R. Frank u.a. (Hrsg.): Building a European Public Sphere

Titel
Building a European Public Sphere/ Un espace public européen en construction. From the 1950s to the Present/ Des années 1950 à nos jours


Herausgeber
Frank, Robert; Kaelble, Hartmut; Lévy, Marie-Françoise; Passerini, Luisa
Erschienen
Anzahl Seiten
257 S.
Preis
€ 39,56
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ariane Brill, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Europäische Öffentlichkeit rückte in den letzten Jahren vermehrt in das Blickfeld der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung. Viele seit Ende der 1990er-Jahre publizierten Studien geben historisch breit gefasste, konzeptionelle Überblicke, behandeln die Zeit nach Abschluss des Maastrichter Vertrags und/oder konzentrieren sich vor allem auf die politische Dimension und auf printmediale Quellen.1

Im vorliegenden Sammelband soll nun die allgemeine Perspektive durch spezifische Ansätze zur Erschließung einer europäischen Öffentlichkeit von 1945 bis heute erweitert werden. Es existiere eine althergebrachte europäische Kultur, warum solle man diese nicht wieder ins Bewusstsein der Bürger bringen, um damit den Grundstein für eine europäische Öffentlichkeit zu legen, fragt Robert Frank in der Schlussbetrachtung des Bandes (S. 250). Hartmut Kaelble weist darüber hinaus auf die schon vor 1990 steigende Relevanz von europäischen Themen in nationalen Medien hin, von denen bislang hauptsächlich Zeitungen und Journale in der Forschung berücksichtigt worden seien (S. 33). Dementsprechend beschäftigt sich der Großteil der zwölf Beiträge, davon sieben in englischer und fünf in französischer Sprache, mit der Frage nach der Existenz bzw. Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit im Bereich der Kultur und der Rolle der visuellen Medien als Massenkommunikationsmittel. Die europäische Öffentlichkeit wird hierbei, ganz im Sinne vorangegangener Publikationen, weiterhin nicht als homogene Einheit, sondern als aus mehreren, transnational vernetzten Teilöffentlichkeiten bestehend definiert.

Aufbauend auf Jürgen Habermas’ viel diskutierter Öffentlichkeits-Theorie2 fokussieren sich die ersten vier Artikel des Sammelbandes zunächst auf die konzeptionelle Ebene. Hartmut Kaelble stellt einführend nachhaltige Merkmale vor, die auf die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit hindeuten. Dabei verweist er – wie bereits in früheren Abhandlungen 3 – erneut auf Debatten über die europäische Zivilisation und die Verbreitung europäischer Symbole (S. 31f.). Zugleich betont er, dass sich diese Öffentlichkeit nach 1945 nicht kontinuierlich entwickelte und noch heute unvollständig sei (S. 27-29). Der aus kultureller und gesellschaftlicher Sicht interessanteste Beitrag des konzeptionellen Teils stammt von Luisa Passerini, in dem es ihr um Veränderungen in der Beziehung zwischen Öffentlichem und Privatem in Europa geht. Diese seien in den letzten 40 Jahren von neuen sozialen Bewegungen und der Frauenbewegung angestoßen worden (S. 43). Ihre Hypothese, dass das Privat-Intime zusätzlich durch Völkerbewegungen sowie durch neue Formen kommunikativer Vernetzung innerhalb Europas in das öffentliche Blickfeld gerückt worden sei, überprüft und untermauert sie unter anderem anhand neuerer Spielfilme über Liebesbeziehungen zwischen Partnern aus verschiedenen europäischen Ländern. Diese eigentlich privaten Verbindungen propagieren nach ihrer Auffassung einen „Bereich möglicher Vernetzung der Kulturen“ (S. 53).

Der zweite Teil des Bandes rückt in mehreren Aufsätzen die Bemühungen der Europäischen Union und des Europarates, eine europäische Öffentlichkeit auf dem Gebiet der Kultur zu erschaffen, in den Fokus – diese Perspektive stand bisher wenig im Interesse der Forschung, wie auch Hartmut Kaelble in seinem Vorwort betont (S. 13). Exemplarisch soll an dieser Stelle nur auf Joséphine Brunners Beitrag über die Kulturpolitik des Europarates von 1949 bis 1968 eingegangen werden. Der Europarat habe angesichts seiner Kooperation mit der EU sowie der UNESCO ein „kulturelles europäisches Netzwerk“ geschaffen und sei damit eine „Pionierorganisation“ (S. 162). Durch Kunstausstellungen oder durch die Übersetzung und Verbreitung fremdländischer Literatur treibe er die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten an (S. 172).

Zwei Aufsätze dieses Kapitels fragen darüber hinaus nach einer „Europäisierung“ von visuellen Massenmedien. Marie-Noële Sicard und Marie-Françoise Lévy zeichnen die Entwicklung des bis heute auf den deutsch-französischen Sprachraum beschränkten Senders „Arte“ nach, der ursprünglich mit dem Ziel gegründet wurde, ein „europäisches“ Programm zu schaffen (S. 104).

