E. Aubele u.a. (Hrsg.): Femina Migrans

Titel
Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.-20. Jahrhundert)


Herausgeber
Aubele, Edeltraud; Pieri, Gabriele
Erschienen
Sulzbach/Taunus 2011: Ulrike Helmer Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Waburg, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg

Der Sammelband präsentiert Ergebnisse der historisch-politischen Tagung „zwischenWelten – Frauen in Migrationsprozessen (18.-21. Jh.)“, die im Juni 2010 von dem Verein Frauen & Geschichte Baden-Württemberg e.V. und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg veranstaltet wurde. Die Tagung hatte vier inhaltliche Schwerpunkte: erstens eine geschichtswissenschaftliche Analyse des problematischen gesellschaftlichen Umgangs mit Migrationsprozessen unter Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht, zweitens eine Verbindung von historischen Fallstudien mit der aktuellen geschlechtsbezogenen Migrationsforschung, drittens eine Diskussion der gegenwärtigen Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel des Bildungsbereichs und viertens die Präsentation von Migrantinneninitiativen.

Sabine Liebig führt in ihrem Beitrag in das Thema „Migration und Geschlecht“ ein. Sie beginnt mit einer theoretischen Annäherung an Wanderungsprozesse, es folgen Ausführungen zu Besonderheiten der ‚weiblichen Migration‘ unter Berücksichtigung von drei Formen: internationale Fluchtmigration, weltweite Sexarbeit und Arbeitsmigration nach Deutschland. Die angeführten Beispiele beziehen sich primär auf die Zeit von 1960 bis heute. Für alle Migrationsformen wird auf ein Zusammenspiel zwischen Ausgangsbedingungen in den Herkunftsländern der Migrantinnen (Push-Faktoren) sowie die Situation in den Aufnahmestaaten (Pull-Faktoren) hingewiesen. Eine zentrale Rolle weist Liebig den jeweiligen Geschlechterverhältnissen zu. So migrieren viele Frauen, um ihre Familie im Herkunftsland zu versorgen und arbeiten im Aufnahmeland in weiblich konnotierten Berufen am unteren Ende der Einkommensskala. Liebig schlussfolgert, dass die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht im Zusammenhang mit weiteren Kategorien (wie Herkunftsmilieu, Fluchtmotiv und Aufenthaltsstatus) für die Migrationsforschung zu einer Perspektiv- und Erkenntniserweiterung führt, da auf gesellschaftlicher Ebene eine allgemeine geschlechtsbezogene Benachteiligung von Migrantinnen und auf individueller Ebene große Unterschiede in den individuellen Lebensgeschichten deutlich werden.

Den anschließenden Abschnitt mit dem Titel „Historische Fallbeispiele und Erinnerungspolitik“ eröffnet der Beitrag von Vera Kallenberg. Sie untersucht (Arbeits-)Migrations- und Lebensgeschichten jüdischer Dienstmägde um 1800 anhand von Frankfurter Kriminalakten. In einer intersektionellen Perspektive analysiert sie gekonnt das Zusammenspiel von Geschlecht, Gesinde-, Fremdenstatus sowie Religion und zeigt auf, wie dieses im Falle einer illegitimen Schwangerschaft zur besonderen Benachteiligung und Kriminalisierung von jüdischen Dienstmägden führte. Iwona Dadej nimmt in ihrem Beitrag das „Phänomen der polnischem Bildungsmigrantinnen an westeuropäischen Universitäten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts“ in den Blick. Sie arbeitet unter anderem Phasen, Zahlen und Charakter der Frauenbildungsmigration heraus und zeigt, wie Bildungsmigrantinnen bei der Rückkehr nach Polen zum Wandel der Vorstellungen von Frauenstudium und darauf aufbauend zur Emanzipation von Frauen und dem Wandel der Geschlechterverhältnisse beitrugen. Stephan Scholz rekonstruiert in seiner Analyse „Geschlechtskonstruktionen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung“. Berücksichtigung finden zum einen Denkmäler für Vertriebene, deren zentrales Motiv seit den 1980er-Jahren Frauen und Kinder sind. An dieser geschlechtsspezifischen Darstellung der Fluchterfahrung wird laut Scholz der vermeintliche Unrechtscharakter der Vertreibung zum Ausdruck gebracht, da Frauen und Kinder mit Unschuld, Verletzlichkeit und Wehrlosigkeit assoziiert sind. Zum anderen arbeitet der Autor heraus, dass in Filmen und Büchern über Flucht und Vertreibung, Frauen sowohl als Opfer als auch als Akteurinnen dargestellt werden: Sie und ihre Kinder werden zum einen zur Flucht gezwungen, die sie schutzlos und verletzbar macht. Zum anderen gestalten die Frauen ihr Leben aktiv und besetzen die eigentlich Männern vorbehaltenen (Leitungs-)Positionen. Es scheint eine Erschütterung der traditionellen Geschlechterordnung auf, die auch damit zusammenhängt, dass die abwesenden Männer nicht als Beschützer von Frauen auftreten können. Diese Erschütterung führt allerdings nicht zu einer dauerhaften Infragestellung patriarchaler Strukturen, stattdessen kommt es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Restauration bürgerlicher Geschlechterverhältnisse.

