F. Bajohr u.a. (Hrsg.): Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“

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Titel
Fremde Blicke auf das „Dritte Reich“. Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933-1945


Herausgeber
Bajohr, Frank; Strupp, Christoph
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 49
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Schulz, Verlag Der Tagesspiegel GmbH

Kaum etwas fällt schwerer, als Geschichte zu beobachten und zu beurteilen in dem Moment, da sie sich ereignet. Sind die wahrgenommenen Ereignisse überhaupt Teil dessen, was im Rückblick „Geschichte“ genannt zu werden verdient – oder doch nur Begleitmusik, bisweilen vielleicht lauter, aber eben doch nur: begleitend?

Mit diesen Fragen muss sich beschäftigen, wer Augenzeugenberichte aus dem „Dritten Reich“ zur Hand nimmt. Was konnte, was musste man sehen – und was blieb auch dem scharfsichtigsten Zeitgenossen womöglich verborgen? Die Berichte ausländischer Diplomaten zählen schon von ihrem Charakter als Dienstpost her zu den bedeutendsten Quellen. Diplomaten haben gelernt, Fakten und Fiktionen zu unterscheiden, sie verfügen über Primärquellen in Gestalt hochrangiger Gesprächspartner, sie haben aufgrund ihres Rechtsstatus’ sehr oft die Möglichkeit, auch offiziell missliebige oder gar gefährdete Personen zu kontaktieren. Es war jedoch – mit den Worten André Francois-Poncets, des französischen Botschafters in der Nazizeit – „weniger ein Problem, Informationen zu sammeln, als unter denen, die uns reichlich zugetragen wurden, Wahres vom Falschen zu unterscheiden“.

Die Depeschen aus der Reichshauptstadt Berlin und aus der Vielzahl von Städten mit konsularischen Vertretungen sind solche erstrangigen Quellen, die freigelegt zu haben das allererste Verdienst von Frank Bajohr und Christoph Strupp bildet. Man muss nur, beispielsweise, den Bericht des konsularische Geschäftsträgers Italiens vom 5. August 1943 aufschlagen, also kurz vor dem sich bereits ankündigenden Ausscheiden Italiens aus dem Kriegsbündnis mit Hitlerdeutschland. Darin schildert der Geschäftsträger Cossato die Folgen des Goebbelsschen Aufrufs an Frauen, Kinder und Alte, Berlin zu verlassen. „Die bereits durch Nachrichten von den Schrecken der Zerstörung Hamburgs erschütterte Bevölkerung ging von einem unmittelbar bevorstehenden feindlichen Angriff aus und wurde von Panik ergriffen. Es gab Unzählige, die nur mit Handgepäck ausgestattet die Bahnhöfe stürmten […] Der erlittene Schock ist groß in einer Metropole wie Berlin, die heute circa fünf Millionen Einwohner hat.“ (Dok. 238, S. 576) Im Buch schließt sich unmittelbar der Bericht des Schweizer Konsuls in Köln vom 5. Oktober 1943 an: „Wer heute durch Deutschland herumfährt, gewinnt den Eindruck, dass sich eine Art Völkerwanderung abspielt, die durch die Luftangriffe ausgelöst ist. Neuerdings sind auch schon Anfänge einer Fluchtbewegung vor einer russischen Invasion zu beobachten.“ Und dann, in bemerkenswerter Klarheit: „Die Erklärung Churchills [sc. über die Vernichtung des preußischen Militarismus] wird darauf hin gedeutet, dass im Falle vorübergehender Besetzung nach Kriegsende vielleicht ganz Ostelbien den Russen als Besatzungszone überlassen wird.“ Und noch weiter: „Zur Behandlung der Judenfrage sickert immer mehr durch, dass die evakuierten Juden restlos umgebracht worden sind. […] Sämtliche Güter von Juden sind zur Dotation an Feldmarschälle benutzt worden.“ (Dok. 239, S. 577) Es folgen konkrete Angaben zu den Marschällen Milch, von Kleist und von Kluge, allesamt herausragende Offiziere der Eroberungsfeldzüge Hitlers.

