S. Jahns: Reichskammergericht und seine Richter

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Titel
Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil 1: Darstellung


Autor(en)
Jahns, Sigrid
Reihe
Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
783 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Stadtarchiv Wismar

Endlich liegt es vor, das gleichermaßen monumentale wie grundlegende Werk von Sigrid Jahns zum Reichskammergericht (RKG) und seinen Richtern! Nachdem bereits 2003 die beiden Bände mit den Biographien derjenigen 128 Juristen erschienen waren, die zwischen 1740 und 1806 entweder als Assessoren am RKG wirkten oder auf das Assessorat präsentiert wurden, das Amt aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht antraten, musste der einleitende und zugleich auswertende Teil bis zur Pensionierung der Verfasserin warten. Wer das Werk auch nur durchblättert, versteht, warum es so viel Zeit brauchte vom ersten Warmwerden mit dem Thema 1975 bis zur schließlich vollendeten Publikation der insgesamt 2.311 Seiten im Jahre 2011. Er wird aber auch erkennen, wie sehr sich das Warten auf dieses reife Werk gelohnt hat. In diesen 36 Jahren, einem ausgefüllten Wissenschaftlerleben, haben die Forschungen zum Alten Reich und seinen obersten Gerichten – betrachtet man allein die „Grüne Reihe“ (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich), in der auch dieses Werk erschienen ist – einen immensen Sprung getan. Sie haben sich vielfach gegenseitig befruchtet und zahlreiche Facetten (Rechts- und Verfassungs-, Sozial- und politische Geschichte einschließlich der konfessionspolitischen Problematik, Kultur-, Wirtschafts-, Mentalitäts- und Wahrnehmungsgeschichte) des großen Themas entdeckt. Die Verfasserin hat all diese neuen Erkenntnisse mit in ihr Werk aufgenommen. Sie hat sie kritisch gewürdigt, hinterfragt, als Anregung benutzt, so dass im Unterschied zu anderen Langzeitprojekten hier tatsächlich konsequent der Forschungsstand des Jahres 2011 dokumentiert und berücksichtigt wurde. Allein das ist eine Leistung, die eine uneingeschränkte Würdigung verdient hätte. Das Buch von Sigrid Jahns bietet aber sehr viel mehr.

Das zeigt bereits die ausführliche und instruktive Einführung. Schon im ersten Absatz stellt die Verfasserin ihr Programm vor: die Verschränkung zwischen der Geschichte des Alten Reiches, der Verfassung des Gerichts und den Biographien seiner Richter. Der hier untersuchte Spruchkörper des RKG hatte im System des Alten Reiches einen sehr hohen Rang und wurde von den Rahmenbedingungen maßgeblich geprägt. Untersucht man die Verfassung des Kameralkollegiums, den Modus seiner Besetzung und sein Sozialprofil, beschäftigt man sich mit den Biographien der Assessoren und Präsentati auf die Art, wie es Sigrid Jahns getan hat, erhält man mithin einen vertieften Einblick in die Verfassungs- und Sozialgeschichte des Alten Reiches.

Nach der Einführung wendet sich Jahns in einem ersten inhaltlichen Schwerpunkt zunächst der Funktion und Besetzung des RKG zu. Sie fasst das RKG als zentrale Institution des Alten Reiches, wendet sich dann dem Personal zu, an dem sie vor allem das aus den Direktorialämtern des Kammerrichters und der Präsidenten und aus den Assessoren bestehende Kameralkollegium interessiert. Sie stellt dieses Kollegium mit seinen verschiedenen Funktionen ausführlich vor und widmet sich dann in einem großen Schwerpunkt der Besetzung der Assessorate nach dem sehr komplizierten Präsentationssystem, das immer wieder grundlegenden, den politischen und religiösen Veränderungen im Reich geschuldeten Anpassungen unterworfen war. Sehr prägnant betont sie in einem Zwischenfazit eine ihrer zentralen Thesen, dass das Präsentationssystem ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte bildete, und erklärt dies unter anderem am Beispiel eines Juristen, der sich in Speyer bzw. Wetzlar beim Kammerrichter als Aspirant auf ein freies Assessorat anmeldete. Er „tat dies nicht einfach als ein Individuum mit professionellen und sozialen Qualifikationsmerkmalen und in der subjektiven Überzeugung von seiner Amtseignung. Er tat es als Träger einer bestimmten reichsständischen oder kaiserlichen Präsentationsberechtigung“ (S. 327f.). Jahns führt diese Zusammenhänge mustergültig aus und vermittelt so erhellende Einsichten in das Funktionieren des Reiches.

