Ch. Absmeier: Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation

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Titel
Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons


Autor(en)
Absmeier, Christine
Reihe
Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 74
Erschienen
Stuttgart 2011: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 371 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Seidel, Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Christine Absmeier hat mit ihrer Dissertation keine schul- oder bildungsgeschichtliche Studie im Wortsinne vorgelegt. Zwar nutzt sie prominente Quellen wie Stiftungsurkunden oder Schulordnungen, doch geht es ihr nicht in erster Linie um die inhaltliche Ausrichtung des gelehrten Unterrichts an den (lateinischen) Schulen und Gymnasien im schlesischen Territorialverband. Genaue Untersuchungen etwa zur Klassenfolge, zum Fächerkanon oder gar zu speziellen Themen wie der Debatte um die Sprachenverwendung oder der Praxis des Schultheaters stehen nicht im Fokus ihres Interesses. Vielmehr ist der Verfasserin daran gelegen, „Schulen als Schnittstelle zwischen Obrigkeit, Kirche und Geistesleben“ (S. 2) zu verstehen – ein Konzept, das konsequent durchgehalten und in variierten Formen der Begriffstrias bis zum Ende („Vaterland, Frömmigkeit und Bildung“, S. 310) immer wieder aufgerufen wird.

Nun ist dieser Ansatz, wenn man die Verhältnisse frühneuzeitlicher Territorialstaaten ins Auge fasst, nicht überraschend und eigentlich auch nicht neu. In ihrem Forschungsbericht geht die Autorin denn auch gründlich auf die vorliegenden Studien ein, die von den materialreichen, oft freilich hagiographisch überhöhten Monographien des 19. Jahrhunderts zu einzelnen Schulen und Lehrerpersönlichkeiten1 bis zu problemorientierten Veröffentlichungen neueren und neuesten Datums reichen. Es ist positiv hervorzuheben, dass Absmeier nicht nur Arbeiten aus unterschiedlichen disziplinären Kontexten, sondern auch Publikationen in polnischer Sprache heranzieht. Sie bewegt sich somit, was die Forschung angeht, auf sehr sicherem Terrain. Ob dies auch für die Quellen gilt, wäre zu überprüfen; zumindest die Verwendung archivalischer Dokumente erscheint für eine historische Untersuchung etwas spärlich (Liste S. 316), was freilich mit der Überlieferungssituation zusammenhängen mag (vgl. S. 31ff.).

Kritisch setzt sich die Verfasserin mit der Anwendung des in der Geschichtswissenschaft verbreiteten „Konfessionalisierungsparadigmas“ (S. 13) auseinander, das auf die „stark dezentral und ständisch organisierten Länder[n] Ostmitteleuropas“ (S. 15) nicht ohne Weiteres anwendbar sei. Der Landesherr, hier also der Kaiser in seiner Eigenschaft als König von Böhmen mitsamt dessen Nebenländern, konnte das ius reformandi in den schlesischen Herzogtümern praktisch nicht durchsetzen. Solange die Schlesier sich auf dem Boden des Augsburger Bekenntnisses bewegten, waren sie in der Gestaltung ihres religiösen Lebens und damit auch bei der Entwicklung der Schulen relativ frei. Damit war aber auch der Weg geebnet für die Reform des Bildungswesens im Sinne Philipp Melanchthons, der in den schlesischen Humanisten, die großenteils in Wittenberg studiert hatten, engagierte Gefolgsleute fand.

Absmeier richtet ihre Studie systematisch nach den Konsequenzen aus, die sich aus dem Einfluss Melanchthons und seiner Schulordnung von 1528 (vgl. S. 137f.) auf die schlesische Bildungslandschaft ergaben. Nach zwei einführenden Abschnitten analysiert sie im dritten Kapitel (S. 87-149) die Entwicklung der Schulen in Freystadt, Grünberg, Breslau und Goldberg „als Stadtschulen in lokaler Trägerschaft unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Schulrektoren“ (S. 87). Früher als die territorialen Führungsinstanzen engagierten sich nämlich seit den 1520er-Jahren in einigen Städten Niederschlesiens die ortsansässigen Gelehrten, ehemalige Wittenberger Studenten, für eine Reform des Schulwesens nach dem Vorbild Melanchthons, dessen programmatische Rede De laude vitae scholasticae (vgl. S. 94-98) als Basis für Selbstverständnis und Bildungskonzept der schlesischen Schulmeister diente. Die Verfasserin geht ausführlich auf die gelehrte Sozialisation und das regionale Netzwerk dieser Rektoren sowie deren Kooperation mit den örtlichen Institutionen ein. Dabei hebt sie Valentin Trozendorf (1490-1556), den Leiter der Schule in Goldberg, als zentralen Vermittler der melanchthonischen Grundsätze in Schlesien besonders heraus, stellt zugleich aber auch diverse weitere, weniger bekannte Persönlichkeiten wie Abraham Bucholzer in Grünberg oder Erasmus Benedictus in Freystadt auf der Grundlage solider Nachforschungen vor.2

