M. A. Obst (Hrsg.): Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II.

Titel
Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II.. Eine Auswahl


Herausgeber
Obst, Michael A.
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe 15
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XXXII, 425 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Bender, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Als Redner war der deutsche Kaiser Wilhelm II. berüchtigt. Im öffentlichen Auftritt häufig impulsiv, mit wenig diplomatischem Gespür, dafür aber dem Anspruch eines ‚persönlichen Regiments‘ ausgestattet, düpierte der Kaiser mit seinen Reden während seiner Regentschaft nicht selten seine Zuhörer, die durch die Berichterstattung der Presse zunehmend durch eine reichsweite Öffentlichkeit repräsentiert wurden. Bei einer Rede zu einem Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages im Februar 1897 rühmte der Kaiser seinen Großvater, den er als „Wilhelm, den Großen“ bezeichnete. „[B]rave, tüchtige Ratgeber“ – der Kaiser spielte auf Otto von Bismarck und Helmuth von Moltke an – hätten die Ehre gehabt, seine „Gedanken ausführen zu dürfen“. Während eine 1904 erschienene, offiziöse Quellensammlung Wilhelm mit den Worten zitierte, diese Ratgeber seien „Werkzeuge“ des kaiserlichen Willens gewesen, legte die ‚Berliner Zeitung‘ in ihrer Ausgabe am Tag nach der Rede dar, der Kaiser habe das Wort „Handlanger“ verwendet; weiteren zeitgenössischen Quellen zufolge soll im Kontext dieser Äußerung auch der Begriff „Pygmäen“ gefallen sein. Die Beschimpfung derjenigen, die als politische und militärische Gründer des deutschen Kaiserreiches galten und hohes Ansehen genossen, löste Empörung und Resignation aus. Anton Graf Monts, der preußische Gesandte in München, zeichnete in einem Schreiben an Philipp Eulenburg, den engen Vertrauten des Kaisers, ein düsteres Bild über die Wirkung, die derartige Auftritte in der Bevölkerung zeigen würden: „Es ist, als wenn zeitweise ein böser Geist über den Herrn käme, seinen Verstand umnachtete u. ihn zu Reden hinreißt, die die Nation aufs tiefste beleidigen.“1

Michael A. Obst hat im Jahr 2010 seine Dissertation ‚Einer nur ist Herr im Reiche. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner‘ vorgelegt, in der er sich mit den Reden beschäftigt hat, die der Kaiser in seiner Funktion als Staatsoberhaupt hielt.2 Mit der jetzt erschienenen Quellensammlung reicht Obst eine Zusammenstellung der Quellengrundlage seiner Studie nach. Die Edition umfasst 245 chronologisch angeordnete Reden Wilhelms aus der Zeit zwischen 1883 und 1918. 168 Redetexte sind einer zeitgenössischen, mehrbändigen Quellensammlung von Johannes Penzler und Bogdan Krieger entnommen, die zwischen 1897 und 1913 veröffentlicht wurde und als offiziös gelten kann.3 58 weitere Texte sind aus sonstigen gedruckten Quellen zusammengetragen, 19 der Redetexte werden in der Quellensammlung erstmalig publiziert. Die Reden sind in der Quellensammlung selbst nicht oder nur spärlich in den Fußnoten kommentiert; als kritischer Kommentar ist die Dissertation Obsts zu verstehen und es ist daher vielfach notwendig, sich durch die entsprechenden Passagen der Studie zu den Umständen und der Rezeption der jeweiligen Rede zu informieren. Obst selbst verweist bisweilen in den Fußnoten auf die Stellen seiner Dissertation, in denen die jeweilige Rede analysiert und besprochen wird.

Quellenkritisch werfen historische Reden interessante Fragen auf, da – zumindest für die Zeit des Kaiserreiches – kein Zugang zu ihnen als konkretes Ereignis besteht. Tonaufnahmen existieren meist nicht; sie mussten entsprechend der technischen Möglichkeiten der Zeit aufwändig unter Studiobedingungen angefertigt werden, was die Aufzeichnung einer Rede in dem Augenblick, für den sie intendiert war, verhinderte. Ein Beispiel hierfür ist der Aufruf Wilhelms ‚An das deutsche Volk‘ vom 6. August 1914 zum Ausbruch des Weltkrieges. Die berühmte Tonaufnahme der Kriegsrede wurde erst im Februar 1918 von Wilhelm im Schloss Bellevue eingesprochen. Die Reden Wilhelms II., wie sie in der Quellensammlung präsentiert werden, sind ausschließlich zeitgenössische Übertragungen des gesprochenen Wortes in Schrift: Beamte fertigten redigierte Fassungen an, die an die Presse zur Veröffentlichung gegeben wurden, Journalisten notierten selbst Mitschriften, Zuhörer erstellten Gedächtnisprotokolle. Unterschiedliche Versionen spiegeln dabei nicht nur die zusätzliche Autorenschaft einer Transkription wider, sondern verdeutlichen auch die voneinander abweichenden Intentionen derjenigen, die eine Rede niederschrieben. Manuskripte stellen umgekehrt die Verschriftlichung vor der Übertragung in das gesprochene Wort dar: Eine Übereinstimmung des Manuskripts mit dem Text der gehaltenen Rede kann auch hier nicht vorausgesetzt werden – „es gilt das gesprochene Wort“ ist noch heute die journalistisch bindende Formulierung auf vorab verteilten Redetexten. Wie Obst in seiner Dissertation darstellt, sprach etwa Wilhelm bis 1908 weitgehend frei und verwarf, ergänzte und redigierte Entwürfe für Reden, die ihm von Beamten seines Kabinetts an die Hand gegeben worden waren.

