J. Mathieu: Geschichte der Berge in der Neuzeit

Cover
Titel
Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit


Autor(en)
Mathieu, Jon
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 3
Erschienen
Basel 2011: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
€ 40,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bätzing, Institut für Geographie, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg

Dass die Berge der Welt ähnlich wie die Weltmeere oder der tropische Regenwald als „universelle Einheit“ (S. 201) und nicht als heterogene Vielfalt wahrgenommen werden, liegt keineswegs in der Natur der Sache, sondern wird erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts selbstverständlich. Dabei spielen das „Gebirgskapitel“ der globalen Umweltkonferenz von Rio 1992 und das „Internationale Jahr der Berge“ 2002 eine Schlüsselrolle.

Dieser umweltpolitische Hintergrund motiviert den Luzerner Geschichtsprofessor Jon Mathieu, über den Stellenwert und die Bedeutung der Berge nachzudenken, und das Thema der dritten Dimension (der Höhe), das bisher von Wissenschaften wie Botanik, Klimatologie und Geographie bearbeitet wurde, nun auch für die Geschichtswissenschaften zu erschließen. Und indem dadurch der Aspekt der Zeit in die Gebirgsforschung hineingetragen wird, hofft Mathieu „zu neuen Erkenntnissen zu gelangen“ (S. 9). Dieser Ausgangspunkt ist sehr plausibel und innovativ.

Angesichts der Tatsache, dass Mathieu Neuland betritt und sich nur auf wenige Vorarbeiten beziehen kann (vor allem Jules Blache 19331), ist er gezwungen, das Thema auf doppelte Weise einzugrenzen: Erstens konzentriert er sich als Neuzeithistoriker nur auf die letzten 500 Jahre, und zweitens bezieht er sich nicht auf alle, sondern nur auf die 20 Bergregionen der Erde, über die genügend Analysen existieren. Darüber hinaus folgt er als europäisch geprägter Forscher im ersten Teil des Buches „einer westlichen Traditionslinie“ (S. 20), bei der die Alpen im Zentrum stehen, während er anschließend den Blick stärker auf die übrigen Gebirge lenkt.

Die Grundlage der Darstellung ist eine äußert breit angelegte Literaturanalyse, bei der Bergregionen der Erde vergleichend analysiert werden, bei der die Hochland-Tiefland-Interaktionen eine wichtige Rolle spielen, und bei der Veränderungen im Laufe der Zeit wichtig sind. Auf Grund der mangelhaften Literaturgrundlage können die Vergleiche jedoch nicht systematisch entwickelt werden, sondern sie werden je nach Fragestellung und Forschungsstand an unterschiedlichen Beispielen präsentiert.

Die gesamte Darstellung ist dadurch geprägt, dass nach weltweiten Regelhaftigkeiten der Entwicklung von Gebirgsregionen gesucht wird, die jedoch häufig nicht existieren bzw. die falsifiziert werden – dies ist das wichtigste inhaltliche Ergebnis dieses Buches. Mathieu stellt daher sehr viel mehr Fragen als er Antworten gibt – aber diese Fragen sind sehr wichtig und anregend. In Verbindung mit einer teilweise anekdotischen Darstellung (besonders deutlich in 1.3: „Gesucht: Der höchste Berg“) ist das Buch deshalb leicht lesbar.

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund gliedert sich das Buch in vier Kapitel und einen Ausblick.

Kapitel 1: „Globalisierung der Wahrnehmung“ stellt dar, wie es dazu kam, dass die Berge der Welt 1992 zu einer „universellen Einheit“ wurden, wobei der Ausgangspunkt im Jahr 1492 gesetzt wird. Besonders aufschlussreich ist hier die Darstellung, wie es zum „Gebirgskapitel“ in der Agenda 21 der Rio-Konferenz und zum „Internationalen Jahr der Berge“ 2002 kam.

Kapitel 2: „Bevölkerung und Urbanisierung“ thematisiert Fragen der Bevölkerungsverteilung/-dichte/-entwicklung und ihre Ungleichzeitigkeiten sowie die Entstehung und Bedeutung von Städten in Gebirgen.

Kapitel 3: „Landwirtschaft, Familie, Mobilität“ behandelt die agrarische Basisnutzung in Gebirgen, Anbausysteme, Viehhaltungssysteme, vertikale und horizontale Mobilität sowie Familienstrukturen/-organisationen.

Kapitel 4: „Kulturelle Vielfalt und Modernität“ stellt die Frage der kulturellen Bedeutung der Berge ins Zentrum, also Säkularisierung und Sakralisierung der Berge sowie ihre Bedeutung im Kontext von Kolonialismus, Alpinismus und Tourismus.

Damit wird eine Vielfalt sehr relevanter Themen abgedeckt, und es gibt keinen relevanten Themenbereich, der hier fehlt. Mit der theoretischen Orientierung am Konzept der „Pfadabhängigkeit“ und der „Agrarintensivierung“ (Ester Boserup) versucht Mathieu, die Vielfalt der Themen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wobei jedoch die Unterschiede größer sind als die Gemeinsamkeiten.

