Titel
Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik. Lebensgeschichtliche Erinnerungen


Autor(en)
Neumann, Vera
Erschienen
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 20,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Behrens, Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin

Die Erfahrungen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg, Kriegsgefangenschaft sowie Flucht und Vertreibung sind Themen, die in den letzten 15 Jahren in den bundesrepublikanischen Medien zunehmend diskutiert und immer wieder auch auto(biographisch) behandelt wurden. Aber auch im Rahmen von oral-history Projekten und der Biographieforschung sind in den letzten Jahren eine Reihe von Untersuchungen entstanden, die sich den Erfahrungen dieser Gruppen zuwenden. 1 Bei der genaueren Betrachtung dieser biographischen Zeugnisse stellt sich jedoch häufig heraus, wie sehr das eigentlich Belastende ausgeblendet wird, stereotype Verallgemeinerungen zur Ablenkung von eigentlich schmerzhaften Erinnerungen dienen. So besteht ein bis heute fortwirkendes Thematisierungstabu für bestimmte Erlebnisse der Kriegs und Nachkriegszeit.2 Dieses Erzähltabu verstärkt sich durch die unlösbare Verflechtung des Zweiten Weltkrieges mit dem Nationalsozialismus.

Die Historikerin Vera Neumann geht in ihrem Buch "Nicht der Rede wert" den Andeutungen und den unausgesprochenen Hinweisen auf Erlebtes und Erlittenes in lebensgeschichtlichen Erzählungen über Krieg- und Nachkriegszeit nach. Sie will in den Erzählungen über die Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahre in Westdeutschland Themenbereiche aufspüren, die Tabus und Umdeutungen enthalten. Gezeigt werden soll, inwieweit die Kriegserfahrungen und die seelischen und körperlichen Folgeerscheinungen "privatisiert" und ausschließlich als persönliches Schicksal wahrgenommen wurden und eine Bewältigung in den Familien erfolgte (15). Sie stellt die Frage nach den Deutungsmöglickeiten für das Erlebte und die Möglichkeiten einer öffentlichen Thematisierung.

Grundlage für die Arbeit von Neumann ist das Interviewmaterial des Anfang der achtziger Jahre unter Leitung von Lutz Niethammer durchgeführten Projekt "Lebensgeschichte und Sozialgeschichte im Ruhrgebiet 1930-1960" (LUSIR), das heute im Archiv für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen lagert. Dieses Material, das Neumann einer Sekundärauswertung unterzieht, wurde bereits im Rahmen der LUSIR Studie ausgewertet. Damals wurde jedoch - so Niethammer in seiner Einleitung zu dem Buch von Neumann - "zu wenig Aufmerksamkeit auf die Andeutungen des Unsagbaren" (19) gelegt. Die damaligen Interpretationen kritisiert er heute als zu "essayistisch, (...) zu wenig in den einzelnen Schritten regelhaft nachvollziehbar"(11).

Neumann traf aus dem umfangreichen Material eine Auswahl von 50 Interviews. Die Befragten, 33 Frauen und 17 Männer, die den Jahrgängen 1898 bis 1928 angehören, stammen größtenteils aus Arbeiter- und kleinen Angestelltenfamilien. Bis auf wenige Ausnahmen verhielten sich die Befragten in der Zeit des Nationalsozialismus konform. In allen für die Studie ausgewählten Interviews wurden Deprivations- und Überlastungsgefühle, Kriegsbeschädigungen, der Verlust von Angehörigen durch Krieg oder Vertreibung thematisiert.

Zur Interpretation der Interviews bedient sie sich des von Thomas Leithäuser und Birgit Volmberg unter Bezug auf die Konzepte von Alfred Lorenzer entwickelten tiefenhermeneutischen Interpretationsverfahrens 3, das es ermöglicht, die in dem Erzählten enthaltenen latenten Sinngehalte heraus zuarbeiten. Dabei wird davon ausgegangen, daß sprachliche Regeln nicht nur die Funktion der Verständigung haben, sondern auch der Abwehr und als eine Bewußtseinssperre gegen die Erkenntnis dienen. Insofern wird bei der Analyse der Interviews besonderes Augenmerk auf die sprachlichen Inkonsistenzen des Erzählten gelegt.

