M. Reiss u.a. (Hrsg.): Unemployment and Protest

Titel
Unemployment and Protest. New Perspectives on Two Centuries of Contention


Herausgeber
Reiss, Matthias; Perry, Matt
Reihe
Studies of the German Historical Institute, London
Erschienen
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 94,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Wiede, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Die sozialwissenschaftliche Erforschung des Arbeitslosen begann mit der Feststellung seiner sozialen und politischen Apathie. Seit der 1933 publizierten Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel blieb ihre These, der zufolge sich Arbeitslosigkeit fast unmittelbar und notwendig auf die emotionale Stabilität von Betroffenen auswirke, in weiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Arbeitslosenforschung unwidersprochen. Sollten die Ergebnisse von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel vor allem den Befürchtungen der politischen Radikalisierung von Arbeitslosen in den 1930er-Jahren entgegentreten, so hat sich der Topos des passiven Arbeitslosen inzwischen verselbstständigt und geistert in Form des sozialen Schmarotzers mit konjunkturellen Schwankungen, aber penetrant durch Pressedebatten.

Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Matthias Reiss und Matt Perry, setzen dieser Auffassung einen anderen Standpunkt entgegen. Ziel der Veröffentlichung ist es, protestierende Arbeitslose aus ihrer vermeintlichen Passivität heraustreten zu lassen und als Akteure politischer Interessen und sozialer Bewegungen sichtbar zu machen. Die Beiträge des Sammelbandes, der auf eine vom Deutschen Historischen Institut London und der Society for the Studies of Labour History 2007 organisierten Tagung zurückgeht, entwerfen ein thematisch breit gefächertes Spektrum von Arbeitslosenprotesten oder aber, die Begriffe werden innerhalb des Bandes synonym gebraucht, (sozialer) Bewegungen von Arbeitslosen über knapp zweihundert Jahre.

Der Band beansprucht, bisher vernachlässigte interdisziplinäre Vermittlungsarbeit zwischen Historikern und Sozialwissenschaftlern zu leisten. Folgerichtig wird die Einführung der Historiker Matt Perry und Matthias Reiss von Bert Klandermans um eine sozialpsychologische Analyse der Einfluss- und Erfolgsfaktoren sozialer Bewegungen ergänzt. Die Problematik von Arbeitslosenbewegungen sieht Klandermans in ihrer schmalen und prekären Akteursbasis. Betroffene würden Arbeitslosigkeit als Durchgangsstadium begreifen, das sie so schnell wie möglich wieder verlassen möchten.

Die erste von drei chronologisch sortierten Sektionen summiert die Beiträge von Matthias Reiss und Margrit Schulte Beerbühl zu Arbeitslosenprotesten im 19. Jahrhundert. Während Matthias Reiss den Wandel der Arbeitslosigkeit vom Wohlfahrtsproblem zum Politikum am Ende des 19. Jahrhunderts anhand der von protestierenden Arbeitslosen entfachten Unruhen im Londoner West End 1886 ausführt, widmet sich Margrit Schulte Beerbühl den Gründen für das Scheitern des Protestmarsches von Webern (march of the blanketeers) von Manchester nach London im März 1817. Sie betont überzeugend die historische Relevanz des bisher von der historischen Forschung vernachlässigten Ereignisses. Leider bleibt ungeklärt, warum dieser Protest aus den Anfangszeiten der organisierten Arbeiterbewegung als ein Protest von Arbeitslosen oder ein Protest im Kontext von Arbeitslosigkeit zu deuten ist.

Die zweite chronologische Sektion zu Arbeitslosenprotesten in der Zwischenkriegszeit ist etwas euphemistisch als „Golden Age“ der Arbeitslosenbewegungen überschrieben, verdeutlicht aber in der Tat mit einer Ausweitung des Untersuchungsraums auf die USA und Palästina die globale Dimension des Phänomens in dieser Epoche. Jeannette Gabriel untersucht die Proteste von Arbeitslosen in den Jahren des New Deal in den USA. Alex Zukas betont den Erfolg der kommunistischen Parteien in der Organisation von Arbeitslosen in den Endjahren der Weimarer Republik. Ohne Lobby agierten hingegen protestierende polnische Arbeitslose in den Kohlerevieren Nordfrankreichs 1934, wie Philip H. Slaby zeigen kann. Die Situation dieser Minderheit verschlechterte sich in Folge verschärfter Ausweisungspolitiken der konservativen Regierungen von 1934 und 1935, bevor der Arbeitskräftebedarf in den späten 1930er-Jahren wiederum das Blatt wendete. Nationale Argumente bestimmten die Arbeitslosenproteste, laut David de Vries und Shani Bar-On, in Palästina in den Jahren 1917–1947. Dort war Arbeitslosigkeit ein gravierendes Problem, die Vertretung der Interessen von Arbeitslosen hingegen bis in die 1940er-Jahre hinein überlagert von differierenden nationalen Interessen jüdischer Einwanderer und arabischer Bevölkerung. Eine kooperative Politisierung beider Gruppen unter dem Banner von Arbeitslosigkeit gelang nur temporär nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und aufgrund der Entlassungswelle des britischen Mandatsträgers.