Beim Schweizer Generalkonsul in München, Hans Zurlinden, findet man im März 1944 bereits in nuce die Sonderwegshypothese, die die westdeutsche Geschichtswissenschaft jahrzehntelang leiten sollte, „wie es denn zu verstehen sei, das ein großes und begabtes Volk sich solches [sc. den Entzug der Menschenrechte] gefallen lässt und die Vermutung entsteht, dass solches wahrscheinlich nur beim deutschen Volke und bei keinem anderen möglich sei.“ In ausdrücklichem Bezug auf Jacob Burckhardt schreibt Zurlinden, es sei „zweifellos festzustellen, dass sich die deutsche Nation seit 1870 bewusst und entschieden zum Militarismus hingewendet hat und damit einen steten Rückgang seines kulturellen Niveaus, seiner einstigen moralischen, geistigen und künstlerischen Höhe in Kauf nahm“ (Dok. 240, S. 578f.). Mit dem eher prosaischen Bericht des zitierten Konsuls in Köln vom 10. Mai 1944, also noch genau ein Jahr vor Kriegsende, über die Kriegsmüdigkeit der deutschen Soldaten und ihre offen artikulierte Verachtung für die NS-Partei, den Staat und die Militärs schließt die Dokumentensammlung des Buches (Dok. 241, S. 580).

Die erste Hälfte des Bandes ist jedoch zehn Beiträgen vorbehalten, die die Berichte gesondert nach Staaten auswerten. Neben den Mächten der Versailler Ordnung sowie den Nachbarstaaten des Deutsche Reiches, dazu den „Achsenmächten“ Italien und Japan kommen so auch Argentinien und, of all places, Costa Rica in den Blick. Gespannt ist man auf den Beitrag von Tasushi Hirsano über die japanischen Konsulatsberichte, doch fällt das Fazit so schmallippig aus wie wohl die Berichte selbst: „Als mit Deutschland befreundetes Land war man stets darauf bedacht, die Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland nicht zu trüben.“ (S. 303) Schade, dass keine Zeugnisse sowjetischer Diplomaten vorliegen, zumal aus der kurzen Blütezeit gemeinsamer Kriegsinteressen zwischen August 1939 und dem deutschen Einmarsch im Juni 1941. Immerhin wurde die antibolschewistische Propaganda um 180 Grad gedreht, erschienen wohlwollende Bücher über die Sowjetunion, wurden sogar organisierte Reisen beworben und durchgeführt. Doch dieses Kapitel der deutsch-sowjetischen Beziehungen muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.

241 diplomatische Zeugnisse haben Bajohr und Strupp versammelt. Sie entstammen den jeweiligen nationalen Archiven und sind mit Ausnahme der angelsächsischen Berichte ins Deutsche übertragen worden. Das ist für die Zwecke einer solchen Dokumentation angemessen, und den Blick in die originalsprachlichen Texte mag tun, wer Feinheiten der Begriffsbildung aufspüren will. Denn natürlich geht es auch um Feinheiten, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Juden zur Sprache kommen und die Reaktionen der deutschen Bevölkerung, wie sie insbesondere nach den Pogromen der so genannten „Reichskristallnacht“ breiten Raum in den Berichten einnehmen. Die Berichte unterstreichen, was stets bekannt, in den jüngeren Publikationen etwa zur Verstrickung der Deutschen in das materielle Belohnungssystem der Nazis oder gar zum „exterminatorischen“ Antisemitismus indes ausgeblendet worden ist: dass, wie der US-Generalkonsul von Stuttgart am 12. November 1938 schreibt, „the vast majority of the non-Jewish German population, perhaps as much as 80 per cent, has given evidence or complete disagreement with these violent demonstrations against the Jews. Many people, in fact, are banging their heads with shame.“ Dass die Gewaltaktion „was planned and in practically no way spontaneous as the German press would like to have everyone believe“, gehört gleichfalls zu den Beobachtungen, die Generalkonsul Samuel Honaker jedenfalls aus dem bürgerlichen Milieu Stuttgarts zusammengetragen hat (Dok. 165, S. 505). Der polnische Generalkonsul in Leipzig, Feliks Czieczeweki, schickte einen ähnlichen Bericht, in dem es heißt: „In der Leipziger Bevölkerung gab es nicht nur keine ,spontane‘ Begeisterung für die jüngsten antijüdischen Maßnahmen, sondern man beobachtet im Gegenteil äußerste Bedrücktheit und eine gewisse Scham.“ Über Anlass und Motor der Pogrome gibt es keinen Zweifel: „Weite Parteikreise bereichern sich am beschlagnahmten jüdischen Besitz.“ (Dok. 175, S. 516). Und auch der italienische Generalkonsul in der „Hauptstadt der Bewegung“ berichtet, „dass in der Münchner öffentlichen Meinung sich diesmal eine außerordentliche Mehrheit derjenigen abgezeichnet hat, welche die Form der Gewalt dezidiert ablehnt, in der sich die Manifestationen des 9. November gegenüber den Juden abgespielt haben.“ Weiter schreibt Francesco Pittalis: „Es gibt keine gesellschaftlichen Klassen, von den einfachsten bis hin zu den vornehmsten, in der die Zerstörungen und die Plünderung von Waren sowie die Gewaltakte gegenüber Personen nicht äußerst lebhaft beklagt worden sind.“ Und verblüfft liest man: „Das gilt sogar für Parteikreise.“ (Dok. 176, S. 517)

