Titel
Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne


Autor(en)
Katz, Jacob
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Berding, Justus-Liebig-Universität Giessen

Jacob Katz (1904-1998) zählt zu den bedeutendsten jüdischen Historikern des 20. Jahrhunderts. Viele seiner grundlegenden Werke zur deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Geschichte sind ins Deutsche übersetzt worden und haben hierzulande eine breite Resonanz erfahren. Dies gilt insbesondere für seine bahnbrechenden Arbeiten über die jüdische Emanzipation und den modernen Antisemitismus. 1 Weniger Beachtung als diese Studien fanden in Deutschland seine Forschungen zur Entwicklung der religiösen Tradition seit dem Mittelalter. 2 Nicht einmal das Hauptwerk zu dieser Thematik, nämlich "Tradition und Krise", erreichte ein größeres Publikum. Das Buch, das 1961 in hebräischer Sprache erschien und zweimal ins Englische übersetzt wurde, liegt nun, fast ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung, in deutscher Sprache vor.

Der Titel dieser Schrift bezeichnet den Gegenstand der Untersuchung nur unvollständig. Zur Diskussion steht die Gesellschaft des aschkenasischen Judentums im Zeitraum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Was die Konzeption anbetrifft, sind drei Gesichtspunkte besonders hervorzuheben. Da ist zum einen der geographische Raum. Er erstreckt sich von Polen-Litauen im Osten bis zum Elsass im Westen und schließt im Südosten Ungarn, Böhmen sowie Mähren mit ein. Katz betrachtet diese weiten und in vielerlei Hinsicht heterogenen Gebiete erstmals als eine relativ einheitliche Region. Hier verfügten, zumindest bis zum Beginn der Aufklärung, die einzelnen jüdischen Gemeinschaften trotz aller Unterschiede über bestimmte, für das aschkenasische Judentum insgesamt charakteristische Gemeinsamkeit. Da ist zum anderen die zeitliche Dimension. Der Bogen spannt sich vom späten 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Auch mit dieser Abgrenzung weicht Katz von der herkömmlichen jüdischen Geschichtsschreibung ab, führt ein neues Periodisierungsschema ein und überträgt als erster die Vorstellung einer Frühen Neuzeit auf das aschkenasische Judentum. Mit der Einführung einer für die jüdische Geschichte neuen Epoche verändert sich auch die Bewertung. Sie fällt bei Katz weitaus positiver aus als bisher, etwa bei Heinrich Graetz, der die Zeit vor der Aufklärung noch dem dunklen Mittelalter zurechnet und von einer "Allgemeinen Verwilderung in der Judenheit" spricht. 3 Da ist schließlich der methodische Ansatz: die an Karl Mannheim geschulte Gesellschaftsanalyse, in der sich die sozialgeschichtliche Methode mit einer geistes- und kulturgeschichtlichen Arbeitsweise verbindet. Um das Thema, die jüdische Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne, angemessen zu behandeln, schrieb Katz, "mußte ich mich der analytischen Mittel der Soziologie, der Wissenschaft von der Gesellschaft bedienen. Mein Wunsch, alle Aspekte, Institutionen und Funktionen dieser Gesellschaft darzustellen, zwang mich, viele Themen zu behandeln: politische und gesellschaftliche Bedingungen, wirtschaftliche Probleme, Organisationsformen, die Struktur der Familie, Bildungsmethoden sowie die Erneuerungsbestrebungen im religiösen und sozialen Bereich." (11) Eine solche Breite des Themenspektrums gebietet nicht nur Methodenpluralismus. Sie setzt auch Quellenvielfalt voraus. Katz stützt sich bei seiner Studie auf ungewöhnlich umfangreiches und heterogenes Archiv- und Bibliotheksmaterial, angefangen von den Registern der Gemeinden und Provinzen über die ethischen und polemischen Werke der Zeitgenossen bis hin zu der in sich weit gefächerten halachischen Literatur jener Epoche.

Für die Durchführung eines so anspruchsvollen Programms gliedert Katz seine Untersuchung in drei Teile. Zunächst geht es um die "Grundlagen der Existenz" (50-81). Die Darstellung beginnt mit der Sonderstellung der Juden, die sich getreu der überall präsenten jüdischen Tradition durch getrennte Wohnbereiche, Kleidung, Speisen, Sprache usw. von ihrer Umwelt abhoben. Ebenso wie die Abgrenzung nach außen unterlagen die vielfältigen Kontakte mit der nichtjüdischen Welt bestimmten, in den Traditionsquellen genau festgelegten und in den Verhaltensweisen verinnerlichten Regeln. Dies gilt auch für die ausführlich beschriebenen wirtschaftlichen Aktivitäten, die sich im Zuge der grundlegenden Strukturveränderungen vom 16. bis 18. Jahrhundert erheblich wandelten. Wie wenig die Rolle, die Juden im aufkommenden Kapitalismus spielten, mit angeborenen oder geschichtlich erworbenen Merkmalen zu tun hat, legt Katz in Auseinandersetzung mit den Thesen von Werner Sombart dar. Mit überzeugenden Argumenten und Belegen stellt der Historiker die für die jüdischen Wirtschaftsaktivitäten bestimmenden objektiven Fakten heraus und verweist auf die neutrale Stellung der Religion, die der beruflichen Tätigkeit von Juden einen weiten Spielraum eröffnete, aber keine Präferenzen vorgab.