Auch wenn Jon Mathieu sein Buch selbst als Einheit darstellt, so thematisiert er doch zwei sehr unterschiedliche Fragestellungen: Einmal fragt er, „ob und in welcher Weise die ‚dreidimensionale Geschichte‘ der Bergbevölkerung besondere Verlaufsformen kannte“, um auf der Grundlage von „Groß-Ökosystemen“ „neue Gesichtspunkte zu gewinnen für eine potentiell globale Geschichte“ (S. 10), andererseits fragt er, wie es möglich wurde, dass die Bergregionen der Erde trotz ihrer ausgeprägten Heterogenität heute als „Einheit“ wahrgenommen werden. Beide Fragen hängen zwar unmittelbar miteinander zusammen, besitzen aber jeweils doch einen anderen Fokus: Frage 1 zielt auf neue Konzepte der Globalgeschichte, Frage 2 auf umweltpolitische Zielsetzungen, die teilweise über die Berge hinausreichen (siehe S. 205 unten). Deshalb ist Kapitel 1 auch eindeutig der Frage 2 und Kapitel 2-4 der Frage 1 gewidmet. Der kurze Abschnitt „Ergebnisse und Ausblick“ (S. 201-207) versucht beide Fragestellungen miteinander zu verbinden, bleibt aber gerade deswegen etwas diffus und unverbindlich.

Es erstaunt, dass in diesem Buch keine Gebirgsdefinitionen diskutiert werden. Zwar wird auf Seite 63 die neue naturräumliche Definition von Gebirgen kurz präsentiert, da sie aber nicht auf die traditionelle bezogen wird, hängt sie völlig in der Luft. Die Entwicklung und Veränderung von Gebirgsdefinitionen wäre ein dankbares Unterthema gewesen. Außerdem gibt es neben den naturräumlich-naturwissenschaftlichen auch kulturgeographisch-humanwissenschaftliche Gebirgsdefinitionen, die gar nicht erwähnt werden.

Außerdem wird die Auswahl der 20 Gebirgsregionen der Erde nicht reflektiert, sondern nur mit Verweis auf den Stand der Forschung begründet. Bei der so getroffenen Auswahl sind jedoch Gebirge, die von Wildbeutergruppen oder egalitären Bauerngesellschaften genutzt werden, sehr deutlich unterrepräsentiert oder spielen gar keine Rolle.

Weiterhin fällt auf, dass Mathieu aus expliziter Zurückhaltung gegenüber naturdeterministischen Argumenten (S. 89) die Gebirge der Welt nicht naturräumlich untergliedert, obwohl die Differenzen zwischen tropischen und außertropischen sowie zwischen feuchten und trockenen Gebirgen für den Menschen eine sehr große Rolle spielen (wie er selbst immer wieder feststellt). Weil so die naturräumlichen Differenzen unbestimmt bleiben (der Hinweis darauf ist nicht mit einem Naturdeterminismus zu verwechseln) bleiben die damit verbundenen Argumentationen stets etwas vage.

Allein die Gliederung zeigt, dass Mathieu einen sektoralen Ansatz verfolgt. Dieser ist aber dem Thema wenig angemessen: Fragen der Bevölkerungsdichte, der Landwirtschaftsformen, der Familienorganisation und der kulturellen Bedeutung der Berge sind in der Regel direkt miteinander verflochten (was bei der sektoralen Gliederung Mathieus zu Wiederholungen führt) und verlangen eigentlich eine integrative oder humanökologische Darstellung, die zeitlich ausdifferenziert werden müsste (Wildbeuter, egalitäre und hierarchisch gegliederte Bauerngesellschaften, traditionelle Zivilisationen, europäischer Kolonialismus/Moderne/Postmoderne) und die räumlich ausdifferenziert werden müsste (Kulturregionen mit unterschiedlichen Nutzpflanzen/Haustieren – diese Unterschiede erleichtern, erschweren oder verunmöglichen eine Gebirgsnutzung). Erst vor einem solchen Hintergrund könnte wirklich sichtbar werden, ob bzw. wie sich die Gebirgsregionen von den zugehörigen Tiefländern unterscheiden. Auch wenn ein solcher Entwurf erst ansatzweise vorliegt und daher schwer umzusetzen ist, so ist die sektorale Darstellung für die Fragestellung nicht sehr geeignet, weil es dadurch noch schwerer wird, in der extremen Vielfalt wichtige Zusammenhänge zu erkennen. Dies dürfte auch der Grund sein, dass die Suche nach weltweiten Regelhaftigkeiten eher unbefriedigend bleibt. Allerdings dürfte auch ein humanökologischer Ansatz das zentrale Ergebnis von Mathieu bestätigen, dass die Vielfalt größer als die Einheit ist.

Jon Mathieu stößt mit seinem Buch in eine Forschungslücke und präsentiert einen ersten Ansatz für eine Geschichte der Berge in der Neuzeit. Auch wenn das dabei verfolgte Konzept nicht wirklich überzeugt (zwei unterschiedliche thematische Stränge, keine Gebirgsdefinitionen und keine naturräumlichen Untergliederungen, sektoraler Aufbau), so bietet die große Breite der Darstellung und das Aufwerfen vieler Fragen eine wahre Fülle von Anregungen – dies allein schon macht das Buch lesenswert. Und die ausführliche Darstellung, wie es zum „Gebirgskapitel“ von Rio gekommen ist, ist bereits allein ein Grund, dieses Buch zu kaufen.

Anmerkung:
1 Jules Blache, L’homme et la montagne, Paris 1933 (= Géographie Humaine 3).

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