Zwei weitere Blöcke von Beiträgen, die sich mit Interessensartikulationen von Arbeitslosen jenseits von Straßenprotest sowie mit medialen Selbstrepräsentationen von Arbeitslosen befassen, operieren mit einem stark erweiterten Begriff von Protest und sozialer Bewegung und klassifizieren gleichfalls Formen zivilen Ungehorsams in sozialstaatlichen Bürokratien, Forderungen nach Partizipation in Gewerkschaften und politischen Parteien oder Verlagspolitiken als Protesthandlungen. Michael Seidman wirft einen Fokus auf die Handlungsmöglichkeiten arbeitsloser Individuen im Frankreich der 1930er-Jahre. Seinen Ausführungen folgend, ist Arbeitslosigkeit an sich unter Umständen als widerständiger Akt gegen schlecht bezahlte und prekäre Arbeitszumutungen zu werten. Passivität von Arbeitslosen und Protest von Arbeitslosen werden von ihm nicht als Dichotomie, sondern als Varianten von Interessensartikulation verstanden. Waren und sind dergleichen „Protestformen“ gesellschaftlich wenig akzeptiert, so waren die vielfältigen Aktivitäten gegen den 1931 in Großbritannien eingeführten Bedürfnisnachweis für Langzeitarbeitslose anerkannter. Neben dem in der Forschung bekannten Hungermarsch von 1932 und dem Jarrow Crusade von 1936, beschäftigt sich Stephanie Ward vor allem mit Petitionen, Eingaben und Protestbriefen gewerkschaftlicher oder kirchlicher Interessenvertretungen von Arbeitslosen, in denen sich alltäglicher Widerstand gegen die Zumutungen von Arbeitslosigkeit spiegelt. Die Gründe für ausbleibenden Protest in den Bergbaugemeinden im Osten Clevelands in den 1930er-Jahren beleuchtet Malcolm Chase. In seiner Fallstudie schildert er eine sehr spezielle Konstellation der Befriedung von Arbeitslosen durch Siedlungsprojekte, die von der deutschen, bündischen Jugendbewegung und später der Deutschen Arbeitsfront unterstützt wurden. Die Bandbreite möglicher medialer Repräsentationen von Arbeitslosen wird durch drei Beiträge akzentuiert. Die Darstellung von Arbeitslosenprotesten in der Provinzpresse Frankreichs nimmt Matt Perry für die 1930er-Jahre in den Blick. Den Left Book Club von Victor Gollancz und sein Verlagsprofil preiswerter sozial und politisch engagierter Publikationen in den Jahren 1937–45 untersucht Antoine Capet. Ingrid Hayes liefert einen Beitrag zum Arbeitskampf der Stahlarbeiter in dem von massiver Arbeitslosigkeit bedrohten Industrierevier Longwy 1979–80, die neue, vielfältige Instrumentarien zur Verbreitung ihrer Anliegen nutzten, darunter einen gewerkschaftlich unterstützten Radiosender.

Abgerundet werden die historischen Sektionen mit zwei Beiträgen zur jüngsten Zeitgeschichte des Arbeitslosenprotests. Cybèle Locke geht den ethnischen Konflikten in den Gewerkschaften Neuseelands unter den Bedingungen neoliberaler Arbeitsmarktpolitik seit Regierungsübernahme der neuseeländischen Labour Partei 1984 nach. Erst durch Gründung eigener gewerkschaftlicher Organisationen der Maori in den 1980er-Jahren konnten diese hinlänglich ihre Interessen artikulieren, da in den traditionellen Gewerkschaften die überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffenen Maori wiederum innerhalb der Arbeitslosen diskriminiert wurden. Die jüngsten Proteste von Arbeitslosen in der Bundesrepublik nach Einführung der Hartz-IV-Reformen beleuchtet Deborah Vietor-Engländer. Charakteristisch für diese Proteste waren ihrer Ansicht nach die Straßenkundgebungen in Tradition der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989, vor allem aber gerichtliche Auseinandersetzungen und die Nutzung von Internetforen.

Der Band schließt mit einem resümierenden Kommentar von Didier Chabanet und Jean Faniel, die das Paradoxon zwischen den historisch nachweisbar vorhandenen Protesten von Arbeitslosen und ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit vor allem auf die Schwierigkeit zurückführen, eine gemeinsame und tragfähige Identität von Arbeitslosen zu generieren. Aufgrund dieser problematischen Identitätsfrage wäre Protest von Arbeitslosen nicht unmöglich, aber eine fragile und vorübergehende Angelegenheit. Zu verschieden seien die sozialen Kontexte von Arbeitslosen, ihre Zugehörigkeit zu anderen sozial marginalisierten Gruppen, als dass eine gemeinsame dauerhafte Basis für eine wirksame soziale Bewegung gegeben wäre. An diesem Punkt steht die Erforschung von Arbeitslosenprotesten vor den gleichen Problemen wie der Protest von Arbeitslosen als solcher. Der Sammelband verortet ein beeindruckend komplexes und vielschichtiges Phänomen in sehr unterschiedliche Kontexte. Ob es sich um kolonial motivierte Konflikte in Palästina oder Neuseeland, strukturelle Arbeitslosigkeit infolge der Deindustrialisierung ganzer Regionen, wie in Cleveland oder dem Norden Frankreichs, oder linker Verlagspolitik handelt, die Erfahrungen von Akteuren ohne Erwerbsarbeit oder die Thematisierung von Problemen finanzieller Deprivation werden unter dem Etikett von Arbeitslosigkeit zwangskollektiviert und damit unter Umständen nur unzureichend ausdifferenziert erklärt. Dieser Aspekt ist aber nicht diesem sorgfältig edierten und inspirierendem Sammelband anzulasten. Es wird nur ein weiteres Mal deutlich, dass die Geschichte von Arbeitslosigkeitsprotesten keineswegs ein randständiges Phänomen ist, sondern, verknüpft mit zahlreichen gesellschaftlichen Schnittstellen, ein zentrales Problem komplexer Arbeitsgesellschaften aufgreift: die Erfahrungen derjenigen ohne Arbeit.