Titel
Scham und Schuld. Geschlechter(sub)texte der Shoah


Herausgeber
Figge, Maja; Hanitzsch, Konstanze; Teubert, Nadine
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Urban, Sozialwissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Diskussion um die Schuld der Deutschen am Holocaust hat seit 1945 unterschiedliche Wege eingeschlagen. Bereits in den 1950er-Jahren wurde der deutschen Gesellschaft seitens der Frankfurter Schule eine Abwehr von Schuld attestiert, Hannah Arendt schrieb von einer Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus und das Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich ‚die Unfähigkeit zu Trauern’ löste 1967 viele Diskussionen über eine Schuldabwehr der deutschen Gesellschaft aus. Heute wird die Diskussion um eine Kollektivschuld aller Deutschen nur zu ihrer reflexartigen Widerlegung aus dem Hut gezogen – und dies obwohl gerade die Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung eine Beteiligung der „einfachen“ Soldaten an den Verbrechen des Nationalsozialismus ins Bewusstsein gerufen haben. Obwohl es sich also um ein umkämpftes Terrain handelt, gehören Scham und Schuld zu den zentralen Narrativen, in denen nationalsozialistische Täterschaft verhandelt wird, sei es in institutionellen Erinnerungspraxen oder in einer intergenerativen Kommunikation.

Dass aber Scham und Schuld bisher kaum in ihrer geschlechtlichen Codierung untersucht wurden, verdeutlicht der von Maja Figge, Konstanze Hanitzsch und Nadine Teuber herausgegebene Sammelband. Dieser ist im DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden und geht zum Teil auf eine interdisziplinäre Konferenz zurück, die 2008 stattfand. Thema war die intergenerative Weitergabe von Scham und Schuld, ihre Bedeutung in erinnerungskulturellen und -politischen Aushandlungen unter Einbeziehung eines heteronormativen Geschlechterverhältnisses und einer heterosexuellen Matrix. Die vierzehn Aufsätze liefern eine zum Teil sehr detaillierte Darstellungen des Forschungsstandes aus Sozialwissenschaften, Psychoanalyse, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie erste Versuche geschlechtliche Dekodierung zu dechiffrieren – beides ein erheblicher Verdienst dieser Veröffentlichung.

Die Beiträge sind in fünf Themengebiete geordnet, die mit verschiedenen Perspektiven auf Scham und Schuld und die an sie geknüpften juristischen, moralischen und ethischen Fragen verbunden sind. Eingeleitet werden die Beiträge durch ein Vorwort der Herausgeberinnen, in dem diese bedauern, dass die Debatte am Ende der Tagung nicht in den Band aufgenommen werden konnte. Kontrovers waren dort die Begriffe Opfer/Täter diskutiert worden: Einige KonferenzteilnehmerInnen bezogen sich auf Thesen, die von Silke Wenk und Insa Eschebach vertreten werden. Ihnen zufolge sind historische Erzählungen von Täterschaft durch Geschlechterbilder strukturiert, die einen naturalisierenden Effekt erzielen. 1 Ein geschlechtlicher Subtext bewirkt, dass Täterschaft in der Regel männlich konnotiert ist und eine „Feminisierung des Faschismus“ eine „Selbstviktimisierung der Angehörigen des Täterlandes“ (ebd.) erlaubt. Mit Bezug auf diese theoretischen Grundannahmen wurde für eine Dekonstruktion der Begriffe Täter/Opfer plädiert. Wider eine Dekonstruktion der Dichotomie argumentierten andere, die eine Verwässerung des Opferbegriffs in der Nachkriegszeit kritisieren. Es seien die politischen Rahmenbedingungen, die für eine Aufrechterhaltung der Kategorien sprechen meint zum Beispiel Bini Adamczak.2 Anstelle einer eigenen Positionierung sehen die Herausgeberinnen die vorliegende Veröffentlichung als Anstoß für einer Vertiefung dieser Debatte.

