M. Wedel: Filmgeschichte als Krisengeschichte

Cover
Titel
Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film


Autor(en)
Wedel, Michael
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burkhard Röwekamp, Institut für Medienwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

In seiner Publikation „Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film“ liefert Michael Wedel ein grandioses Panorama gegenwärtiger film- und medienhistorischer Bestandsaufnahmen und Perspektiven im Sinne der New Film History. Hier zeigt sich zugleich, dass der Blick in die Geschichte des Mediums Film durchaus von Nutzen auch für kultur- und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen sein kann. Mit Blick auf die für das bisherige Verständnis filmischer Wahrnehmungszusammenhänge geradezu krisenhaft wirkende Digitalisierung begreift Wedel „die Funktion des Films als mediale Form, gesellschaftliche Institution, kulturelles Dispositiv und ästhetisches Objekt als immer schon kritische und krisenhafte“ (S. 10). Zugleich ist für Wedel „die Hinwendung [in der Geschichtsschreibung] zur Krisenmetapher als Reaktion auf die Beobachtung gegenwärtiger Veränderungsprozesse ein nur zu bekannter Reflex“ (ebd.). Krisensymptomatiken dienen letztlich also auch als Motoren der Wissensproduktion – der Digitalisierung sei in diesem Fall besonderer Dank!

Auf welch unterschiedliche Art und Weise sich Krisensymptome auch filmhistorisch niedergeschlagen haben und sich als Ausweis kultureller Transformationsprozesse in historischen Zusammenhängen verstehen lassen, zeigt Wedel anhand von Brüchen und Verwerfungen in der deutschen Filmgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart. Auch wenn die Heterogenität und Vielgestaltigkeit der chronologisch geordneten Beobachtungsgegenstände anfangs noch irritierend heterogen wirkt (TITANIC – IN NACHT UND EIS, filmischer Expressionismus, Albert Bassermann, Asta Nielsen, Genrefiguren/Richard Oswald, IM WESTEN NICHTS NEUES, FRAUEN SIND KEINE ENGEL/Willi Forst, FELIX KRULL/Kurt Hoffmann, DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE/LE MÉPRIS, Curt Bois, Animationsfilmtheorie in Ost und West, Deutsche Film AG [DEFA]/Konrad Wolff, Neuer Deutscher Film, Tom Tykwer/transnationale Ästhetik), erweist sich gerade dieser Zugriff auf unterschiedliche ästhetische Materialitäten und historische Ausformungen der Filmgeschichte als größter Vorzug des Zugangs. Auf luzide Weise verbinden die Ausarbeitungen mühelos historische Produktionsbedingungen, theoretische Positionen mit der medienanalytischen Arbeit am konkreten ästhetischen Material. Der historisierende Blick folgt dabei nicht der üblichen Geschichtsschreibung, in der ästhetische Entwicklungen realhistorischen lediglich zu folgen scheinen, sondern konturiert die multiplen und vielfach subtilen Austauschprozesse zwischen Medium, Produktion, Kultur und Ästhetik an den Oberflächen des Medial-Filmischen selbst: „Nicht wie die ästhetische Produktion eines Films (oder einer Gruppe von Filmen) zur Geschichte sich verhält, sondern wie sie in der Geschichte steht und diese eigene Geschichtlichkeit ästhetisch verhandelt, ist die gemeinsame Ausgangsfrage aller Kapitel dieses Buches.“ (S. 13)

Die sechs thematisch gruppierten Abschnitte sind mit „Kino/Ereignis“, „Blick/Affekt“, „Ton/Körper“, „Blick/Spur“, „Innen/Außen“ und „Intervall“ überschrieben und umgreifen so zentrale wahrnehmungshistorische Aspekte des Filmischen. In insgesamt 14 Unterkapiteln werden die „Spuren der Geschichte in den Filmen selbst, den Widersprüchen und Spannungen ihrer ästhetischen Verfasstheit“ (S. 17) aufgesucht und vermessen. Unter der Überschrift „Kino/Ereignis“ wird im Zusammenhang des frühen „Kinos der Attraktionen“1 zuerst der deutsche Katastrophenfilm TITANIC – IN NACHT UND EIS (1912) mit Blick auf die mediale Inszenierungspraxis realhistorischer Ereignisse durchmustert. Dabei wird im Spannungsfeld zwischen zeitgenössischen Produktions- und Rezeptionszusammenhängen herausgearbeitet, wie sehr bereits in dieser Frühphase des seinerzeit neuartigen Massenmediums die realhistorische Wirklichkeit zur Medienrealität umgedeutet wird, wie sehr „[d]ie über ein Geschichtsereignis verbreiteten ‚Fakten‘ […] in der Medienberichterstattung als Funktion der ihm [medial; Burkhard Röwekamp] verliehenen Bedeutungen [erscheinen]“ (S. 41).

