B. Heidenreich u.a. (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich

Titel
Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914.


Herausgeber
Heidenreich, Bernd; Neitzel, Sönke
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Blaschke, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Universität Heidelberg

Bedingungslose Kompromisslosigkeit kennzeichnete die Kontroversen über das Kaiserreich seit den 1960er-Jahren. Damit sei es vorbei, behauptete Matthew Jefferies 2007 in seiner Synthese.1 Dass jedoch klassische Kontroversen über das Kaiserreich überlebt haben und neu auszuhandelnde hinzugekommen sind, davon zeugen einige jüngere Sammelbände.2

Der Anspruch des von Bernd Heidenreich (Wiesbaden) und Sönke Neitzel (Glasgow) herausgegebenen Bandes ist bewusst tief gehängt. Er möchte kein neues Bild des Wilhelminischen Kaiserreichs entwerfen, sondern „für ein breites Publikum“ skizzieren, wo sich neuere Forschungstendenzen verdichten, ohne sie einem einheitlichen Blick zu unterwerfen (S. 12). Gleichwohl können sowohl breitere Leserschichten wie auch Fachhistoriker von dem aus einer Tagung der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung 2008 hervorgegangenen Sammelband profitieren. Die einzelnen Beiträge fußen auf genuinen Forschungen der jeweiligen Autoren und erlauben in der vorliegenden Zusammenstellung durchaus interessante komparative Einsichten.

Den Auftakt bilden Dieter Langewiesches (Tübingen) erhellende Überlegungen über den historischen Ort des Kaiserreichs. Wer sich jahrelang mit dem Kaiserreich befasst hat, mag sich wundern, warum ihm zuvor eine derartig prägnante und souveräne Kontextualisierung nicht aufgefallen ist: Das Kaiserreich wurde je nach Perspektive als Teil großer Entwicklungslinien angesehen, entweder als Erfüllung nationaler Sehnsüchte oder als Beginn des deutschen Sonderweges. Gegen beide Konstruktionen argumentiert Langewiesche: 1871 sei mit der Geschichte gebrochen, das Reich zerstört worden, weil der alte föderative Bund von Staaten, dessen Mehrzahl 1866 auf Seiten Österreichs stand, erstmals durch einen unitarischen Zentralstaat abgelöst wurde (S. 27). Auch die Sonderwegserzählung ist dank internationaler Vergleiche längst korrigiert worden. Mit Yosef Hayim Yerushalmi teilt Langewiesche die Auffassung, dass die staatlich durchgeführte Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus eine Zäsur war und nicht die Konsequenz antisemitischer Kontinuitätslinien. Transnationale und globale Perspektiven bereichern die Kaiserreichsforschung, brauchen sie aber nicht auf den Kopf zu stellen.

Von der ersten Globalisierung konnte die weltweit verflochtene deutsche Wirtschaftselite, dessen war sie sich bewusst, nur profitieren, wenn sie einen Krieg vermied, wie Werner Plumpe (Frankfurt am Main) zeigt. Der Weltkrieg war keine Flucht aus einer Krise. Das expansionistische, von Fritz Fischer 1961 zugänglich gemachte Septemberprogramm von 1914, in das auch Forderungen von Unternehmern nach einem Mitteleuropa unter deutscher Hegemonie einflossen, wird von Plumpe nicht diskutiert. Jedenfalls trug das deutsche „Wirtschaftswunder“ (S. 41) maßgeblich zum Selbstbewusstsein der Nation bei.

Den Auseinandersetzungen über Hans-Ulrich Wehlers Kaiserreichbuch von 19733 geht Roger Chickering (Georgetown) mit seinen historiographiegeschichtlichen Überlegungen nach. Die damaligen Vorannahmen über die Modernität bzw. Rückständigkeit des Kaiserreichs sind heute arg verdünnt, neigt man doch eher zu Kompromissen und malt das Kaiserreich mit Thomas Nipperdey nicht mehr schwarz-weiß, sondern grauschattiert. „War das Kaiserreich durch Dynamik oder Stillstand charakterisiert? Die Antwort lautet: Ja.“ (S. 73)