Andererseits macht Frank Bajohr in seiner Einleitung darauf aufmerksam, „dass die Ablehnung offener Gewalt gegenüber Juden keineswegs bedeutete, die antijüdische Politik als solche abzulehnen“ (S. 33). Gewiss, „die Kritik an der gewalttätigen Praxis der Judenverfolgung sollte nicht jenen anti-jüdischen Konsens verdecken, der sich nach sechsjähriger Herrschaft des Nationalsozialismus herausgebildet hatte, demzufolge Juden keine Deutschen waren und das Land möglichst vollständig verlassen sollten“ (ebda.). Die weitere Entwicklung zum Holocaust, so Bajohr, könne „schwerlich mit einem ,eliminatorischen‘ Antisemitismus der Bevölkerung erklärt werden. Nicht die anti-jüdische Politik als solche, aber der Massenmord markierte eine Bruchstelle im gesellschaftlichen Konsens“ (S. 34).

Bajohr beklagt das weitgehende Fehlen von Informationen über die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die zunehmenden Berichte über Massenmorde – bereits im Juni 1942 war das Wort „vergast“ offenbar weithin verbreitet (Bajohr, S. 34) –, hat aber die Antwort im Grunde in seinen Dokumenten zur Hand. Nach dem Tausend-Bomber-Angriff der RAF auf Köln in der Nacht auf Sonntag, den 31. Mai 1942 habe die Bevölkerung die Nerven „vollkommen verloren“, teilt der Schweizer Diplomat Franz-Rudolf von Weiss mit: „Gleichgültigkeit, Apathie, vollständige Mutlosigkeit und Verzweiflung sind die Merkmale, die die Kölner nach dem fürchterlichen Luftangriff […] zeigen.“ (Dok. 230, S. 564f.) Die Angst ums eigene Überleben verdrängt von nun an alle anderen Sorgen und Gedanken. Sie verdrängt aber zugleich die prononcierte Aneignung nationalsozialistischer Parolen, die in den erfolgsumglänzten Anfangsjahren des Regimes zu beobachten war, das, was Bajohr den „anti-liberalen Konsens“ nennt.

Als Erkenntnisgewinn aus den Diplomatendepeschen macht Bajohr aus, dass sie „sich durchaus signifikant von den Meldungen des NS-Regimes oder den sozialistischen Exilberichten unterschieden“ (S. 36): Gewalt und Repression werden weder, wie in ersteren, verschwiegen noch, wie in letzteren, überbetont. „Die diplomatischen Berichte bieten demgegenüber eine deutlich ausbalanciertere Perspektive.“ (S. 37) Damit richten sie „den Blick auf die ständige, dynamische Transformation nationalsozialistischer Herrschaft“ (ebda.). Zwölf Jahre genügten schließlich, Deutschland aus der Depression der Weltwirtschaftskrise ins trügerische Glücksgefühl von Wachstum und Weltmacht zu führen und im selben Zug ins Elend vollständiger Zerstörung und die Hölle der moralischen Katastrophe.

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