Im zweiten Teil über "Gemeindeinstitutionen und Gemeindestruktur" (83-210) wendet sich die Untersuchung zuerst den Strukturformen der traditionellen jüdischen Gesellschaft zu. Bei dieser funktionalen Analyse richtet sich das Interesse auf die statischen und unveränderlichen Aspekte des gesellschaftlichen Gefüges. Zur Sprache kommen erstens die Formen der gemeindlichen Organisation und Verwaltung, zweitens das Verhältnis der Gemeinden untereinander, drittens die verschiedenen übergemeindlichen Einrichtungen. In allen Fällen geht es darum, die charakteristischen Merkmale der Institutionen und Organisationen herauszuarbeiten, nicht die individuellen Spielarten, die Katz aus methodischen Gründen bewusst ausklammert. Mit derselben Intention wird nach der Gemeinde, dem Bereich des Offiziellen und Organisatorischen, die Familie in ihrer für das aschkenasische Judentum der damaligen Zeit typischen Struktur analysiert. Auch hier, im Bereich des Privaten und Persönlichen, schreitet die Untersuchung von der kleinen zur größeren Einheit voran: von der Kernfamilie und ihren sozialen Funktionen über Eheschließung, Eheverständnis wie Ehescheidung bis hin zur erweiterten Familie und der Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen für die Stellung der Familienangehörigen in der Gesellschaft. Breiten Raum nehmen sodann die Bruderschaften und gelehrten Gesellschaften ein, ferner die religiösen Institutionen (Synagoge und Rabbinat) sowie schließlich die offiziellen Bildungsinstitutionen (cheder und jeschiwa). Die Analyse der Struktur- und Funktionsverhältnisse mündet ein in eine Betrachtung der hierarchischen Rangfolge der Institutionen sowie der sozialen Hierarchie ihrer Träger. "Die traditionelle jüdische Gesellschaft scheint", so das Fazit, "in beruflicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht eine offene Gesellschaft gewesen zu sein." (205)

Der dritte Teil "Anzeichen des Zusammenbruchs" (211-270) betrachtet die jüdische Gesellschaft samt der ihr innewohnenden Dialektik von Tradition und Offenheit unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Wandels. Drei Ergebnisse der insgesamt schlüssigen Beweisführung sind festzuhalten. Erstens erschütterten historische Ereignisse wie das große Massaker in Polen 1648/49 und die sabbatianische Bewegung 1666 noch nicht die Grundfesten der traditionellen Gesellschaft. Demgegenüber leiteten der Chassidismus im Osten und die Haskala im Westen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen ein. Zweitens: Die Entstehung des Chassidismus erfolgte in derselben Zeit wie die politische Dezentralisation Polens. Beide Vorgänge trugen bei zum Niedergang der jüdischen Selbstverwaltung, der alten rabbinistischen Institutionen und Bildungseinrichtungen. So gelang der Aufstieg einer neuen Elite von charismatischen Führern mit charismatischer religiöser Autorität. Dieser innerjüdische Prozess wirkte sich nicht desintegrativ aus. Drittens: Demgegenüber wohnte der Haskala die Tendenz zur Desintegration inne. Sie brachte eine neue Bildungselite mit rationalistischen Zukunftsvisionen hervor. Die jüdischen Aufklärer erschütterten die Werte der Tradition und gewannen die Oberhand. "An diesem wichtigen Scheidepunkt hatten sie den Gott der Geschichte an ihrer Seite." (270)

Anmerkungen
1 Jakob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt a. M. 1986 (engl. 1973); ders., Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1770-1933, München 1989 (engl. 1986).
2 Jakob Katz, The Shabbes Goy. A Study in Halahkic Flexibility, Philadelphia 1989 (hebr. 1968); ders., Halacha und Kabbal. Studien zu gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen in der Geschichte Israels, Jerusalem 1986 (hebr.); vgl. dazu Andreas Gotzmann, Jakob Katz (1904-1908), in: Geschichte und Gesellschaft 26. 2000, S. 684-688.
3 Vgl. das Vorwort von Michael Brenner, S. 8.

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