W. Gasser (Hrsg.): Erlebte Revolution 1848/49

Cover
Titel
Erlebte Revolution 1848/49. Das Wiener Tagebuch des jüdischen Journalisten Benjamin Kewall


Herausgeber
Gasser, Wolfgang
Reihe
Quellenedition des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 3
Erschienen
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter J. Hecht, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

„Auch ist der alte Judenhaß noch nicht todt. Wie sollte er es auch! Hat man doch bisher in Schule, Kirche und Haus ihm immer neue Lebenskraft eingehaucht; hat doch das Volk nur immer gegen die Juden lehren, predigen und reden gehört. Ganz besonders aber – mirabile et horrible dictu! – in den letzten Tagen, in den Tagen, wo Alles frei, wo Alles gleich und brüderlich ward, da ward der Judenhaß noch fruchtbarer als der Fisch, wenn auch leider nicht so stumm wie dieser. Er bringt euch hundert und hundert Gründe gegen die Juden und ihre Emancipation vor. Und wenn ihr dagegen hundert und hundert Mal beweiset, dass diese Gründe nur sumpfige Gründe voll Irrwische sind, – wie denn das auch von jüdischer und christlicher Seite bereits geschehen ist, – hilft Alles nichts; dieser ekelhafte Bandwurm bekömmt für ein ihm abgerissenes Glied zehn andere.“1

In seiner Schrift „Immer und überall die Juden“ aus dem Jahr 1848 profilierte sich der Wiener Hauslehrer und Journalist Benjamin Kewall (1806-1880) als vehementer Verfechter der Judenemanzipation. Kewall forderte die Juden auf, sich zu wehren und ihre Rechte einzufordern. Gleichzeitig versuchte er, die religiösen und behördlichen Vorurteile mit Argumenten, unter anderem aus der Thora und dem Talmud, zu widerlegen. Mit diesem prononcierten, politischen Auftreten gab Kewall seine sonst so betonte Zurückhaltung bezüglich politischer Veränderungen auf (S. 80). Sein Buch erhielt am 19. Oktober 1848 eine wohlwollende Besprechung im Österreichischen Central-Organ für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden von Isidor Busch (1822-1898).2 In den Wirren der Rückeroberung von Wien durch die kaiserlichen Truppen Ende Oktober 1848, scheint das Buch und seine Besprechung aber rasch in Vergessenheit geraten zu sein. Auch in Kewalls „Revolutionstagebuch“ wird es nicht erwähnt.

Irritationen und Brüche solcher Art kennzeichneten die Biografie von Benjamin Kewall und die dramatische Überlieferungsgeschichte seines Tagebuchs. In den 1950er-Jahren entnahm ein Mitarbeiter einer Altpapierfirma im oberösterreichischen Schwertberg einem Karton mit alten Büchern und Briefen ein Buch in einer für ihn unlesbaren Handschrift, das er in den folgenden Jahren Freunden und Bekannten zeigte, ohne dass jemand die Bedeutung des Fundes erkannte. Nach dem Tod des Mannes entsorgten seine Nachkommen das Buch in einem Altpapiercontainer in Bad Zell, wo es von einem aufmerksamen Angestellten ein zweites Mal aus dem Müll gezogen wurde. Über eine ehemalige Lehrerin dieses Angestellten gelangte das Buch daraufhin ins niederösterreichische Stift Melk, wo einer der Benediktinerpatres die 368 Seiten des in hebräischer Kursive auf Deutsch geschriebenen Tagebuchs entziffern konnte (S. 9ff). In weiterer Folge gelangte das Tagebuch über das Institut für jüdische Geschichte Österreichs (St. Pölten) zur wissenschaftlichen Bearbeitung an den österreichischen Historiker und Judaisten Wolfgang Gasser.

Im vorliegenden Buch gelingt es Gasser überzeugend, das Rätsel um die Identität des Tagebuchschreibers zu lösen, seine Biografie zu rekonstruieren und das Tagebuch mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Handapparat zu edieren. Der Autor des Tagebuchs, Benjamin Kewall, stammte aus Polna, einer kleinen böhmischen Stadt, die durch die Ritualmordbeschuldigung gegen Leopold Hilsner im Jahr 1899 traurige Bekanntheit erlangte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Polna mit rund 500 Personen eine ansehnliche jüdische Gemeinde. Die Eltern von Kewall waren zwar so genannte Bündelträger, das heißt sie gingen von Haus zu Haus, um ihre Waren zu verkaufen; dennoch besaßen sie das Haus Nr. 25 in der Polnaer Judenstadt, was zumindest auf bescheidenen materiellen Wohlstand schließen lässt. Die Eltern ließen dem anscheinend begabten Benjamin neben der jüdisch-deutschen Schule mit Säkularfächern auch eine umfangreiche religiöse Ausbildung angedeihen. Wolfgang Gasser nimmt an, dass Kewall die Jeschiwa in Nikolsburg/Mikulov (Tschechische Republik) besucht und später eine Lehramtsprüfung an einer staatlichen Hauptmusterschule abgelegt hat (59ff). Sein Elternhaus dürfte er damit um 1820/24 verlassen haben. Sein Aufenthalt in Wien ist jedoch erst ab 1847 dokumentiert. Eine Leerstelle, die der Analyse über Kewalls Wirken in Wien und seinem Tagebuch zwar keinen Abbruch tut, doch hätte die Heranziehung von Beständen wie zum Beispiel jenen der Hauptmusterschule St. Anna im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften weitere Klärung über Ausbildung und Leben von jüdischen Lehrern im Vormärz bringen können.

