A. Dimou: Entangled Paths Towards Modernity

Cover
Titel
Entangled Paths Towards Modernity. Contextualizing Socialism and Nationalism in the Balkans


Autor(en)
Dimou, Augusta
Erschienen
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 43,43
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wim van Meurs, Instituut voor Geschiedenis, Radboud Universiteit Nijmegen

Zum Thema Sozialismus auf dem Balkan breitet Augusta Dimou bereits auf der ersten Seite der Dissertation ihre dreifache Fragestellung aus: 1) Transfer und Adaption dieser westlichen Ideologie auf dem Balkan; 2) deren Anpassung an den lokalen Kontext; 3) der Einfluss des Sozialismus auf die politische Dynamik in der Region. Bei einer so umfangreichen Thematik mit eindeutigen Verbindungen zu den Metathemen politischer Modernisierung und sozioökonomischer Modernisierungsdefizite des Balkans kann man die gezielte Auswahl dreier Fallstudien kaum als „Einschränkung“ begreifen. Die Empirie der Studie betrifft: 1) Serbien und der russische Populismus in den 1870er-und 1880er-Jahren; 2) Bulgarien und der Marxismus in den 1890er-Jahren; 3) Griechenland und der Bolschewismus in den 1920er-und 1930er-Jahren. Im ersten Teil erläutert Dimou diese Auswahl und den Fokus auf intellektuelle Diskurse und zieht einen „problemorientierten Ansatz“ dem klassischen deskriptiven Narrativ vor (S. 2). Auch wenn dieser Ansatz unstrittig sein mag, die Fokussierung auf Diskurse und große Texte wird kaum begründet oder gegen Alternativen abgewogen: Obwohl die Sozialisten im späten 19. Jahrhundert in der Tat oftmals ideologisch-diskursive Glasperlenspiele verhandelten, sollten im „Niemandsland“ zwischen „fremder“ Ideologie und endogenem Kontext auch politisches Handeln, Expertentum und Institutionen nicht unberücksichtigt bleiben. Insgesamt ist die Fokussierung auf die neuralgischen Punkte der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Sozialismus in den drei Ländern mutig und originell: keine umfassende faktizistische Nacherzählung, aber auch keine Flucht in biographische oder ereignisgeschichtliche Mikrostudien.

Augusta Dimou hat sich entschieden, die hochabstrakte und teilweise dogmatisch geführte Debatte über die Vor- und Nachteile von Vergleich und Transfer als Forschungsansätze kurz und bündig zu besprechen. Einerseits ist die Entscheidung sympathisch, weil der praktische Nutzen der aufwendigen histoire croisée für eine Studie über eine Großthematik wie Sozialismus und Nationalismus in Südosteuropa eher problematisch ist. Andererseits bleibt eine wesentliche Forschungsfrage hierdurch unbeantwortet: Im klassisch-simplen Modell von Transfer wird eine konsolidierte Institution aus dem modernen Staat A möglichst originalgetreu auf den rückständigen Staat B übertragen. Wenn es aber um Diskurse, um Anpassungsleistungen, um Gleichzeitigkeit und um Verflechtung geht, kann nur noch der Prozess Forschungsgegenstand sein und Staat A und Staat B sind als unabhängige (vergleichbare) Entitäten infrage gestellt. Folglich lässt sich kaum noch von einer Anpassung an einen objektiven, vorgefundenen Kontext sprechen (die Autorin verwendet selbst auch vorzugsweise den Plural „contexts“). Dennoch ist in Einleitung und Methodenteil öfters die Rede vom „socialist paradigm“ und wird die „awareness“ der Intellektuellen bezüglich der Rückständigkeit des eigenen Landes referiert, ohne dies als „Perzeption“ oder „Imagination“ (S. 407f.) statt „Bewusstsein/werdung“ zu begreifen. Um nicht in die Falle des Funktionalismus zu tappen, müsste auch die Feststellung, dass für „den“ Sozialismus auf dem Balkan die objektiven Vorbedingungen fehlten (S. 13), kritisch reflektiert werden. Anschluss an den Puls der Zeit bzw. der Massen (S. 59) ruft diesbezüglich als Erklärungsansatz lediglich neue Fragen auf.

Konsequenter als in der bisherigen Literatur arbeitet Augusta Dimou heraus, dass das wichtigste Vorbild und der Ideengeber der Balkansozialisten ursprünglich der russische Populismus war und nicht westliche Parteien. Viel westliches sozialistisches Ideengut erreichte Bukarest, Belgrad oder Sofia sogar auf dem Umweg über Moskau, Odessa oder Tartu/Dorpat. Nicht weniger bedeutsam ist aber das Hervorheben des aus Russland importierten Selbstverständnisses des Intellektuellen als selbständigem sozialen und politischen Akteur, ein im Westen weitgehend unbekanntes Phänomen (Kap. II. 2-3).