Bereits für seine Dissertation hat Obst die Zielsetzung formuliert, „für die zitierten politischen Reden des Kaisers einen möglichst authentischen Text zu rekonstruieren, vorzugsweise durch Rückgriff auf Mitschriften, Protokolle oder Entwürfe, mindestens aber durch Zusammenstellung der Berichte von Ohrenzeugen und durch den Abgleich mit der Tagespresse“.4 In der Quellensammlung wird diese Rekonstruktion sichtbar, indem in Fußnoten abweichende Formulierungen in anderen Versionen der jeweils gleichen Rede vermerkt sind. Bei Variationen, die über die Ebene einzelner Formulierungen hinausgehen, finden sich teilweise unterschiedliche Versionen der gleichen Rede in der Quellensammlung. Das wohl prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die sogenannte ‚Hunnenrede‘, die Wilhelm am 27. Juli 1900 in Bremerhaven bei der Verabschiedung der Truppen hielt, die nach China zur Bekämpfung des dortigen Boxeraufstandes eingeschifft wurden. In der Quellensammlung finden sich fünf Versionen der kontrovers diskutierten Rede: Die nicht autorisierte Version der Nachrichtenagentur ‚Wolffs Telegraphisches Bureau‘, die redigierte Fassung aus der Feder von Staatssekretär Bernhard von Bülow, in der der Bezug auf die Hunnen des Königs Etzel nicht zu finden ist, sowie drei Fassungen aus Zeitungen, die bei der Rede anwesende Journalisten mitstenographiert hatten. Die Lektüre der unterschiedlichen Fassungen, die durch ihre Anführung in der Quellensammlung gut miteinander verglichen werden können, verdeutlicht die gewundenen Wege der Tradierung, die hinter der Existenz der Versionen steht. Auch Versuche, die Rezeption der Rede nachträglich positiv zu beeinflussen, zeigen sich an diesem Beispiel: In der Ausgabe von Penzler ist einer der viel diskutierten Passus in der Rede Wilhelms – „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht“ – mit einer Konjektur zu „Pardon wird [euch] nicht gegeben“ ergänzt, was die Aussage semantisch von einer Aufforderung in eine Warnung verkehrt – eine „apologetische Ergänzung“, die, wie Obst anmerkt, nicht haltbar ist (S. 203, Fn. 3). Auch die Schönung des entscheidenden Passus der ‚Handlangerrede‘ im eingangs vorgestellten Beispiel entstammt Penzlers Quellensammlung, der bei der Darstellung zentraler Formulierungen in den Kaiserreden häufig, wie Obsts Überarbeitung zeigt, nicht zu trauen ist.

Als eigenständige Quellensammlung kommt der Zusammenstellung das Verdienst zu, Redetexte an einem Ort zu versammeln, die zwar meist bereits anderweitig publiziert, jedoch bisher verstreut oder nur antiquarisch und archivarisch zugänglich sind. Da ein Großteil der Kaiserreden aus der Quellensammlung von Penzler und Krieger übernommen ist, macht insbesondere die kritische Überarbeitung dieser häufig offiziös gefärbten Texte eine zentrale Qualität der Zusammenstellung aus: Die Rekonstruktion ist kleinteilig und bezieht eine Vielzahl weiterer Quellen ein, so dass Obst ein differenzierteres Bild anbieten kann, das durch die Kenntlichmachung der verschiedenen Versionen häufig auch einen Aussagegehalt darüber besitzt, wie die Reden Wilhelms durch seine Beamten redigiert und überarbeitet wurden. Durch das Fehlen eines kritischen Kommentars in der Quellensammlung selbst muss sie als das gesehen werden, was sie tatsächlich ist: Der Dokumententeil der Dissertation Obsts. Mit der Studie und der Quellensammlung parallel zu arbeiten, ist daher unerlässlich, bietet dann jedoch eine aufschlussreiche Perspektive auf die Zeit des ‚Wilhelminismus‘ und seinen namensgebenden Exponenten.

Anmerkungen:
1 Monts an Eulenburg, 20./21.3.1897, in: John C.G. Röhl (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard am Rhein 1976-1983, hier Bd. 3: Krisen, Krieg und Katastrophen 1895-1921, Nr. 1309.
2 Siehe Michael A. Obst, Einer nur ist Herr im Reiche. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner, Paderborn 2010.
3 Johannes Penzler / Bogdan Krieger (Hrsg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II., 4 Bde., Leipzig 1897-1913.
4 Obst, Wilhelm II. als politischer Redner, S. 11-12.