Der Titel des zweiten Hauptkapitels lautet „Rezeption und Vermittlung von Migrationserfahrung“. Im ersten Artikel von Marina Liakova wird die Entwicklung des wissenschaftlichen Migrationsdiskurses ausgehend vom defizitorientierten Blick auf Ausländerinnen in den 1980er-Jahren hin zur Betonung der Heterogenität der Frauen mit Zuwanderungsgeschichte nachgezeichnet. Im Anschluss präsentiert Liakova eine Synthese aktueller Forschungsergebnisse zu Lebenslagen von Migrantinnen in Deutschland. In einem sehr knappen Rekurs auf die mediale Wahrnehmung von Migrantinnen zeigt die Autorin, dass die in der Wissenschaft mittlerweile unbestrittene Heterogenität unter Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Medienbeiträgen noch nicht beachtet wird. Die beiden folgenden Beiträge nehmen die Berücksichtigung von Migration und Gender in Museen in den Blick. Regina Wonisch beschäftigt sich mit dem aktuellen Boom an Ausstellungen über Migrationsphänomene. Sie bettet diesen in den Trend zur zunehmenden Berücksichtigung der Diversität historischer Erfahrungen ein, der zunächst primär auf die Arbeiter- und Frauengeschichte bezogen war. Mit dem Aufgreifen der Migrationsgeschichte sollen nunmehr die Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität und deren wechselseitige Verknüpfung in Ausstellungs- und Museumskonzepten reflektiert werden. Wonisch zeigt auf, welche Probleme in Migrationsausstellungen auftreten, da sie sich im Spannungsfeld von Objektivierung und Ermächtigung von Migrant(inn)en und der Gefahr der Reifizierung ethnischer Differenzen bewegen. Implizit wird im Beitrag deutlich, dass der Kategorie Geschlecht in bislang realisierten Migrationsausstellungen eine marginalisierte Position zukommt. Wie beide Kategorien berücksichtigt werden können, zeigen die Ausführungen von Caroline Gritschke und Barbara Ziereis, die sich detailliert mit zwei Ausstellungen im Haus der Geschichte Baden-Württemberg beschäftigen.

Im dritten Abschnitt steht „Integration als gesellschaftliche Herausforderung“ im Mittelpunkt. Zunächst stellt Sylvia Schraut Empfehlungen zur bildungsbezogenen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund vor, die im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf der Tagung formuliert wurden. Die für Mädchen und Jungen aufgestellten Empfehlungen betreffen die Berücksichtigung der zentralen Bedeutung des Erlernens der deutschen Sprache, die Förderung von Mehrsprachigkeit, die Entwicklung zielgruppenspezifischer Programme, die Ausbildung interkultureller Kompetenz von Pädagog(inn)en, den Vorrang individuellen Engagements vor staatlicher Verordnung und die Sensibilisierung der Mehrheitsbevölkerung für Belange von Migrant(inn)en. Es folgen zwei Beiträge, in denen baden-württembergische Integrationsinitiativen für Migrantinnen (und Migranten) präsentiert werden. Rukiye Kaplan und Sigrid Räkel-Rehner stellen Entstehung und Konzept des Ulmer Mädchen- und Frauenladens „Sie’ste“ vor, Ruhsar Aydoğan und Derya Bermek-Kühn beschreiben das Deutsch-Türkische Forum Stuttgart und dessen Stipendien- und Mentor(inn)enprogramm „Ağabey-Abla“.

Besonders hervorzuheben ist am vorliegenden Sammelband, dass das bislang in Wissenschaft und Öffentlichkeit zu wenig diskutierte Thema „Frauen und Migration“ in den Mittelpunkt gestellt wird. Entsprechend enthält das Buch interessante und gelungene Einzelbeiträge, die sich dem Thema in historischer Perspektive in Form von Fallbeispielen und mit aktuellem Bezug auf museale Aufbereitung sowie integrationsbezogene Herausforderungen stellen.

Bedauerlich ist allerdings, dass es nicht gelingt, einen über die Tagungsziele hinausgehenden, weiterführenden Anspruch für das Buch zu formulieren sowie ein stimmig durchkomponiertes Gesamtwerk vorzulegen. Die Einzelbeiträge stehen relativ unverbunden nebeneinander und es finden sich in diesen keine Verweise auf andere Artikel des Bandes, obwohl Anknüpfungspunkte bestehen (etwa zwischen den Artikeln von Scholz und Gritschke/Ziereis). Potenziale für eine übergreifende Verbindung beinhaltet der einführende Beitrag von Sabine Liebig. Es wäre wünschenswert gewesen, in diesem nicht primär auf Beispiele von Frauenmigration nach dem Zweiten Weltkrieg einzugehen, sondern dem Buchtitel entsprechend auch das 18. und 19. Jahrhundert zu berücksichtigen. Leider wurde auch die Möglichkeit zur Verknüpfung der historischen Fallbeispiele mit aktuellen, in der Migrationsforschung diskutierten Phänomenen nicht genutzt. Durch entsprechende Beiträge zur „neuen Dienstmädchenfrage“ oder Bildungs- und Fluchtmigration hätten Parallelen zu den Beiträgen von Kallenberg, Dadej und Scholz gezogen werden können, die gleichsam auf neue Herausforderungen für die Integrations- und Migrationsarbeit hingewiesen hätten.

Insgesamt zeigt sich, dass es bei der Analyse historischer Fallbeispiele gut gelingt, Migration und Geschlecht in ihrer Verschränkung (auch mit anderen Kategorien) zu berücksichtigen, dass aber bis dato weitgehend offen ist – was nicht nur für den vorliegende Sammelband gilt –, wie eine solche Perspektive sowohl in aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen als auch in Integrationsinitiativen konsequent unter Berücksichtigung der Heterogenität auch innerhalb der unterschiedlichen Migrationsgruppen verfolgt werden kann.

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