1847 arbeitete Kewall in Wien als Hauslehrer beim Pferdehändler Markus Mayer Strass, wo er dessen neun Kinder unterrichtete. Zu dieser Zeit publizierte er schon seit einigen Jahren auf Hebräisch und auf Deutsch: Zu nennen sind hier seine Fabeln und Gedichte in Hebräisch, die unter dem Titel „Orientalische Blüten“ (1843) bei Franz Edler von Schmid publiziert wurden und seine Artikel in der hebräischen Zeitschrift „Kochbe Jitzchak“ (Sterne Isaaks). Ende 1848 gab Kewall seinen Beruf als Hauslehrer auf und widmete sich gänzlich dem Journalismus. Er schrieb für mehrere namhafte Zeitungen und Journale, wie etwa die Allgemeine Österreichische Zeitung, Der Wanderer, Lloyd und die Constitutionelle Zeitung. 1853 publizierte er ebenfalls in Wien sein Buch „Josua. Moses Jünger und Nachfolger“ (S. 103ff). Spätestens ab 1857 lebte Kewall jedoch wieder in Polna und bis zu seinem Tod in ärmlichen Verhältnissen. Umfangreiche genealogische Forschungen von Gasser erlauben zudem Aufschlüsse über das Schicksal verschiedener Familienmitglieder und liefern dadurch einen Einblick in das familiäre Umfeld. Von Kewall selbst sind bis zu seinem Tod im Jahr 1880 keine weiteren Publikationen erhalten. Diese Rückkehr nach Polna stellt somit einen zweiten biografischen Bruch dar, dessen Umstände bisher nicht dokumentiert werden konnten. Möglicherweise wurde Kewall aufgrund seiner Verwicklung in die Revolution letztendlich aus Wien ausgewiesen. Auch seinem Freund Ludwig August Frankl (1810-1894), der als Sekretär der israelitischen Kultusgemeinde, anerkannter Schriftsteller und Zeitungsherausgeber sehr gut vernetzt war, drohte bis 1854 die Ausweisung, die er nur durch Interventionen von höchster Stelle abwenden konnte.3

Sein Tagebuch schrieb Benjamin Kewall wahrscheinlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Erhalten geblieben ist lediglich der Band mit den Einträgen vom 27. August 1848 bis zum 31. Mai 1850. Die Anfänge der Revolution sind somit nicht dokumentiert, aber es umfasst das Leben in Wien während der letzten Revolutionsmonate, die Eroberung Wiens durch die kaiserlichen Truppen im Oktober 1848, die Auflösung des Reichsrates und die Restauration.4 In fast täglichen Einträgen beschrieb Kewall seine Lebensumstände, seine Arbeit und seine Freizeitaktivitäten sowie die Kämpfe und die politischen Entwicklungen. Er hielt auch seine Enttäuschung über die Pogrome in Prag, Pressburg und an anderen Orten fest, die nach der Aufbruchsstimmung der Revolution und der weitgehenden Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung für ihn ein großer Rückschlag waren (S. 169f). Entstanden ist so ein rares Zeitdokument, in dem der Verfasser sich als Autodidakt darstellte, der mit seinem religiösen und säkularen Wissen in der Nachfolge der „Maskilim“ (jüdischen Aufklärer) stand.5 Das Tagebuch ist eine einzigartige Quelle, die einen ganz persönlichen Einblick in jüdisches Leben während der Revolution und den Alltag in den zwei Folgejahren erlaubt. Bei Kewalls Analyse und Einschätzung der politischen Lage muss berücksichtigt werden, dass Kewall mit 42 Jahren unter seinen Journalisten- und Revolutionärskollegen eher zu den älteren Männern zählte. Viele seiner Kollegen mit einem ähnlichen Bildungshintergrund waren um 10 oder 15 Jahre jünger und hatten damit auch andere Lebensperspektiven; dies gilt zum Beispiel für Isidor Busch (1822-1898), Adolf Dux (1822-1881), Moritz Hartmann (1821-1872), Siegfried Kapper (1821-1879), Leopold Kompert (1822-1886) und Simon Szánto (1819-1882).