Erfrischend ungleich ist das folgende kunstgeschichtliche Tandem. Ernst Piper (Potsdam) stellt sich der undankbaren Aufgabe, das „kulturelle Leben im Kaiserreich“ auszuleuchten, beschränkt sich dabei jedoch auf die Hochkultur und dabei wiederum auf die wichtigsten Hervorbringungen in Literatur (Hauptmann, George), Musik (Wagner, Schönberg) und Kunst. Als Anton von Werner ab den 1880er-Jahren das Kaiserreich malerisch glorifizierte, war er schon fast nicht mehr zeitgemäß, weil etwa in Max Liebermann sozialkritische Richtungen, die Münchner und später die Berliner Secession reüssierten. Während Pipers Wilhelm II. mit seinem Verbündeten Anton von Werner, der „das gesamte preußische Kunstleben“ dirigierte (S. 79), die nationale Kunst förderte und als Gegner der nicht erhebenden, modernen Kunst auftritt, weil sie „in den Rinnstein herab“ steige, wie er 1901 kundtat, setzt Sabine Meister auf die Gegenthese: Wilhelm II. werde immer wieder unterstellt, er habe sich ungebührlich in die Kunst eingemischt. Aber seinem berühmten Rinnsteinzitat wird durch die akribische Interpretation des Wortlautes und gesamten Kontextes die Wucht genommen. Die Kantstraße in Charlottenburg, wo die Berliner Secession saß, hatte damals noch keinen Bürgersteig (S. 98–101). Nicht Wilhelm II. oder von Werner, sondern der in der Kunstgeschichte noch immer unterschätzte Markt wurde zur Regulierungsinstanz zwischen nationalistischer Kunst und Avantgarde (S. 103).

Zwar fehlt ein Artikel über Männer und die vermeintliche Krise der Männlichkeit um 1900, aber immerhin wurden die Frauen nicht vergessen. Einen Überblick über ihre Rolle in der Arbeitswelt und über die Frauenbewegungen bietet der 2010 verstorbene Michael Salewski (Kiel). Dass die erste Frauenbewegung „kläglich scheiterte“ (S. 123), ist eine These, die nicht von allen geteilt wird. Die Juden betreffenden Exklusionsmuster und die Geschichte des Antisemitismus fasst Thomas Brechenmacher (Potsdam) zusammen, aber auch die Akkulturationsneigungen, die sich etwa in der Vornamensgebung widerspiegeln.

Horst Gründer (Münster) tritt in seinem Aufsatz über Kolonialismus zwischen deutschem Sonderweg und europäischer Globalisierung der These entgegen, aus der deutschen Kolonialpolitik und dem Massenmord an den Herero 1904 lasse sich eine Kontinuität zur NS-Vernichtungspolitik ableiten. Auch dem nach innen und außen gerichteten Militarismus wird durch Stig Förster (Bern) die Spitze gebrochen, wenn man ihn mit der in Deutschland blühenden Kritik am militaristischen Gebaren und vor allem dem Militarismus andere Länder vergleicht. Das Militär dominierte die Geschicke des Kaiserreichs nicht.

Das Thema des politischen und gesellschaftlichen Militarismus bildet die Überleitung zwischen den Aufsätzen des ersten Teils, der mit Wirtschaft, Innenpolitik und Gesellschaft betitelt war, und dem nun folgenden zweiten Teil über außenpolitische Perspektiven.

Das erste Tandem widmet sich der deutschen Vorgeschichte des Weltkrieges. Konrad Canis (Berlin) zeigt, wie sehr ein Krieg schon vor dem Juniattentat auf Franz Ferdinand ins Kalkül gezogen wurde, mehr in Wien als in Berlin. Die Forcierung des Schlachtflottenbaus sei die „deutsche Antwort“ auf die Ausgrenzungsabsicht Englands und Russlands gewesen (S. 181). In international vergleichender Perspektive lässt sich der Kriegsausbruch nicht auf deutsche Risikopolitik, sondern nur auf ein komplexes Ursachenbündel zurückführen, wie Jürgen Angelow (Berlin) betont, denn was den Verantwortlichen an konsistenten Problemlösungsstrategien fehlte, besaßen sie überreich an Fehlurteilen, Verunsicherung und Gewaltbereitschaft, und dies transnational gesteigert. Mit dem „Paradigma“ der „menschlichen Unzulänglichkeiten“ kommt Angelow letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis wie jetzt der britische Historiker Christopher Clark: Die Protagonisten von 1914 waren „Schlafwandler“ mit offenen, aber nicht sehenden Augen, der Ausbruch des Krieges das „komplexeste Ereignis der Moderne“ und mit dem „blame game“ nicht zu erklären.4