Hier wie in den folgenden Kapiteln werden zwar die wichtigsten Punkte der Schulordnungen in Bezug auf doctrina (Lehrinhalte) und disciplina (‚Schulzucht‘) genannt, im Zentrum des Interesses steht jedoch immer die Ausrichtung des gesamten schulischen Lebens auf die Erziehung zur vera religio, also Bekenntnisbildung und religiöse Praxis. Demzufolge nimmt etwa im Blick auf Goldberg die Analyse der Catechesis Scholae Goltpergensis breiteren Raum ein (S. 110-119) als die der eigentlichen Schulordnung (S. 121-128), und die Verfasserin legt sich in der Auswertung der Quellen zunächst voreilig fest: „Oberstes Ziel des Goldberger Unterrichts war die Katechese, dem alle anderen Fächer untergeordnet blieben. Die viel gerühmten humanistischen Fertigkeiten, die an den schlesischen Stadtschulen auf höchstem Niveau erworben wurden, dienten hauptsächlich dem einen Ziel, die Schüler in der Religionslehre auszubilden.“ (S. 121) Dagegen räumt sie später – zu Recht – ein, dass „der gesamte Unterricht in Goldberg der Vorbereitung auf die höheren Fakultäten der Universität dienen“ sollte und „Inhalte vorweg [nahm], die traditionell der Universitätsausbildung vorbehalten waren“ (S. 124). Die Schulen in Goldberg, Breslau und Brieg konnten sogar als „Semi-Universitäten“ (S. 140) gelten, in denen weit mehr als die Triviumsdisziplinen und religiöse Unterweisung geboten wurde.

Unter der etwas missverständlichen Bezeichnung „‚Aristokratische‘ Schulen“ – es sind gerade nicht die Ritterakademien gemeint – behandelt die Autorin im vierten Kapitel (S. 151-204) diejenigen Bildungsstätten, die von Fürsten (Gymnasium Illustre in Brieg) bzw. vom städtischen Patriziat (Elisabeth- und Magdalenen-Gymnasium in Breslau) gegründet oder umgestaltet wurden. Die Phasenverschiebung „zwischen etwa 1560 und 1580“ (S. 151) gegenüber den zuvor behandelten Schulmeisterinitiativen erklärt sich dadurch, dass das Engagement der Melanchthonschüler erst allmählich von den territorialen Entscheidungsträgern übernommen werden musste. Als Argument wurde das lutherische Ideal des christlichen Fürsten (bzw. der christlichen Obrigkeit) eingesetzt. Absmeier verwendet viel Raum darauf, die unterschiedlichen schulpolitischen Positionen und persönlichen Bekenntnisse der einzelnen Piastenherzöge herauszuarbeiten, und präsentiert Georg II. von Brieg als – aus humanistischer Perspektive – idealen Fürsten, der sich 1564 zur Gründung eines akademischen Gymnasiums bewegen ließ.

Weitere Partien dieses zentralen Kapitels, das die mittelfristig renommiertesten Schulen Schlesiens behandelt, betreffen die Personalpolitik, bei der es im Grunde stets um die tatsächliche oder vermeintliche Abweichung einzelner Lehrer von der Augsburger Konfession ging, und den inneren Zusammenhang der schlesischen Schulordnungen, der wiederum nicht zuletzt konfessionell bestimmt war. Absmeier ist daran gelegen, die lange umstrittene Frage nach der konfessionellen Ausrichtung der schlesischen Humanisten dahingehend zu beantworten, dass zwischen einem consensus-orientierten, auf jegliche öffentliche Debatte verzichtenden und einem auf „Weiterentwicklung“ (S. 176, 187, 201 u.ö.) der Lehre zielenden Philippismus unterschieden werden müsse. Die Angehörigen der zweiten Gruppe mussten wegen der Gefahr der Unruhe aus dem Schuldienst entfernt werden, sind deswegen freilich nicht als bekenntnismäßige Calvinisten zu sehen (vgl. S. 301-304 zur gleichfalls viel diskutierten Beziehung der Schlesier zum „sogenannten Heidelberger Calvinismus“, wichtig auch S. 69-71).

Die Verfasserin behandelt diese konfessionellen Fragen mit erkennbarer Präferenz. Im Rahmen der weiter gefassten bildungshistorischen Interessen, die die prospektiven Leser an das Buch herantragen werden, ist allerdings unbedingt auch auf die etwas beiläufig behandelte innere Organisation des Schulwesens mit dem spannenden, auf neuzeitliche Internatspraxis vorausdeutenden Modell des „Schulstaats“ (S. 194-196; vgl. schon S. 125-128, 146) hinzuweisen, der den Humanisten „als ideales Modell für ein größeres Gemeinwesen […], in dem die Schüler verantwortliches Handeln innerhalb einer res publica lernen sollten“ (S. 195), galt.

