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Titel
Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte


Autor(en)
Radkau, Joachim
Erschienen
München 2011: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
782 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Arndt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ob es sich hier nicht um eine „unmögliche Geschichte“ handle, fragt Joachim Radkau auf der ersten Seite seines neuen Buches. Auf den folgenden 774 Seiten beweist er auf beeindruckende Weise, dass es sehr wohl möglich ist, eine globale Geschichte des environmentalism (oder in der nicht so glücklichen Übersetzung: des „Ökologismus“) zu schreiben, indem er mehrere globale wie nationale und lokale Geschichten nebeneinander stellt und deren wechselseitige Beeinflussung aufzeigt. Im Zentrum dieser Geschichten steht die Entwicklung der Umweltbewegungen und ihrer Vorläufer vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dabei nähert sich Radkau den sozialen Bewegungen durch eine Untersuchung ihrer inneren „Bewegungen“, also der Motive und Wahrnehmungen von Gruppen, die sich zunehmend über Nationalstaats- und Systemgrenzen hinweg ausbreiteten. Erklärtes Ziel ist eine Darstellung der ökologischen Bewegungen in all ihren Widersprüchen und im globalen Kontext. Radkau verwirklicht damit, was von der aktuellen Zeitgeschichtsforschung eingefordert und von der Umweltgeschichte immer wieder beansprucht, aber nur in Ausnahmefällen tatsächlich umgesetzt wird.

Umweltbewegungen sind für Radkau zur „Signatur einer Ära“ (S. 7) geworden. Dabei dreht sich das Werk immer wieder um Ankerpunkte für Zäsuren innerhalb dieser Ära. Besonders anschaulich werden sie durch drei seitenlange tabellarische „Zeitfenster“, die über das Buch verteilt sind. Diese Datenreihen bestechen durch die massenhafte Anhäufung von Ereignissen um 1900, 1970 und 1990, die die Annahme von Wendepunkten in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung von „Umwelt“ zu rechtfertigen scheinen. Das Buch ist in vier Hauptkapitel aufgeteilt, wobei das vierte Kapitel über „Die großen Dramen der Umweltbewegung“ seit den 1970er-Jahren mehr als zwei Drittel des gesamten Textteils ausmacht.

Im ersten Kapitel begibt sich Radkau auf „Spurensuche im Öko-Dschungel“ und erörtert die eingeschränkten Herangehensweisen anderer Disziplinen an das Thema Umweltschutz. Die Chance des historischen Zugriffes sieht er darin, über die Analyse einzelner Umweltorganisationen und das Beschreiben von Momentaufnahmen hinaus mittels einer longue-durée-Perspektive die Bewegungen in die historischen Kontexte zu stellen und sich nicht ausschließlich auf umweltpolitische Ziele zu konzentrieren. Sehr oft verstecke sich „Umwelt“ unter anders benannten Phänomenen und verknüpfe sich mit einer Reihe von anderen (oder anders lautenden) Zielen, beispielsweise lokalen Autonomiebestrebungen oder sozialen Fragen. Radkau warnt deshalb davor, anhand einfacher Parameter „wahre“ Umweltbewegung von „unechter“ unterscheiden zu wollen (S. 23).

Die „Umweltbewegungen vor der Umweltbewegung“ stehen im Mittelpunkt des zwei Jahrhunderte umfassenden Querschnitts durch das Wurzelgeflecht des modernen Umweltengagements im zweiten Kapitel. Ausgehend vom Naturkult der Romantik über die Angst vor der Holznot und den Mangel an einer großen „grünen“ Allianz im 18. Jahrhundert zeichnet Radkau zunächst verschiedene Linien zur „langen Jahrhundertwende“ vom 19. zum 20. Jahrhundert nach, die er als „Sattelzeit hin zur ökologischen Moderne in den meisten Industriestaaten jener Zeit“ erkennt (S. 58).

Das dritte Kapitel widmet sich ganz der nicht nur in der Umweltgeschichte viel diskutierten 1970er-Zäsur. Radkau kommt zu dem Schluss, dass es „grundfalsch“ sei, „diese Wende zu bagatellisieren“ (S. 135). Er versteht sie als „ökologische Revolution“, auch wenn die Suche nach den Kausalzusammenhängen schließlich vor allem zu einem führe: einem „Riesenknäuel von Problemen“ (S. 163). In diesem „höchst heterogenen“ Bündel liefen verschiedene Bestrebungen und Entwicklungen zusammen, die sich zunehmend miteinander verknüpften. Am Ende der Ära der Weltkriege, als die Fronten des Kalten Krieges ebenso zu bröckeln begannen wie die glänzenden Fassaden des welthistorisch einmaligen Wachstums seit den 1950er-Jahren, konnten allgemeine Menschheitsprobleme in den Vordergrund rücken. Die Folgen des ökonomischen und demographischen Wachstums, insbesondere die Zunahme von Emissionen durch die Verbrennung fossiler Energieträger, die schon Christian Pfister als „1950er-Syndrom“ beschrieb1, finden sich als Erklärungsansätze auch bei Radkau. Sie werden jedoch verflochten mit Phänomenen wie einem gesellschaftlichen Stimmungsumschwung, der zunehmenden Bedeutung von anthropozentrischer „Lebensqualität“ oder Krebsangst. Auffällig ist, dass die Rolle der Ölkrisen in diesem Prozess wenn überhaupt, dann nur am Rande der Darstellung auftaucht.