Eine Ausführung über politisch motivierte Verwässerung leistet etwa Kathrin Hoffmann-Curtius. Sie nimmt die Entstehung von Erinnerungspraxen in den verschiedenen Besatzungszonen in den Blick, am Beispiel des Bildrepertoires zur Darstellung von Scham in Denkmälern und Mahnmalen nach 1945. Hoffmann-Curtius zeigt anhand männlicher sitzender Figuren, dass Trauer und Verzweiflung signifikant häufiger aufgegriffen wurden als Scham, Schuld jedoch äußerst selten ausgedrückt wurde. Bereits Ende der 1940er-Jahre dominierte eine kollektive Trauer um die Toten, bzw. das Thema einer gemeinsamen besseren Zukunft, die Ikonographie der Körpergestik. Die Autorin zeigt damit exemplarisch, wie deutsche Erinnerungspolitik über geschlechtliche Codierungen am Bild der nationalen Opfergeschichte strickt.

Gegen eine Dekonstruktion der Begriffe richtet sich auch eine psychoanalytische Forschung über die Wirkungen der Shoah auf die Überlebenden. In dieser Disziplin gilt eine begriffliche Dichotomie als unverzichtbar, um die Erfahrungen der beiden Kollektive, der Überlebenden und der Täter- und MitläuferInnen, sowie deren Nachkommen analysieren zu können (S. 14). Jan Lohl expliziert dies in seinem Aufsatz über die Struktur einer generationsübergreifenden Folgewirkung des Nationalsozialismus. Anhand psychoanalytischer Ansätze untersucht er die Verknüpfung geschlechtlicher Tradierungslinien, spezifischer Gefühlerbschaften und familiäre Loyalitätsverpflichtungen. Die zweite Generation des Täter-/MitläuferInnenkollektivs „verinnerlichen […] jene psychische Dynamik, die den elterlichen Umgang mit ihrer Geschichte strukturiert.“ (S. 26) Viele Nachkommen identifizieren sich daher mit der „psychischen Logik der narzistischen Abwehr der Eltern“ (S. 26).

Alle Aufsätze kreisen um die intergenerationelle Weitergabe von Schuld und Scham und die Bedeutung dieser Emotionen in erinnerungskulturellen- und politischen Austragungen im Kontext der Shoah. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die These, dass durch den Subtext eines komplementären heteronormativen Geschlechterverhältnisses eine geschlechtliche Codierung erfolgt, die eine Tabuisierung oder Mystifizierung der Shoah, bzw. eine Entlastung von Schuld und Scham ermöglicht (S. 10). Eine geschlechtliche Codierung von Täterschaft und deren entlastende Funktion nimmt zum Beispiel Ljiljana Heise in den Blick. Anhand der juristischen Verhandlungen um die Schuld von Täterinnen im ersten britischen Ravensbrück-Prozess 1946/47 zeigt sie, dass geschlechtliche Rollendevianz und -konformität eine wichtige Funktion zur Be- und Entschuldung der Angeklagten besaß. Grundlage waren stereotype Vorstellungen weiblicher Täterschaft, die Täterinnen als abweichend, brutal und grausam zeichneten. Dieses Bild der sadistischen KZ-Aufseherin, das sich bereits in den direkten Nachkriegsjahren durchsetzte, bot die Grundlage für eine Entlastungsstrategie für ‚normale’ Frauen des Kollektivs der Täterinnen/Mitläuferinnen. Die Deutung einer geschlechtlichen Codierung ermöglichte also selbst in juristischen Aushandlungen Täterinnen zu Opfern werden zu lassen (S. 164).