Die abschließenden sechs Beiträge zeigen, wie bereichernd Sammelbände sein können, wenn die Befunde originärer Forschungen aus verschiedenen Ländern, die der Einzelne kaum leisten kann, zusammenfließen. Es geht um die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland. Zu Großbritannien liegen gleich zwei kontrastierende Aufsätze vor. Während Magnus Brechtken (damals Nottingham, jetzt München) den deutschen Flottenbau, den die neue Kohorte britischer Liberalimperialisten als reale Gefahr vor der Haustür wahrnahm, als ursächlich für die Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen ansieht, führt Andreas Rose (Bonn) diese auf den innerbritischen Ressourcenkampf zwischen Heer und Marine zurück. Das Kabinett betrachtete die deutsche Flottenrüstung eher entspannt, bis nach dem Wahlsieg 1906 die liberalimperialistischen Edwardians das Foreign Office übernahmen und die vermeintliche deutsche Bedrohung mit teils erfundenen Tonnagetabellen inszenierten und gegen Abrüstungsbefürworter instrumentalisierten.

Relativ spät erst verengte sich auch in Frankreich das bis dahin ambivalente, nun negative Deutschlandbild, wie Gerd Krumeich (Düsseldorf) zeigt, besonders seit der Agadir-Krise 1911 und der Zabernaffäre von 1913. Zwiespältig war auch die Wahrnehmung cisleithanischer Eliten in Österreich-Ungarn, denen Günter Kronenbitter (Augsburg) nachspürt. Das Ausscheiden von 1866 schien rasch verwunden. Größere Probleme bestanden in der Wahrnehmung des deutschen Militarismus und dem Neid auf die deutsche Wirtschaftsmacht bei wachsender außenpolitischer Abhängigkeit vom großen Nachbarn.

In Russland, so die These Jan Kusbers (Mainz), verschärfte sich der Diskurs über die deutsche Gefahr erst ab 1905. Als die Vorzensur abgeschafft wurde, zeichnete die Presse ein Bedrohungsszenario, gegen das moderate Politiker, dynastische Verwandtschaftsbeziehungen und am deutschen Vorbild orientierte Verfassungsstrukturen machtlos blieben. Dagegen findet Sven Saaler (Tokyo) ein sympathisches Deutschlandbild bei den Eliten Japans. Der preußische Einfluss auf Armee, Justiz, Medizinwesen sowie auf die Verfassung übte nachhaltige Wirkungen auf das „Preußen Ostasiens“ aus, die vom Weltkrieg kaum berührt wurden.

Wohlmeinenden pädagogischen Binsenweisheiten – dem Fremden begegnen baue Vorurteile ab – und gut gemeinten politischen Idealen – wirtschaftliche Verflechtung schütze vor Krieg – stehen die historischen Befunde des Sammelbandes entgegen: „Die enge Vernetzung des Reiches mit seinen Nachbarn vermochte die starke Komplexitätsreduzierung der gegenseitigen Wahrnehmungen meist“, wie Neitzel resümiert, „nicht aufzuhalten. Im Gegenteil, die Reduzierung des ‚Anderen‘ auf wenige Schlagworte“ avancierte vor 1914 zu einem transnationalen Phänomen, auch bei Diplomaten und Gebildeten (S. 21).

Die einzelnen Aufsätze, die Zusammenhänge leserfreundlich verständlich machen, lassen sich hervorragend als Diskussionsgrundlage in Seminaren verwenden, zumal wo sie sich stark widersprechen (Piper versus Meister, Brechtken versus Rose). Für eine tiefergehende Beschäftigung mit den Kontroversen über das Kaiserreich können sie jedoch den von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp herausgegebenen Sammelband nicht ersetzen.

Anmerkungen:
1 Matthew Jefferies, Contesting the German Empire 1871–1918. Contesting the Past, Oxford 2007.
2 Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Probleme und Perspektiven, Göttingen 2008.
3 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918, Göttingen 1973.
4 Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 560f.