Nachdem sie in diesem ersten großen Schwerpunkt die gesamte Zeit des Wirkens des RKG in den Blick genommen hat, konzentriert sie sich im Folgenden auf die von ihr ausgewählte Gruppe der 128 Assessoren und Präsentati, die zwischen 1740 und 1806 am Gericht wirkten oder erfolglos auf diese Ämter präsentiert worden waren. Sie untersucht das Profil dieser Gruppe nach den Kriterien geographische Herkunft, Ausbildungsgang und soziale Mobilität und beherrscht dabei souverän das umfangreiche Material, das sie in den beiden Bänden mit den Biographien der RKG-Assessoren1 vorgelegt hat. So entsteht eine lebendige Diskussion zwischen der in der Kammergerichtsordnung und den Visitationsrezessen vorgegebenen Norm für die Berufungspolitik einerseits und der Realität, in der mächtige Reichsstände Modifizierungen für ihre Präsentati erwirkten, andererseits. Immer wieder visualisiert sie ihre Ergebnisse in Karten und Tabellen und belegt damit ihre These von den Rekrutierungsschwerpunkten in Mainz, Koblenz und Kurhannover. Gleichzeitig zeigt sie, dass es weite Teile des Alten Reiches gab, die als Rekrutierungsbasis für die Posten der obersten Richter praktisch keine Rolle spielten. Sie begründet dies unter anderem mit blockierten Präsentationen im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis und kontrastiert das Fehlen von Richtern aus dieser Region mit deren hohem Prozessanteil.

Bei diesen Fragen wird Sigrid Jahns immer dem gesamten Thema gerecht. Sie beschränkt sich also nicht etwa auf die von ihr vertieft untersuchte Periode zwischen 1740 und 1806, für die sie Assessoren und Präsentati in ausführlichen Biographien vorgestellt hat, sondern sie profitiert von ihrem ursprünglich wesentlich weiter, auf die gesamte Tätigkeit des RKG angelegten Projekt und bietet in der Betrachtung vieler Einzelfragen eine Gesamtperspektive. Das gilt vor allem für den wichtigen Teil zum Präsentationssystem, dessen Veränderungen sie sehr dezidiert herausarbeitet. So erzählt sie fesselnd die Geschichte eines obersten Gerichts an dessen Anfang „Modernität und der Wille zu fortgesetzten Verbesserungen, am Ende schließlich überfällige und unterlassene Anpassungsleistungen“ (S. 672) standen.

Nach der Lektüre dieses grundlegenden Werkes ist klar, dass sich die langjährige, entbehrungsreiche Arbeit von Sigrid Jahns gelohnt hat. Dieses Werk wird bleiben, es war schon bei seinem Erscheinen ein Klassiker, den diejenigen, die sich für die Geschichte des RKG interessieren, nicht nur gern in ihre Bibliothek einstellen, sondern immer wieder mit Gewinn benutzen werden. Die große Arbeit von Sigrid Jahns wird sicherlich aber auch weitere Forschungen anregen. Nachdem sich zum Reichshofrat, zum Wismarer Tribunal und zum Oberappellationsgericht Celle die Forschungslage in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert hat, warten vor allem die kurfürstlichen Oberappellationsgerichte immer noch darauf, „entdeckt“ zu werden. Für die große Schwester dieser Gerichte ist jetzt das Grundlagenwerk erschienen, das zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten eröffnet und Forschungsperspektiven aufzeigt. Hoffen wir, dass das Jahnssche Werk zur weiteren, vertieften Beschäftigung mit der Geschichte der höchsten und hohen Gerichte im Alten Reich motiviert – das wäre für die Verfasserin wohl der schönste Lohn.

Anmerkung:
1 Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil 2: Biographien, 2 Bde., Köln 2003. Vgl. auch meine Rezension in: H-Soz-u-Kult, 01.10.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-001> (31.10.2012).

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