Anschließend befasst sich Wedel im Abschnitt „Blick/Affekt“ mit den Verschränkungen des deutschen filmischen Expressionismus und der zeitgenössischen Bildpraxis der Stereoskopie – mit Techniken also, die das ästhetische Potenzial des Mediums zur Produktion von Raumillusionen noch steigern helfen sollen, um tendenziell auch die Zweidimensionalität des filmischen Bildes zu überwinden: „Im Dreieck von Stereoskopie, plastisch-skulpturaler Kunst und frühem Filmstil als spezifischer kultureller Konfiguration rückt eine ganze Reihe zeitgenössischer Ideen und Experimente in den Blick, die sich in dieser Konstellation neu perspektivieren lassen.“ (S. 80) Vom Einzelfilm TITANIC über den Filmstil des expressionistischen Films wendet sich die Untersuchung danach zwei filmhistorischen Figuren im Zusammenhang der Ästhetisierung psychisch-seelischer Befindlichkeiten zu: Ausdrucksformen männlicher Melodramatik im Weimarer Kino am Beispiel des Theater- und Filmschauspielers Albert Bassermann sowie die affektive Bedeutung des Gesichts im Spannungsfeld von künstlerischem (Ausdrucks-)Vermögen und technischer Inszenierbarkeit, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit am Beispiel Asta Nielsens.

Im folgenden Abschnitt „Ton/Körper“ wird am Beispiel des Filmregisseurs und Drehbuchautors Richard Oswald erläutert, wie wenig sich dessen filmische Praxis durch den aufkommenden Tonfilm habe irritieren lassen, ja wie sehr Oswald die neuen ästhetisch-technischen Möglichkeiten des Filmtons begrüßte und in sein Œuvre zu integrieren verstand. Inwiefern die Einführung des Tonfilms mit Blick auf jetzt nötig werdende unterschiedliche Sprachfassungen eine brisante kulturpolitische Wahrnehmungskrise befeuern half, demonstriert Wedel anhand der problematischen öffentlichen Rezeption der Synchronisation eines Prototypen der Antikriegsfilmpraxis, IM WESTEN NICHTS NEUES (USA 1930). Schließlich finden sich selbst zum Beispiel in der weithin unbeachteten Komödie FRAUEN SIND KEINE ENGEL (Deutschland 1942) des Regisseurs Willi Forst modernistische Formen wie „[o]ffene Kompositionsweisen und reflexive Verfahren“ (S. 221) wieder. Dies verweist inmitten des Zweiten Weltkriegs überraschend auf Kontinuitäten modernistischer Filmpraxen und nicht auf einen vermuteten krisenhaften Bruch durch die Zäsur des Zweiten Weltkriegs.

Dem Komplex „Blick/Spur“ ordnet Wedel Kurt Hoffmanns Verfilmung des unvollendeten Thomas-Mann-Romans ‚Felix Krull‘ zu. Hierbei handelt es sich um ein Vexierspiel, das aufgrund seiner experimentellen Inszenierung – und unabhängig von der unmittelbar beteiligten Erika Mann als „genealogisch-physiognomisch verbürgte Spur des Schriftstellers“ (S. 229) am Drehort – „den eigenen Bezug zur literarischen Vorlage konsequent zu ironisieren und in die entsprechenden filmischen Formen zu überführen“ versucht (S. 244). Eine Spurensuche der besonderen Art findet sich auch in der anschließenden Zusammenschau zweier auf den ersten Blick unvereinbarer Filme, DIE 1000 AUGEN DES DOKTOR MABUSE und LE MÉPRIS, die nicht nur durch Fritz Lang – Regisseur hier, Akteur dort – verbunden sind: „Auf je unterschiedliche und dennoch, so die These, komplementäre Weise entwirft DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE nicht weniger konzise als LE MÉPRIS die Welt des Kinos als jenen Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart durchdringen.“ (S. 253) Im Anschluss an Thomas Elsaessers Konzept des „historischen Imaginären“ (S. 254f.) wird der imaginäre Kern beider Produktionen in der Rückwendung zum Kino(mythos) als mögliche Form des Neubeginns infolge des Zweiten Weltkriegs verortet, über dem zugleich dessen „Katastrophenschatten“ (S. 272) erkennbar wird. Auch in der Biografie des Schauspielers Curt Bois, so die anschießenden Überlegungen, sind es die krisenhaften „historischen Brüche und Verwerfungen“ (S. 273), welche die Einheit suggerierende Rede vom Lebenswerk unterminieren und Geschichte nur in Spuren erkennbar werden lassen: „mit einem stummen Blick oder einer kleinen Geste“ (S. 304).

