgung der Politbüromitglieder in Wandlitz war vor allem die Beschaffung von Wohnraum zu bevorzugten Konditionen das Feld, auf dem den Beschuldigten vorgeworfen wurde, ihre Macht zur Verschaffung eigener Vorteile mißbraucht zu haben. Dokumentiert werden insgesamt zehn Fälle, darunter die gegen die genannten Prominenten, aber auch etwa gegen einen Bezirksratsvorsitzenden, einen SED-Bezirkssekretär und einen Generalmajor des MfS. Die Auswahl der Materialien versucht, die Erscheinungsformen von Korruption und Amtsmißbrauch möglichst vollständig zu dokumentieren, läßt den Verlauf des Aufarbeitungsprozesses sichtbar werden und zeigt Besonderheiten der Verfahrensabläufe, insbesondere die unterschiedlichen Abschlüsse der Verfahren (Urteil, Nichteröffnung des Hauptverfahrens, Verfahrenseinstellung). Dokumentiert werden daher nicht nur die ergangenen Urteile, sondern auch andere verfahrensbeendende Entscheidungen sowie Anklageschriften. Der Abdruck der Dokumente erfolgt in chronologischer Reihenfolge; fünf der vorgestellten Verfahren wurden vor dem 3. Oktober 1990 und fünf weitere danach eingeleitet. Der Band schließt mit einem Anhang, der die für die Fälle einschlägigen Gesetze und Rechtsvorschriften, eine Auswahlbibliographie, eine Verfahrensübersicht sowie ein Gesetzes-, ein Personen-, ein Orts- und ein Sachregister enthält.

Sowohl in der Einleitung als auch an den präsentierten Fällen wird deutlich, daß der Vorwurf der "Siegerjustiz" völlig ungerechtfertigt ist. Denn zum ersten fanden die Ermittlungen zu fast allen Anklagen noch vor der Vereinigung statt, auch wenn die Verfahren in 16 Fällen erst danach eröffnet wurden. Zweitens sprechen die völlig unterschiedlichen Abschlüsse der 38 nach dem 3. Oktober 1990 beendeten Verfahren gegen diesen Vorwurf: Diese rangieren von Nichteröffnung des Hauptverfahrens, Verfahrenseinstellung gegen Auflagen, Verfahrenseinstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit und Urteil oder Strafbefehl. Von den 36 Angeklagten, für die der Prozeß mit einem Urteil endete, wurden zehn freigesprochen, 17 erhielten Freiheitsstrafen (von denen zwölf zur Bewährung ausgesetzt wurden), fünf eine Geldstrafe und vier eine Verwarnung. Obgleich die Bearbeiter in der Einleitung eine im Vergleich mit anderen Bereichen des DDR-Unrechts "relativ niedrige Freispruchquote sowie eine relativ hohe Verurteilungsquote" konstatieren (S.XXXVIII), wird, drittens, deutlich, daß die eingehaltenen rechtsstaatlichen Grundregeln ein exzessives Strafmaß verhinderten. Danach galt selbstverständlich neben dem Rückwirkungsverbot etwa auch der Grundsatz vom "mildesten Gesetz", so daß in den meisten Fällen nach dem einschlägigen Paragraphen des StGB und nicht nach dem DDR-Strafrecht geurteilt wurde. Darüber hinaus berücksichtigte die Rechtsprechung etwa in den Fällen, in denen die Beschuldigten sich einen äußerst günstigen, mit den laufenden Kosten nicht zu rechtfertigenden monatlichen Mietzins gesichert hatten, daß Mieten in der DDR grundsätzlich subventioniert wurden. Daher entsprachen die für die "Luxuswohnungen" verlangten Mieten oftmals den rechtlichen Vorgaben. All dies verdeutlicht auch die Grenzen des Rechtsstaats bei der Ahndung von DDR-Unrecht.

Die Herausgeber wollen mit ihrer Dokumentation jedoch nicht nur die Strafverfolgungsaktivitäten der Justiz dokumentieren. Da in Anklageschriften und Urteilen auch "zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen" enthalten seien, böten diese auch "eine wertvolle historische Materialgrundlage" (S.XVII). Wie ist es also um den Quellenwert des Bandes bestellt? Der Zeithistoriker, der sich für Formen der Korruption im letzten Jahrzehnt der DDR interessiert, wird in den abgedruckten Materialien gewiß eine erste Grundlage sehen können. Deren Wert ist jedoch nicht so hoch, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn zum Ausmaß von Amtsmißbrauch und Korruption ist damit noch nicht viel gesagt. Die Bearbeiter schreiben, beides sei "in der politischen Führung der DDR weit verbreitet" gewesen (S.XXVII). Jedoch können Justizakten nur die Fälle erfassen, bei denen eine Anzeige erstattet wurde und bei denen Staatsanwaltschaften und Gerichte tätig wurden. Die Dokumentation und die Verfahrensübersicht präsentiert jedoch nur einen Teil der 'Gesamtkorruption', von der nicht sicher ist, welchen Umfang sie besaß. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, daß die Grenze zwischen Korruption und strafrechtlich nicht relevanter Vorteilsnahme (nicht nur in der DDR) fließend war (und ist). Und hier liegen für den Historiker interessante Dimensionen des Problems. Die Frage etwa nach Machtsicherung durch persönliche Netzwerke kann durch die vorliegenden Dokumente nicht beantwortet werden. Dies schmälert jedoch nicht das Verdienst des Bandes, mit dessen Hilfe die strafrechtliche Aufarbeitung von Amtsmißbrauch und Korruption in der DDR umfassend nachvollzogen werden kann.

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