Titel
„Staatsnotwendige Wissenschaft“. Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er Jahren


Autor(en)
Besenfelder, Sabine
Reihe
Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, hrsg. i. A. der Tübinger Vereinigung für Volkskunde v. Hermann Bausinger u. a., Bd. 94
Anzahl Seiten
598 S., 23 Abb., 2 Tab.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Leonore Scholze Irrlitz, Humboldt-Universität, Landesstelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde am Institut für Europäische Ethnologie

Man erschauert bei dem Gedanken, wie viel Nachforschungen nötig sind, um die „Wahrheit“ auch nur der geringfügigsten Einzelheit zu ergründen. (Stendhal)

Ist die Nazi-Zeit des Tübinger Volkskunde-Instituts nicht eigentlich längst in allen Einzel-heiten bekannt? Jedenfalls hatte man bislang den Eindruck, dass gerade die Tübinger Em-pirischen Kulturwissenschaftler in den letzten Jahren und Jahrzehnten diese Zeit ausführ-lich beackert haben, auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht. Nun aber zeigt Sabine Besenfelder in einer gewaltigen Fleißarbeit, dass offenbar meterweise Bestände des büro-kratischen Institutsalltags mehr oder weniger unangetastet für die Nachwelt weggestellt wurden. Und sie erwähnt in ihrer Zusammenfassung die irgendwie unbemerkt gebliebene Tatsache, „daß aufgrund der einzigartigen Überlieferungssituation des Tübinger Instituts, in dem vor allem auch gegenständliche Zeugen der NS-Zeit erhalten sind, die Gründungs- und Alltagsgeschichte des Volkskundeinstituts auch ohne Zeitzeugen aufgrund von schrift-lichen Quellen und Realien detailgetreu dargestellt werden kann“. (S. 522) Wie nun nimmt sich eine solche lokal und zeitlich eingegrenzte Tübinger Instituts- und Disziplingenese als Detailgeschichte aus?

Besenfelder begründet ihre Themenstellung mit einem Phasenkonzept zur Vergangenheits-aufarbeitung in der westdeutschen Volkskunde (Andreas Bruck), nach dem der Phase des Verharmlosens und Ignorierens der Nazizeit seit den sechziger Jahren die der Ideologiege-schichte und -kritik folgte. Seit den achtziger Jahren dann sei die Phase der „historisch detaillierten Erfassung“ von Fachgeschichte im Gange, jedoch an Tübingen fast völlig vo-rübergegangen. Dieses Defizit will die Autorin beheben (S. 13f.) und dabei die zweifelhaf-te Frage klären, „ob es eine – von der Forschung ggf. bislang völlig vernachlässigte – ‚Tü-binger Schule‘ auch in den 1930er Jahren gab“. (S. 18) Und um die Antwort gleich vor-wegzunehmen: von einer „Tübinger Schule“ kann unter dem Protagonisten und Ordinarius des 1933 neu gegründeten Lehrstuhls und Instituts, unter dem Philologen und Germanisten Gustav Bebermeyer (1890-1975), keine Rede sein. Denn der Nazi und Universitäts-Gleichschaltungs-Kommissar Bebermeyer, der später freilich lediglich als „Mitläufer“ ein-gestuft und entnazifiziert wurde – aber immerhin erst 1958 finanziell voll als Emeritus ausgestattet werden konnte –, verschaffte dem Fach wenig sachliches Profil und kaum Re-putation. Allerdings zeigte er viel Sammeleifer (vor allem auch für „Sinnbilder und Zei-chen“) und umfängliche organisatorische Aktivitäten, in deren Gefolge er das Institut 1939 sogar in „Institut für deutsche Volksforschung und Volkskunde“ umbenennen ließ, ein Ansatz zur „Volks- und Volkskörperforschung auf rassisch-biologischer Grundlage“, der durch den Kriegsausbruch gottlob im Keim erstickt wurde. (S. 393f.) Selbst verblieb Be-bermeyer wissenschaftlich gesehen ganz in seinem Spezialgebiet, er forschte aus germanis-tischer Sicht über Martin Luther. Seine kurzen und populistischen, volkskundlich-politischen Auslassungen über den Studenten im NS-Staat, Heimatschutz und Volkskunde oder das Institut kann man beinahe an einer Hand abzählen. Dementsprechend stand das Institut nach 1945 gewissermaßen vor dem kompletten Neubeginn. (S. 507ff.)

