Titel
Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive.


Autor(en)
Voß, Heinz-Jürgen
Reihe
KörperKulturen
Anzahl Seiten
466 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Bischl, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Spätestens mit „Körper von Gewicht“ hat Judith Butler deutlich gemacht, dass körperliches Geschlecht (im Folgenden: sex) nicht jenseits von Sprache erfahrbar sei und daher jeder Bezug auf es als gegebene Größe fehl laufe. Für alle, denen dieses sprachphilosophische Argument bislang nicht genug war, gibt es nun die Dissertation von Heinz-Jürgen Voß, der sich explizit in eine queere Denktradition stellt, zu deren wichtigsten Vertreter_innen Butler gehört. Seine Untersuchung mit sex als gesellschaftlich Konstruiertem setzt sich insbesondere mit den Arbeiten von Thomas Laqueur, Claudia Honegger und Londa Schiebinger auseinander: Alle drei hatten naturphilosophische und biologisch-medizinische Geschlechtertheorien seit der Antike vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Geschlechterordnung(en) in den Blick genommen.1 Sie verweisen auf die historisch wandelbaren Vorstellungen von sex und postulieren den Übergang von einem „Ein-Geschlechter-Modell“ zu einem „Zwei-Geschlechter-Modell“: Ersteres sei bis zum 18. Jahrhundert vorherrschend gewesen und habe keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht. Letzteres habe sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt, da nun vor allem Differenzen und eine „weibliche Sonderanthropologie“ beschrieben worden seien. Dieser historischen Einteilung widerspricht Voß in dekonstruktivistischer Manier, indem er das naturphilosophische und biologisch-medizinische Geschlechterverständnis seit der Antike auf Grundlage der zeitgenössischen Texte nachzeichnet. Er beleuchtet dabei auch das soziale Männer- und Frauenbild der jeweiligen Epoche und die dazugehörenden gesellschaftlichen Verhältnisse beziehungsweise die Auseinandersetzungen um diese. Darüber hinaus kritisiert Voß die zeitgenössischen Annahmen einer genetischen Fundierung von Zweigeschlechtlichkeit.

Für die Antike war die Fokussierung des Samen als Grundsubstanz des Embryos prägend gewesen. Differenzen in der Analyse bestanden darin, ob dieser gleichermaßen von Frau und Mann kam oder ob allein der männliche Samen zeugende/ formende Funktion habe, der weibliche hingegen nur ernährende/ stoffliche. Dazu kamen Postulate, die den männlichen Samen qualitativ höher bewerteten - je nach Mischverhältnis mit dem qualitativ minderwertigen weiblichen Samen würde sich das Geschlecht und die Ähnlichkeit zum jeweiligen Elternteil ausprägen. Zudem wurden die Bedeutung des Ortes der Samenproduktion, die seiner Temperatur und die der Gebärmutter für die Entwicklung des Embryos diskutiert. All dies korrespondierte mit einem entsprechenden Frauen-/ Männerbild und dazugehörigen Verhaltensaufforderungen. Verschiedene der von Voß angeführten Denker postulierten weiterhin, dass sich männliche und weibliche Geschlechtsorgane entsprächen, auch wenn sie an anderen Orten lägen. Das europäische und nicht-europäische Mittelalter behandelt Voß nur punktuell. In der ersten Zwischenbilanz verweist Voß auf das komplexe Wechselspiel von Naturphilosophie und Gesellschaft, das insbesondere von Laqueur für diese Zeit gezeigt worden sei. Gegen Laqueur konstatiert er, dass in dem genannten Zeitraum sehr wohl in binären geschlechtlichen Kategorien gedacht worden und der Rekurs auf Denker, die das Ein-Geschlechter-Modell vertreten, einseitig sei.

Um für die Moderne zu zeigen, dass sich gesellschaftliche Ausführungen zu Geschlecht und biologisch-medizinische Geschlechterbetrachtungen in ihren Argumenten überlappten und gegenseitig beeinflussten, führt Voß die Querelle des sexes an: Aufgrund des von der Aufklärung postulierten Körper-Geist-Dualismus war es möglich geworden, Frauen trotz ihrer weiterhin geschlechtlich differenten und angeblich schwächeren Körper als dem Mann ebenbürtig zu präsentieren. Derlei Bestrebungen waren aber konfrontiert mit gleichermaßen vorhandenen Tendenzen, die eine untergeordnete Stellung von Frauen über ihre Biologie begründeten. Die Querelle des sexes in den biologisch-medizinischen Wissenschaften dieser Zeit fokussierte die Zeugung neuen Lebens und beschrieb die anatomischen und physiologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau ausgehend von den zur Zeugung benötigten Substanzen. Oftmals wurden diese Differenzen aber als rein graduell ausgewiesen, da allein die auf Zeugung ausgerichteten Geschlechtsteile sich grundsätzlich unterscheiden würden. Manche Forscher wiesen auch das Gehirn als geschlechtsunterscheidend - und je nach Größe als Intelligenz-determinierend - aus, andere thematisierten wiederum die Entsprechung weiblicher und männlicher Geschlechtsorgane. Zudem konnte die Frau in ihrer Entwicklungsgeschichte als dem Mann vorgängig und damit weniger entwickelt behauptet werden. An die genannten Positionen schlossen sich entsprechende Postulate bezüglich von Frauenbildung und ihrer Stellung in der Gesellschaft an. Nach einer Darstellung, dass bestimmte Forscher auch unterschiedlich austarierte Männlichkeits- und Weiblichkeitsanteile in jedem Menschen, sogar in jeder Zelle ausmachten, beendet Voß sein zweites Kapitel mit Ausführungen zum Hermaphroditismus: Während sich Medizin und Recht bis ins 18. Jahrhundert an vielfältigen Merkmalen orientierten, um das ‚vorherrschende Geschlecht‘, das aber eindeutig zu sein habe, zu konstatieren, verlagerte sich die Praxis ab dann dahin, das ‚wahre Geschlecht‘ über Keimdrüsen und Chromosomen auszumachen und, wenn nötig, operativ herzustellen. In der zweiten Zwischenbilanz zur Querelles des sexes der Moderne verweist Voß wiederum auf die gesellschaftliche Eingebundenheit biologisch-medizinischer Theorien über Geschlecht und deren Veränderlichkeit und Vielfalt. Eine eindeutige Präferenz, ob die Geschlechtsteile als sich entsprechend gedeutet wurden oder vorrangig auf Differenz abgezogen wurde, sei im wissenschaftlichen Diskurs dieser Zeit nicht auszumachen. Stattdessen wurde die Geschlechtsbestimmung verstärkt auf Anlagen und Bildungsprozesse zurückgeführt, also auf Strukturen, die nur den Experten zugänglich waren.