Kleinere Wermutstropfen in der Darstellung sind die oftmals überlangen Blockzitate und die genauso überdehnten Endnoten zu den Kapiteln. Manche Noten füllen eine Seite mit Wissenswertem, das anscheinend für den Haupttext nicht relevant genug war, und widersprechen so dem im Konzept des Buches sonst couragiert zur Schau getragenen Prinzip „weniger ist mehr“. Hier verlässt „der Mut zur Lücke“ die Autorin dann doch. Gelegentlich störend sind ebenfalls manche bemüht intellektualistischen Formulierungen in einem insgesamt nüchtern geschriebenen und sorgfältig redigierten Haupttext: „temporal asymmetry“ (S. 7) ist ein solcher Stolperstein, heißt aber nichts anderes als „ungleichzeitig“ und „syntactic history“ (S. 13, Fn. 1, das heißt eine chronologische Meistererzählung) ein anderer.

Jeder der drei Fallstudien ist ein eigener Buchteil von recht unterschiedlicher Länge gewidmet: 100 Seiten für die serbischen Populisten, 200 Seiten für den interessantesten Fall, die bulgarischen Marxisten und wiederum 100 Seiten für die Griechen und den Bolschewismus. Jeder Teil eröffnet mit einer kurzen Diskussion der bisherigen historiographischen Debatten und Positionen zu den serbischen Radikalen, bulgarischen Marxisten respektive griechischen Bolschewisten. Die Fallstudien werden mit ideengeschichtlichen Mitteln gestaltet. So werden in kurzen Kapiteln einzelne relevante Aspekte der Ideologie und Strategie der Radikalen erläutert. Die Analyse in meist kurzen Kapiteln von Aspekten wie „Individuum und Gesellschaft“, „Die Rettung des Serbentums“, aber auch zum Bau von Eisenbahnstrecken ist präzise und immer lesenswert. Quellen und Literatur in mehr als einer Handvoll Sprachen liegen dem zugrunde.

Eine Studie, die drei Länder und doppelt so viele Sprachen zusammenbringt und arbeitsintensive Ansätze wie Vergleich und Verflechtung kombiniert, ist weit anspruchsvoller als ein schematischer Vergleich mehrerer Länder oder gar eine einzige Nationalgeschichte. Diese Herangehensweise stellt hohe Anforderungen an Aufbau und Darstellung, und steht in der Gefahr, Autorin wie Leserschaft zu überfordern. Diesbezüglich wirft die Studie drei Fragen auf. Es ist schwer nachvollziehbar, warum der Leser, was die Einordnung und Zusammenhänge zwischen den bis zu zwanzig Kapiteln pro Fallstudie anbelangt, bis zum jeweiligen Fazit und dem schönen Epilog nahezu alleine gelassen wird. Dagegen ist die Entscheidung, die Quellen aus der Zeit selbst im Text nur sehr selektiv aufscheinen zu lassen, nachvollziehbar. Der Leser mag sich gelegentlich etwas mehr Authentizität und „historische Sensation“ wünschen, die Gefahr einer Überfrachtung der Argumentation ist aber deutlich größer. Gleiches gilt für die Zeitdimension und den Transferprozess, die beide im Hintergrund bleiben. Die Spannungen und Heterogenität in der bulgarischen sozialistischen Bewegung werden beispielsweise exzellent hervorgehoben und Dimou scheut mit Hilfe des asymmetrischen Vergleichs auch kontrafaktische Fragen, wie die nach dem Fehlen kommunistischer Mobilisierungserfolge in Venizelos’ Griechenland, nicht.

Wie eine erneute Lektüre der historiographischen Skizzen zu den Fallstudien zeigt, hat der von Dimou angewandte transnationale Ansatz großen Mehrwert – auch wenn sich vielleicht noch keine neue Synthese aufdrängt, so werden zumindest die alte Konfliktlinien, die noch stark von ideologischen Lagerkämpfen bestimmt waren, infrage gestellt und durch historisch informierte Forschungsfragen ersetzt. Die Frage, wie sich aus nationalen Entwicklungslinien, internationalen Vergleichen und transnationalen Verflechtungen, aus historiographischen Positionen und aus der Erschließung neuer, vielsprachiger Quellen ein adäquates und leserliches Narrativ komponieren lässt, wird noch Generationen von Forschern beschäftigen. Insgesamt leistet Augusta Dimous Studie Pionierarbeit in einem Feld der transnationalen Forschung, das nicht nur für den Balkan, sondern für Europa insgesamt (mit Ausnahme der wichtigsten Vorbildländer) noch kaum exploriert wurde.

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