Neumann will damit auch der Tatsache Rechnung tragen, daß lebensgeschichtliche Erzählungen durch die Deutungs- und Orientierungsmuster der Befragten zum Zeitpunkt des Interviews geprägt sind. Die Strukturen der subjektiven Sinnkonstruktion stehen dabei ebenso wie die Verarbeitung der Erfahrungen im gesellschaftlichen Kontext. Ziel ihrer Arbeit ist es deshalb, die Erfahrungsschichten, die sich im Laufe der Jahre über die ursprünglichen Erlebnisse gelegt haben offenzulegen und sie auf ihren historischen Kontext zurück zu beziehen. Dabei geht es ihr weniger um die Konkretion des damaligen Erlebens als vielmehr um die Frage, welche Erfahrungssedimente aus der kollektiven Nachkriegsgeschichte in die Erinnerung der Einzelnen eingegangen sind und die Kriegserfahrungen und Folgen überlagern.

Anhand vier ausgewählter Biographien geht Neumann dieser "Überblendung individueller Erfahrungen" (33) nach und untersucht, für welche Bereiche in den Lebensgeschichten eine Sprache existiert, wie das Trauma oder die Beschädigung bzw. die daraus resultierenden Belastungen thematisiert werden. Sie macht sich auf die Suche nach verborgen bleibenden Erfahrungsanteilen, auf Verschiebungen in der Erinnerung und nach Distanzierungen im Erlebten. Eindrucksvoll dargestellt wird in den folgenden Fallanalysen das Fehlen einer Sprache für Schmerz- und Verlusterfahrungen, die Unaussprechlichkeit von in der Nachkriegszeit empfundenen Entwertungsgefühlen, die eigenen verpaßten Chancen und gerade bei Frauen das Gefühl einer Einengung durch die Familie. Deutlich wird das Bedürfnis nach stabilisierender Identifikation mit den gesellschaftlichen Werten der Nachkriegszeit, nach Anerkennung und Zugehörigkeit.

Wenig systematisch und nicht immer nachvollziehbar sind hingegen die Analysen von Neumann wenn es um die um die biographische Vorerfahrung der Befragten und damit auch um die Genese der in den Interviews deutlich werdenden Deutungsmuster geht. Ihr Anspruch, die Erfahrungen auf den historischen Kontext zurück zu beziehen erscheint mir ebenfalls nur teilweise gelungen. An verschiedenen Stellen wird zudem die Grenze des Materials deutlich. So werden die im Interview behandelten Themen maßgeblich durch die Interessen und das Verhalten der Interviewenden und deren Bereitschaft, sich auch auf problematische Erfahrungsbereiche einzulassen, mitbestimmt. Dieses Problem wird von Neumann jedoch in ihrer Gesamtanalyse vor dem Hintergrund der generativen Beziehung zwischen den Fragenden - die maßgeblich durch die 68er Bewegung beeinflußt waren - und den Befragten kritisch reflektiert.

Auf der Grundlage des insgesamt ausgewerteten Interviewmaterials arbeitet Neumann im Anschluß nochmals detaillierter die verschiedenen Aspekte biographischer Thematisierung bzw. Tabuisierung heraus. Sie fragt nach dem Zusammenhang von individuellen Sprechen und dem kulturell geprägten Umgang mit Verlust und Schmerz und beleuchtet die Funktion einer formelhaften Wiedergabe des Erlebten und von Erinnerungsstereotypen. Ein weiterer von Neumann behandelter Themenkomplex ist die in den Interviews immer wieder anklingende Verunsicherung und Entidealisierung bei Kriegsende, die schon von den Mitscherlichs in den 60er Jahren diagnostizierte "Unfähigkeit zu Trauern"4 und politische Apathie, verbunden mit einer positiven Bilanz der Wiederaufbaugesellschaft. "In vielen politischen Statements schwingt eine Unsicherheit über die 50er Jahre mit. Belastendes steht häufig unverbunden neben einer erfolgreichen Bilanz hinsichtlich des erreichten Wohlstands." (98)

Als zentrale Faktoren der Erinnerung geht sie auf die Aspekte Alter, Familie sowie Geschlecht ein und beleuchtet den kollektiv ansteigenden Wohlstand als Hintergrundfolie der von ihr untersuchten Lebensgeschichten.