So divergent die Forschungsrichtungen sind, so sind es auch die Begriffe von Scham und Schuld, mit denen operiert wird. So geht es in einigen Aufsätzen um Schuld im juristischen Sinne (Liljana Heise), in anderen um ethische Schuld (Naomi Shulman/Poetik der Verantwortung), um Schuld als Gefühlserbschaft innerhalb familiärer Loyalitätsverpflichtungen (Jan Lohl) oder um religiöse Schuld- bzw. Sühnebekenntnisse zur Restaurierung einer beschädigten Maskulinität (Björn Krondorfer/Männlichkeit und Selbstmitleid). Insgesamt vermitteln die Beiträge einen guten Überblick zu zahlreichen Aspekten. Zugleich macht diese Annäherung jedoch deutlich, welche Schwierigkeiten interdisziplinäre Herangehensweisen hervorbringen können. Einige AutorInnen explizieren ihre Begriffe nicht und somit bleibt nur ein Rückgriff auf die sehr allgemein gehaltenen Definitionen in der Einleitung. Dort wird festgehalten, dass „Anerkennung der Schuld die Wiedergutmachung einer Verletzung des Anderen betont“ wohingegen Scham als „Ausdruck der eigenen Verletzlichkeit“ (S. 11) verstanden wird. Da jedoch die Forschungsgegenstände in einem hohen Maß differieren, kann die sehr allgemeine Definition eine begriffliche Unschärfe einiger Beiträge nicht beseitigen.

Auch Scham wird facettenreich dargestellt. Kathrin Hoffmann-Curtius füllt den Begriff im Sinne Lacans als Affekt, als Emotion einer Erfahrung des sozialen Seins, Sabine Grenz („Davon haben wir nichts gewusst“?) nähert sich verborgener Scham hinter stereotypen kollektiven Formulierungen eines in den späteren 1940er-Jahren oktroyierten Narratives und Birgit Dahlke (Nuda Veritas?) untersucht die Praxis der Beschämung durch „Überschreitungsästhetik“ (S. 310).

Auf eine potentiell fehlende Trennschärfe von Scham- und Schuldeffekten weist Katharina Obens hin. Diese hat vor allem eine Verschleierung des bedeutenden Umfangs von Scham in den nachkommenden Generationen des Täter/MitläuferInnenkollektivs bewirkt. So wurde Scham häufig fälschlicherweise als Schuldgefühl interpretiert. Diese unklare Abgrenzung leitet Obens aus den „zahllosen Mechanismen zur Erlösung von Schuld“ ab, „die in der christlichen Kirche angeboten werden.“ (S. 53)

Der Sammelband vereint etliche Bausteine zur Dekonstruktion verschiedener Machtaspekte, die im Kontext von Scham und Schuld Wirkungsmächtigkeit entfalten. Dass am Ende der Lektüre neue Fragen stehen, stellt keineswegs einen Mangel dar, der den AutorInnen anzulasten wäre, sondern verdeutlicht die Notwendigkeit einer vertiefenden Forschung.

Mein Gesamteindruck ist eindeutig positiv: Viele Aufsätze sind so angelegt, dass sie auch für disziplinfremde LeserInnen eine interessante Lektüre bieten. Zudem zeichnen sich die Beiträge durchweg durch ein gutes Lektorat und eine hohe wissenschaftliche Qualität aus. Selten wirken Ausführungen zu detailliert und die Verknüpfung mit den einleitenden Thesen ist zumeist gelungen. Außerdem ist dieser Beitrag einer kritischen Zeitgeschichte durch die abwechslungsreichen Datenkorpora bis zum Schluss spannend zu lesen.

Anmerkungen:
1 Insa Eschebach / Silke Wenk, Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz, in: Insa Eschebach / Sigrid Jacobeit / Silke Wenk (Hrsg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002, S. 13-40, bes. S. 26.
2 Bini Adamczak, Antisemitismus dekonstruieren? Essentialismus und Antiessentialismus in queerer und antinationaler Politik, in: A.G. Gender-Killer (Hrsg.), Antisemitismus und Geschlecht von ‚maskulinisierten Jüdinnen’ und ‚effeminierten’ Juden und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005, S. 223-238.

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