Priska Jones verdeutlicht, wie die ARD-Quizshow „Einer wird gewinnen“ mit Hans-Joachim Kulenkampff auf doppelte Weise eine Art europäische Öffentlichkeit konstituierte: Zum einen als ein Raum, in dem sich Kandidaten aus acht verschiedenen europäischen Ländern trafen und zum anderen „als mediale Öffentlichkeit“, da die Show als Programm der „Eurovision“ gesendet wurde (S. 23). Zudem habe sie – vor allem in den Anfangsjahren – nicht nur hinsichtlich der Initialen „EWG“ Bezüge zum institutionalisierten Europa vorweisen können. Tatsächlich sollte die Show zunächst den europäischen Gedanken fördern, wie Jones durch Briefe von Programmdirektoren belegt (S. 124f.). Die Einbeziehung osteuropäischer und sowjetischer Kandidaten ab der zweiten Staffel, die damit verbundene Distanzierung von politischen Symboliken und das positive Echo der Printmedien auf diese Erweiterung zeigten, dass die allgemeine Vorstellung von Europa damals nicht nur auf die westeuropäischen Mitgliedsländer der EWG beschränkt gewesen sei (S. 139).

Die beiden Beiträge des dritten und letzten Kapitels legen ihr Augenmerk auf inner- und außereuropäische Migranten, wobei das Kino sowohl als Medium als auch als öffentlicher Raum im Vordergrund steht. Nirmal Puwar verweist auf Kinos in Großbritannien, die nach dem Zweiten Weltkrieg von indischen Einwanderern aufgekauft wurden. Diese seien zu „öffentlichen Treffpunkten“ für Migranten aus den ehemaligen europäischen Kolonien geworden (S. 211f.). Diese Teilöffentlichkeit blieb sicherlich eher national als europäisch geprägt, Puwars Perspektive bietet jedoch die Möglichkeit, Vergleiche zwischen europäischen und nicht-europäischen Teilöffentlichkeiten zu ziehen. Eine Ergänzung zu Luisa Passerinis Erörterungen liefern Enrica Capussotti und Liliana Ellena. Sie beschäftigen sich mit Fatih Akin und Tony Gatlif, zwei Filmproduzenten deutsch-türkischer bzw. französisch-algerischer Herkunft, die nach Ansicht der Autorinnen aufgrund ihrer eigenen Biographien sowie anhand ihrer Filme über Gastarbeiter und Europas koloniale Vergangenheit vielfältige europäische Schauplätze miteinander verknüpfen (S. 224).

Robert Frank hebt in seiner Schlussbetrachtung unter anderem die Grenzen einer nachhaltigen „Europäisierung“ von Kultur und Medien und die schwierige Position einer europäischen Öffentlichkeit zwischen der vorherrschenden nationalen und der globalen Öffentlichkeit hervor. Die verschiedenen Beiträge des Sammelbandes untersuchen laut Frank die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, die „brüchig und fragmentarisch, aber dennoch sichtbar“ ist (S. 249). Mit seinem Fazit trägt er dazu bei, die vielschichtigen Themenbereiche und Ergebnisse in einen gemeinsamen Kontext zu bringen, wenngleich sich hier kleine Schwächen in der redaktionellen Bearbeitung offenbaren: So verweist Robert Frank auf einen weiteren Beitrag zum indischen Kino (S. 254), den der Leser in der Publikation allerdings vergeblich sucht und auch seine Angaben zu Nirmal Puwers Analyse sind nicht ganz deckungsgleich mit ihrem vorangegangenen Text. Dies ist vermutlich auf die im Vorwort erwähnte Tatsache zurückzuführen, dass ursprünglich mehr Artikel geplant waren, als letztendlich veröffentlicht wurden.

Insgesamt liefert der Sammelband eine vielfältige Betrachtung verschiedener Dimensionen einer (kulturellen) europäischen Öffentlichkeit nach 1945, die nicht nur aus europapolitischen Diskussionen und Elitendiskursen hervorgeht. Besonders die Hinwendung zu visuellen Massenkommunikationsmitteln ist sehr zu begrüßen. Darüber hinaus bieten die Konzentration auf die Rolle der Einwanderer und der Vergleich mit Teilöffentlichkeiten anderer Kontinente interessante und ausbaufähige Ansätze zur Erschließung der viel debattierten, jedoch noch immer unscharfen europäischen Öffentlichkeit.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch: Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002; Ansgar Klein / Ruud Koopmanns / Hans-Jörg Trenz (Hrsg.), Bürgschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa, Opladen 2002; Jan Henrik Meyer, The European Public Sphere. Media and Transnational Communication in European Integration 1969–1991, Stuttgart 2010; Jörg Requate / Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002; Hans-Jörg Trenz, Europa in den Medien. Die Europäische Integration im Spiegel Nationaler Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2005.
2 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
3 Vgl: Hartmut Kaelble, Das europäische Selbstverständnis und die europäische Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert; in: Ders. / Kirsch / Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten, S. 102f..

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