Der deutsch-deutschen Filmgeschichte widmen sich unter dem Titel „Innen/Aussen“ in der Folge zwei Kapitel: Zunächst werden in einer vergleichenden Bestandsaufnahme von Animationsfilmtheorien in BRD und DDR die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, die sich in der Theorie jeweils mit dem Animationsfilm verbinden, im Zeitraum von 1950-1975 erläutert. In einem weiteren Kapitel widmet sich Wedel dann (zusammen mit Thomas Elsaesser) der DEFA-Filmproduktion anhand ausgewählter Filme des Regisseurs Konrad Wolf im Kontext der internationalen Filmgeschichte. Der genaue Blick auf rezeptionsgeschichtliche Bedingungen, die Produktionspraxis sowie auf Genres und Darstellungskonventionen, ja auch die Internationalität der DEFA-Filmproduktion – so das Plädoyer für eine integrative Betrachtung der deutschen Filmgeschichte – würde es insbesondere hinsichtlich unterschiedlicher Perspektivierungen filmischer Geschichtsbilder „gestatten, die überschaubaren und scheinbar unvermeidlichen ideologischen Binaritäten einmal beiseite zu lassen“ (S. 329f.). Von hier aus ist es nur ein kurzer (geschichtlicher) Weg zum Neuen Deutschen Film, dem sich das folgende Kapitel widmet. Wie sich die im Neuen Deutschen Filme zu beobachtende Aufwertung des Dokumentarischen gegenüber dem Fiktionalen (die in hohem Maße zugleich auf eine Aufwertung der Erfahrung des Zuschauers in der filmischen Konzeption hinausläuft) in unterschiedlicher Weise ästhetisch vermittelt bzw. welche wahrnehmungsästhetischen Strategien hier einen veränderten filmischen Zugang zur Welt und Geschichte ermöglichen, wird beispielhaft anhand der Werke von Hans-Jürgen Syberberg, Alexander Kluge, Edgar Reitz und Hartmut Bitomsky aufgezeigt.

In der Gegenwart angekommen, widmet sich ein abschließendes Kapitel unter dem Begriff „Intervall“ exemplarisch dem Œuvre des Regisseurs Tom Tykwer und ermittelt hier aktuelle Tendenzen zur Entwicklung einer „transnationale[n] Ästhetik“ (S. 393). Entgegen der vielfach geäußerten Kritik an einem vermeintlichen Ausverkauf der Tykwerschen Ästhetik an die Filmgroßproduktionen weist Wedel darauf hin, dass die Geschichts-Bilder dieser aktuellen ästhetischen Praxis schließlich in den Bildern der Geschichte gründen und kaum noch: in der Realgeschichte. Doch auch in diesem transnationalen Kino des Übergangs vermittle sich ein krisenhaftes Geschichtsbild, das im sinnlichen Übermaß „nicht zufällig bevorzugt eben von Erfahrungen des Ichverlusts und verstellten Weltzugängen“ (S. 398) handele.

Wedels „kulturhistorische Studien zur Problematik ästhetischen Wandels in der deutschen Filmgeschichte“ (S. 18) überzeugen vor allem durch die erkenntnistheoretische Offenheit des medienkulturhistorischen Ansatzes, Krisengeschichte(n) aus kontextuell breit abgesicherten Analysen (film)ästhetischer Formen heraus auf ebenso elegante wie bedachte Weise sicht- und verstehbar werden zu lassen. Die Überlegung, Medien- und Filmgeschichte als sich wandelndes und überlagerndes Zusammenspiel medialer, kultureller und ästhetischer Praxen zu konzipieren, in dem das Filmästhetische sich zur geschichtlichen Wahrnehmungsstruktur und zur Wahrnehmungsstruktur von Geschichte verdichtet, erweist sich als äußerst produktiv. Und so sehr ein solches Unternehmen selbstredend noch nicht abgeschlossen sein kann – so wie dann folgerichtig auch ein Fazit entfällt, weil es gemäß der Vorgaben schlechterdings gar nicht gezogen werden kann –, so sehr lässt sich der vorliegende Band als Aufforderung verstehen, wissenschaftliche Forschungsperspektiven in einem solchen, übergreifend modellierten Sinne voranzutreiben und sich der Mediengeschichtsschreibung als multipel vernetzte und vielschichtige ästhetische Wahrnehmungsgeschichte anzunehmen.

Anmerkung:
1 Tom Gunning, Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde, in: Meteor 4 (1996), S. 25-35.

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