Im vierten Kapitel fächert Radkau vier große Konfliktlinien oder „Dramen“ der Umweltbewegungen auf. Zuerst widmet er sich dem „ewigen Wechselspiel zwischen vernetztem Denken und praktischer Priorität“ (S. 165). Anhand verschiedener Leitmotive (Verkehr, Energie, Wald, Chemie) und nationaler Fallbeispiele zeigt er, dass die Ökologie entgegen vieler Verlautbarungen keinen eindeutigen konkreten Handlungsimperativ bereithält. Diese Ambiguität, die nationalen und regionalen Differenzen in der Setzung von oft heterogenen und zeitlich bedingten Imperativen, bezeichnet Radkau als „Ökologie des Ökologismus“ (S. 69). Im zweiten „Drama“ stehen die Akteure im Vordergrund. Mit Hilfe des Weberschen Charisma-Konzeptes entschlüsselt Radkau die Verbindung von Interessen der Selbsterhaltung mit selbstlosen, teils spirituellen Motiven. Als „Inkarnationen weltweiter Spannungsfelder der Umweltbewegung“ stellt er zwölf mehr oder weniger charismatische Umweltaktivistinnen vor. Dabei reicht seine Revue von bekannten Öko-Ikonen wie Petra Kelly und Rachel Carson über umstrittene Außenseiterinnen wie die „Gorillafreundin und Menschenfeindin“ Diane Fossey (S. 308) bis hin zu der eher unscheinbar im Staatsapparat agierenden chinesischen Wasserkraftexpertin Dai Qing. Immer wieder geht Radkau auch auf das Spannungsfeld von Staat, Zivilgesellschaft und Graswurzel-Initiativen ein. Erst eine Zusammenschau aller drei Ebenen könne ein vollständiges Bild der Umweltbewegung ergeben. Initiativen „von unten“ und „Top-Down“-Impulse lediglich als kämpferische Gegenpole darzustellen, würde das Feld unnötig normativ beschneiden, so Radkau.

Um den Kampf zwischen den verschiedenen Ebenen geht es auch im dritten „Drama“, wenn der Autor nach Mustern und Zeitgebundenheiten von Freund-Feind-Konstellationen in den Umweltbewegungen fragt. Dabei macht er auf die im Vergleich zu anderen Großbewegungen überwiegende Gewaltlosigkeit der Umweltbewegungen aufmerksam. Bevor sich Radkau dem vierten Spannungsfeld zuwendet, schiebt er eine weitere Zeitenwende ein, die „Umweltkonjunktur von Tschernobyl bis Rio, 1986-1992“, die er auch eine „neue Ära der Ökologie“ (S. 506) nennt. Der „Tschernobyl-Effekt“ löste eine Reihe von weltweiten Kettenreaktionen in der aufbrechenden internationalen Blockkonstellation aus, die Radkaus Aufmerksamkeit endlich auch auf den Osten Europas, zumindest die Sowjetunion und die DDR, lenken. Neue Demokratisierungsbewegungen, die einhergingen mit einer weit reichenden „NGOisierung“ (S. 502), (re-)aktivierten nicht nur die Anti-Atomkraft-Bewegungen, sondern schufen gleichzeitig auch neue Situationen für den Umweltschutz insgesamt. Zeitgleich und dennoch in keiner direkten Verbindung setzte der erste große Global-Warming-Alarm ein, der allerdings wiederum von den Risiken der Kernkraft ablenkte. Im Vergleich zur „ökologischen Erweckung“ um 1970 (S. 500) war es laut Radkau nun die ökologische Kommunikation, die nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Aufteilung (und in gewisser Hinsicht auch der Nord-Süd-Aufteilung) das politische und ideologische Vakuum füllen konnte und im Klimaschutz ein grenzüberschreitendes, gemeinsames Leitmotiv fand.

Die paradoxale Spannung, die sich hinter der Formel „Global denken – lokal handeln“ verbirgt, dechiffriert Radkau im letzten Unterkapitel. Auch in einer Ära scheinbar globaler Umweltpolitik komme es letztlich auf nationale und regionale Umweltinitiativen an. Davon, so Radkau, lebe die Umweltpolitik weitaus mehr als von Impulsen der „Weltgesellschaft“, deren Existenz er im Gegensatz zur globalen ökologischen Kommunikation prinzipiell anzweifelt. Allerdings greife es auch zu kurz, die Dynamik und integrative Kraft, die von der Globalisierung für die Umweltbewegung ausgehen, zu bagatellisieren.

Radkau konstatiert, dass keine der großen Bewegungen der neuen Geschichte über so wenig Geschichtsbewusstsein verfüge wie die Umweltbewegung. Mit der „Ära der Ökologie“ hat er selbst nun eine autobiographisch beeinflusste, patchworkartige Geschichte der Umweltbewegungen in gewohnt saloppem Stil vorgelegt. Ein besonderes Verdienst ist, dass er den Bewegungen, deren Akteuren und insbesondere den oft weniger beachteten Akteurinnen Gestalt und Gesicht gibt und sich auf ihre bisweilen sehr widerspruchsvollen Geschichten einlässt. Auch wenn es sich nicht um eine „unmögliche Geschichte“ handelt, muss sie doch aufgrund der enormen Komplexität immer unvollständig bleiben. So kann beim vorliegenden Buch gefragt werden, ob die Spielregeln des Kalten Krieges angemessen berücksichtigt worden sind. Auch die Vernachlässigung Ostmitteleuropas ist zu bedauern. Insgesamt jedoch ist das Buch ein weiterer Beleg dafür, wie erkenntnisbereichernd es ist, an der Dezentralisierungstendenz in der Geschichtswissenschaft festzuhalten, indem nicht nur über den nationalen Tellerrand hinausgeblickt wird, sondern globale Kontexte tatsächlich ernst genommen werden.

Anmerkung:
1 Christian Pfister, Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern u.a. 1995.

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