Diese Tendenz wird zeitgenössisch mit der Beschreibung von Genen weiter vorangetrieben, wie Voß im dritten Kapitel ausführt, in dem er die embryonale Geschlechtsentwicklung und die Forschungsergebnisse zur Wirkung einzelner Gene referiert. Dabei zeigt er, dass weder einzelne Chromosomen, insbesondere nicht das angeblich männliches Geschlecht determinierende Y-Chromosom, noch einzelne Gene, die als geschlechtsrelevant gelten, eindeutige geschlechtsspezifische Wirkungen haben. Zudem führen die untersuchten Gene zu vielen Genprodukten mit wechselseitigen Beeinflussungen. Voß verweist hier auch auf methodische Probleme der Genetik wie die Vorannahme von Zweigeschlechtlichkeit, die Fokussierung auf einzelne Gene und nicht auf deren Wechselwirkung sowie die Ignorierung äußerer Einflüsse. Er plädiert dafür, die an der Geschlechtsentwicklung mitwirkenden molekularen Komponenten als Resultat und Teil komplexer Prozesse wahrzunehmen; zu fokussieren seien unter anderem Individualität und Variabilität sowie Stabilität in Entwicklungen anstelle deren (Un-) Normalität.

Die Auseinandersetzung mit historischen Geschlechtermodellen ist Ausgangspunkt von Voß' Buch, und diese führt er trotz einer teilweise etwas sperrigen Einleitung sehr solide, kenntnisreich und reflektiert. Der Reiz des Buches aber liegt in seinem dritten Kapitel. Denn bislang gibt es nur wenig Versuche, zeitgenössische molekular-biologische Erkenntnisse über Geschlecht jenseits sprachphilosophischer Argumente fundiert und kritisch in den Blick zu nehmen.2 Als Diplom-Biologe und Doktor der Philosophie ist Voß vermutlich auch einer der wenigen, die dies können. Die von ihm vorgebrachten Darstellungen, Argumente und Kritiken scheinen - soweit es von einer Nicht-Biologin und Nicht-Medizinerin beurteilt werden kann - plausibel und es stellt sich die Frage, wie Naturwissenschaftler_innen auf sie reagieren. Für den Laien sind sie allerdings schwer nachzuvollziehen und zu beurteilen - etwas, was auch der Darstellung angelastet werden kann, sowie der Tatsache, dass diese Auseinandersetzung nur ein Teil des Buches ist. Es bleibt zu hoffen, dass aus der ‚Bresche‘, die Voß geschlagen hat, weitere Arbeiten entstehen. Lohnenswert ist die Fortführung seiner Arbeit sowohl hinsichtlich weiterer Übersetzungsleistungen, als auch um noch detaillierter zeigen, wie sehr Naturwissenschaftler_innen in sprachliche Praxen eingebunden und damit ebenso sehr ‚Gesellschaft‘ sind, die körperliches Geschlecht durch Zuordnung herstellen.

Anmerkungen:
1 Thomas Laqueur, Making Sex – body and gender from the Greeks to Freud, Cambridge 1990; Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen das Weib 1970 -1850, Franfurt/Main, New York 1991; Londa Schiebinger, Schöne Geister – Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart 1993.
2 Siehe die von Voß zitierten Wissenschaftlerinnen: Bärbel Mauß, Ursprung und Geschlecht: Paradoxien in der Konzeption von Geschlecht in Erzählungen der Molekularbiologie, in: Petra Lucht / Tanja Paulitz (Hrsg.), Recodierungen des Wissens. Stand und Perspektiven der Geschlechterforschung in Naturwissenschaften und Technik, Frankfurt/New York 2008, S. 213-30; Anne Fausto-Sterling, Myths of gender: biological theories about women and men, New York 1992, insb. S. 63-89; sowie: Sigrid Schmitz, Geschlechtergrenzen. Geschlechtsentwicklung, Intersex und Transsex im Spannungsfeld biologischer Determination und kultureller Konstruktion, in: dies. / Smilla Ebeling (Hrsg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften, S. 33-56.

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