Unter der Überschrift „Bildung eines schlesischen Landesbewusstseins“ (S. 205-256) sind im fünften Kapitel allerlei Untersuchungen zusammengefasst, die sich mit den persönlichen Kontakten zwischen den schlesischen Bildungseinrichtungen, mit der Etablierung Trozendorfs als schlesischer Integrationsgestalt im Rahmen der Erinnerungskultur oder mit dem Entwurf eines schlesischen patria-Konzepts beschäftigen. Ein schönes Einzelergebnis erzielt die Verfasserin mit der pointierten Analyse der von einigen Gelehrten verwendeten Allegorie vom Trojanischen Pferd, aus dem die Absolventen der schlesischen Schulen hervorgingen (S. 236f.). Gelungen ist auch der Abschnitt über die Vorrede zu Joachim Cureus’ Gentis Silesiae Annales (1571), in der ein komplexes, der Situation der protestantischen Schlesier Rechnung tragendes Verständnis von patria vermittelt wird (S. 247-256).

Das sechste Kapitel (S. 257-305) ist dem Thema „Schulen und Späthumanismus“ gewidmet. Die mehrfache (so schon S. 16-18) Problematisierung des Begriffs Späthumanismus um 1600 erscheint etwas überflüssig. Disziplinär ist der Begriff heute keineswegs „eher literatur- und kunstwissenschaftlich konnotiert“ (S. 297), und kaum jemand wird „die Rolle der schlesischen Schulen […] sich […] in der des Steigbügelhalters für die spätlateinische [sic] und deutsche Literatur“ (S. 296) erschöpfen sehen. Faktisch folgte auf eine Phase des Aufbaus und der Konsolidierung der schlesischen Bildungslandschaft eine Dynamisierung, ja Dramatisierung der Situation insofern, als es Bemühungen um eine Stärkung der katholischen Bildungseinrichtungen im Gefolge des Tridentinums und zugleich eine weitergehende Stärkung der ständischen Freiheiten durch den Rudolf II. abgetrotzten Majestätsbrief des Jahres 1609 gab. Außerdem wurde mit dem 1616 von Georg von Schönaich gegründeten Gymnasium in Beuthen an der Oder noch kurz vor dem Böhmischen Aufstand eine Anstalt ins Leben gerufen, die neben der humanistischen Gelehrsamkeit und der religiösen Unterweisung mit pietas und mores zwei Aspekte der sozialen Praxis, nämlich gelebte Frömmigkeit und gesellschaftlich angemessenes Verhalten, zu Unterrichtsgegenständen erklärte und durch eigene Professuren sanktionierte.3

Mit der militärischen Niederlage der Protestanten in der Schlacht am Weißen Berge und der darauf folgenden (partiellen) Rekatholisierung auch der schlesischen Länder war natürlich ein starker Einschnitt markiert, der die zeitliche Begrenzung, die sich die Verfasserin setzt, rechtfertigt. In ihrem kurzen Fazit (S. 307-311) formuliert sie zu Recht als Desiderat, dass „nach dem Weiterleben der schlesischen patria nach dem gewaltsamen kaiserlichen Zugriff“ (S. 310) zu fragen wäre. Zu untersuchen wäre auch, wie sich die irenische Haltung der schlesischen Gelehrten mit ihrer späteren teilweise deutlichen Positionierung im böhmisch-pfälzischen Krieg vereinbaren ließ (vgl. ebd. und S. 303f.).

Alles in allem bietet die Dissertation von Christine Absmeier einen soliden, vielfach spannend zu lesenden Überblick über die Entwicklung und die gesamtgesellschaftliche Funktion des schlesischen Schulwesens zwischen Reformation und Böhmischem Aufstand. Dass die Autorin das melanchthonische Paradigma von ‚Glaube und Bildung‘ gegenüber anderen möglichen Akzentsetzungen präferiert, ist zumindest legitim, allerdings kommt es bei der Argumentation hier doch zu erheblichen Redundanzen. Andererseits werden eine Reihe von sonst unbeachteten Quellen erschlossen und wichtige Persönlichkeiten auch aus der ‚zweiten Reihe‘ vorgestellt oder in neuem Licht präsentiert. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist die Arbeit angenehm unprätentiös: Absmeier stellt nützliche Modelle wie Bourdieus Kapitaltheorie vor (S. 22-24) und nutzt sie erkennbar, aber nur vereinzelt (z.B. S. 142, 160) im expliziten Rekurs.

Anmerkungen:
1 Dass unter diesen die soliden Untersuchungen und Quelleneditionen von Gustav Bauch (vgl. Literaturverzeichnis, S. 333f.) herausragen, hebt die Verfasserin mehrfach zu Recht hervor.
2 Es ist natürlich sinnvoll, dass die Verfasserin sich auf die bedeutenderen Lehranstalten Schlesiens, also „Lateinschulen mit universitätsvorbereitendem Charakter“ (S. 38), beschränkt. Der Leser darf den Band daher allerdings nicht als umfassendes Kompendium des schlesischen Schulwesens im Reformationsjahrhundert ansehen.
3 Die Studien des Rezensenten zum Schönaichianum werden von der Verfasserin weitgehend bestätigt. Vgl. Robert Seidel, Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577-1631). Leben und Werk, Tübingen 1994, S. 230ff.

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