Die Familie stellt in den Interviews nicht nur einen wichtigen Faktor dar, um Verlust und Schmerz überhaupt thematisieren zu können, sondern sie war auch ein Ort der Sinnstiftung an dem die Kriegsfolgen und erlebten Belastungen bewältigt werden mußten, ein wichtiger Faktor um sich zu konsolidieren und in der Nachkriegsgesellschaft zu placieren. Gerade in Erinnerungsgeschichten von Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen wurde hier "neben der erlebten Traumatisierung und dem erlittenen Verlust ein Stück 'Normalität' und Vertrautes aufrechterhalten." (104)

Dem Ort der Familie widmet sie sich dann auch in einem weiteren Kapitel ihrer Arbeit. Neumann beschreibt die in den Familien, vor allem von den Ehefrauen und Töchtern geleistete Versorgungsarbeit für Heimkehrer und Kriegsbeschädigte und die hohen Belastungen für die pflegenden Frauen. Als Quellenmaterial dienen ihr hierbei neben den Interviews vor allem auch Eingaben von Kriegsopfern bzw. deren Familien an die Ministerialbürokratie. Anhand versorgungsrechtlicher Richtlinien wird deutlich, wie gerade die psychischen Folgen der Beschädigung nicht anerkannt und die Erkrankten zum Teil als Simulanten diffamiert wurden.

Deutlich werden die geschlechtsspezifischen Paradigmen der Versorgung im folgenden Abschnitt, in dem sich die Autorin der Kriegsopferversorgung in der frühen Bundesrepublik zuwendet. Steht auf der einen Seite die hohe Bedeutung der Arbeit für die Wiedereingliederung der Beschädigten verbunden mit einer gesellschaftlichen Restauration der Rolle des männlichen Familienernährers wird gleichzeitig die materielle Abhängigkeit von Frauen festgeschrieben. Aus den subjektiven Quellen läßt sich jedoch erschließen, wie sehr sich diese Vorgaben häufig an der Realität brachen. Aufgrund der geringen Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz waren die Betroffenen auf ein Zusatzeinkommen angewiesen, wobei nicht selten auf das Arbeitseinkommen der Ehefrau zurückgegriffen werden mußte. So beschreibt Neumann die Kriegsopferversorgung als Teil einer politischen Bewältigungsstrategie der Kriegsfolgen, bei der das familiäre Potential mit einbezogen wurde. Die von den Frauen in den Familien geleistete Arbeit blieb dabei unsichtbar. In der Privatisierung der Kriegsfolgen und der in den Familien und für die Familien geleisteten Arbeit von Frauen sieht sie einen wichtigen Faktor des "Wirtschaftswunders" und "eine der wesentlichen Gründungsbedingungen der Bundesrepublik." (167)

Bei der Arbeit von Neumann handelt es sich insgesamt um eine sehr anregende Untersuchung. Deutlich wird, wie wenig öffentliche Beachtung das individuelle Schicksal der Kriegsopfer und ihrer Familien jenseits einer politischen Rhetorik fand. Eine stärkere Fokussierung auf den Kreis der Kriegsopfer auch im ersten Teil ihrer Arbeit, der sich auf die Bedingungen biographischer Erinnerung bezieht, hätte sicherlich zu mehr Stringenz in ihrer Arbeit beigetragen. So stehen die beiden Teile teilweise merkwürdig unverbunden nebeneinander.

Mit ihrer Betrachtung der Versorgung der Kriegsopfer und der in den Familien geleisteten Arbeit zur Bewältigung der Kriegsfolgen widmet sich Neumann einem Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, das bis heute nicht systematisch erforscht worden ist. Ihre Arbeit liefert hierbei sicherlich keine endgültigen Antworten, sondern wirft eine Reihe interessanter weiterer Fragen für zukünftige Forschungen auf. Die von Lutz Niethammer in der Einleitung angesprochenen Aspekte eines deutsch-deutschen Vergleichs besitzen dabei sicherlich zentrale Bedeutung.

Anmerkungen:
1 Als Beispiele seien hier genannt: Albrecht Lehmann. Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990 , München 1991; Albrecht Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, München 1986; Alexander von Plato: Alte Heimat - Neue Heimat. Flüchtlinge und Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR; Gabriele Rosenthal: "Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun". Zur Gegenwärtigkeit des "Dritten Reiches" in Biographien, Opladen 1990.
2 Hierzu vor allem Rosenthal, 1990.
3 Hierzu als Grundlagentext: Thomas Leithäuser/Birgit Volmberg: Anleitung zu einer empirischen Hermeneutik. Psychoanalytische Textinterpretation in sozialwissenschaftlichen Verfahren, Frankfurt am Main 1979.
4 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967.

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