Der Inhalt des Tagebuchs bietet Anhaltspunkte für verschiedene Analysen und Vergleichsstudien, die zum Großteil von Gasser genutzt wurden, darunter auch Exkurse über Körperlichkeit und Sexualität (S. 116ff). Die Vielfältigkeit der Eintragungen setzt der Analyse schließlich natürliche Grenzen, was auch die Kürze manch interessanter Themenbereiche erklärt, wie etwas Kewalls Ausführungen zum tschechischen Nationalismus (S. 71-73). Kewall machte deutlich, dass er den tschechischen Nationalismus aus politischen Gründen ablehnte. Sein Verhältnis zur tschechischen Sprache lässt Gasser dabei jedoch außer Acht. Als Autodidakt beherrschte Kewall neben Hebräisch und Deutsch Italienisch, Französisch, Englisch und Latein (S. 76). Umso bemerkenswerter erscheint, dass er rückblickend für das Jahr 1848 am 31. Dezember festhielt: „Die böhmische Sprache, von welcher ich früher nur unvollkommene Begriffe hatte, habe ich mir in diesem Jahr angeeignet, um meine Brauchbarkeit bei [der] Redaction zu erhöhen.“ (S. 546)

Die Beherrschung und Anwendung von Sprachen führt schließlich zur Frage des Zielpublikums des Tagebuchs. Hat Kewall das Tagebuch tatsächlich nur für sich selbst oder bereits im Hinblick auf eine später geplante Publikation geschrieben? Viele seiner Kollegen publizierten ihre Erlebnisse während der Revolution bereits 1848, teilweise noch während der Revolution bzw. in den folgenden Jahren, so zum Beispiel Berthold Auerbach und Adolf Bucheim. Die Verfasser waren sich dabei der historischen Bedeutung der Revolution durchaus bewusst. Da die Vorlagen bzw. die Tagebücher, die den Büchern zugrunde lagen, häufig nicht mehr vorhanden sind, lassen sich keine eindeutigen Aussagen über die ursprüngliche Absicht machen. Im Fall von Kewall verweisen die hebräischen Schriftzeichen zunächst auf einen privaten Kontext. Bei der Beschreibung der Ereignisse, etwa auch von religiösen Festen, und der Charakterisierung seiner Kollegen und Bekannten imaginierte Kewall aber eine Leserschaft, wobei er im zeitgenössischem Kontext abwechselnd verschiedene Positionen einnahm; als neutraler Beobachter von außen, als distanzierter und unmittelbar Betroffener von innen und als nach politischen Lösungen Suchender (S. 134ff); eine Publikationsabsicht scheint somit durchaus denkbar.

Ausgehend vom Text des Tagebuchs gelingt es Wolfgang Gasser mit seinem Buch, das Leben von Benjamin Kewall und seine Lebenswelt vor, während und nach der Revolution von 1848 zu rekonstruieren. Das vorliegende Buch ist ein eindrucksvoller Beweis einer umsichtigen Arbeit, die mit Fotos und Plänen, einem ausführlichen biografischen Personenregister und einem umfangreichen Handapparat für die Transkription des Tagebuchs, eine wissenschaftliche Bereicherung darstellt: Ein gelungener Beitrag zur Aufarbeitung des meist vernachlässigten 19. Jahrhunderts in der Wiener jüdischen Geschichtsschreibung.

Anmerkungen:
1 Benjamin Kewall, Immer und überall die Juden! Ein Wort am Ort und an der Zeit, Wien, September 1848, S. 9.
2 Österreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden, Nr. 47, 19.10.1848, S. 410.
3 Zu Ludwig August Frankl vgl. Dieter Hecht / Louise Hecht (Hrsg.), Ludwig August Frankl (1810-1894). Ein Jüdischer Kosmopolit in Mitteleuropa, Wien 2012 [in Vorbereitung].
4 Aufgrund der umfangreichen zeitgenössischen Literatur zur Revolution von 1848 soll hier nur auf ein Werk hingewiesen werden, das die jüdische Beteiligung an der Revolution und die verschiedenen Positionen der Proponenten wegweisend thematisierte: Salo Baron, The Revolution of 1848 and Jewish Scholarship, II, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research, Vol. XX (1951), S. 1-100.
5 Vgl. Louise Hecht, Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen. Der Pädagoge und Reformer Peter Beer (1758-1838), Köln 2008. Shmuel Feiner, The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2002.

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