Schon diese wenigen Erörterungen machen deutlich, worin es in der vorliegenden Arbeit hauptsächlich geht: nämlich um Bebermeyer und die Tübinger Volkskunde, und das hätte sicherlich auch auf die Titelseites des Buches gehört. Erstmals wird die politische und die wissenschaftliche Biographie (und Bibliographie) Bebermeyers derart ausführlich beleuch-tet und mit der Institutsgenese verbunden. Die politische Seite Bebermeyers vor allem als Gleichschaltung-Kommissar behandelt die Autorin im 1. Kapitel. Dies wird in Kapitel 2 um den wissenschaftlichen Werdegang erweitert und mit der Gründungsgeschichte von Institut und Lehrstuhl verknüpft. Im dritten Kapitel (1933-1938) konzentriert sich die Dar-stellung auf die Beschreibung des Instituts (Gebäude, Mitarbeiter, Sammlungen) und seiner Funktionen, die es auch in der Öffentlichkeit wahrnahm. Das 4. Kapitel widmet sich der Lehre und Ausbildung, wobei alle Doktoranden Bebermeyers mit ihren Themen und mit Kurzbiographien vorgestellt werden. Kapitel 5 beschreibt die Forschungsprojekte des Insti-tuts: Volkserzählung und Volkslied, Volkskunst, Haus- und Siedlungsforschung, Raumfor-schung, Brauchtumsforschung. Das 6. Kapitel thematisiert die Jahre 1939-1945. Dabei geht es um Institutsbezeichnungen, die Institutsorganisation während des Krieges und das Verhältnis des Instituts zur weiteren volkskundlichen Aktivitäten (Landestelle für Volks-kunde, Institut für geschichtliche Landeskunde) in Württemberg. Schließlich befasst sich das 7. und letzte Kapitel mit der unmittelbaren Nachkriegszeit des Instituts, den Bemühun-gen um seine Erhaltung, der Forschungs- und Lehrstruktur, wie sie Bebermeyers Nachfol-ger andachten. Abschließend enthält die Arbeit eine Liste aller Vorlesungen Bebermeyers an der Universität Tübingen sowie eine Bibliographie seiner Schriften.

Im Ganzen gesehen ist die vorliegende empirische Bestandsaufnahme eines Instituts-Apparates, der gerade in seinen materiellen Teilen (Infrastruktur, Finanzierung, Ausstat-tung, Personen) recht vollständig überkommen ist, eine wichtige Grundlagenarbeit, wie sie auch jeder musealen Sammlung zugestanden wird. Nachfolgende Forscher werden so leichter Zugriff auf Daten und Fakten haben, schneller in die Tiefe ihrer Themen gehen können. Schwer dürfte Sabine Besenfelder vor allem gefallen sein, eine Gliederung zu fin-den, die dem riesigen Materialaufkommen gerecht wird, und zwar innerhalb der einzelnen Kapitel selber. Insofern ist die etwas großzügige Aneinanderreihung von Einzelthemen verständlich. Was es konkret inhaltlich bringt, die bisherigen „ideologiehistorischen Stu-dien“ durch eine „empirische Ermittlung historischer Fakten“ wie vorliegend zu ergänzen, sei dahingestellt. Eine Alltagsgeschichte des Instituts ist es nicht, dazu braucht es mehr Lebendigkeit und das zeitgeschichtliche Umfeld als Reflexionsebene. Auch für eine ange-messene Einordnung des Instituts in gesamte NS-Wissenschaftspolitik fehlt die Ver-gleichsebene. Lediglich das Kapitel zum Neuanfang ist deutlich spannender und ausbaufä-hig. Denn mit dem Verblassen der Rolle Bebermeyers betreten neue Volkskundler die uni-versitäre Bühne, deren Agieren wohl eher als Anknüpfungspunkt für das heutige Traditi-onsgefühl des Tübinger Instituts zu verstehen ist. Jedoch bleibt die Autorin auch hier bei ihrem Darstellungsschema, und so ist ihr Recht zu geben, dass das Buch wohl in erster Linie eine Enzyklopädie bürokratischer Strukturen ist, die einen geringen Interpretations-spielraum lässt. (S. 16f.)

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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